FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 204/I/II
Peter Jirak

Revolutionäre Intellektuelle
Verräterische Intellektuelle

Zum Goethepreis für Lukács

I. Intellektuelle als Verräter

Angesichts der schamlos offenen Taktik, mit der die Monopolbourgeoisie versucht, die ihr Herrschaftssystem bekämpfenden Kräfte sich einzuverleiben und für ihre eigenen Zwecke nutzbar zu machen, erscheint die Verleihung des Goethepreises an Georg Lukács als kulturpolitischer Akt, der sich sogleich wirtschafts- und damit machtpolitisch auszahlen solle. Als bloßen Zufall werte man: der höchste Funktionär, der zur Verleihung des Goethepreises in die Paulskirche geeilt war, war der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Eppler. Der Kultusminister war nicht erschienen. Die Hörer der Laudatio waren größtenteils Kadaver einer zugrunde gehenden Gesellschaft. In seiner Festrede — beim intimen Festessen — sprach der Oberbürgermeister von Frankfurt, Möller, von seiner Hoffnung auf folgende, gute wirtschaftliche Beziehungen mit Ungarn. Lukács’ Antwort — als wenngleich nur leiser Protest gegen die ausgreifende Systemintegration — wurde überhört und unterdrückt. Aber eine Gesellschaft, die den Boten, der ihr den herannahenden Untergang ankündet, zugleich schlägt und krönt, ist so verkommen, daß ihre Eskapaden — zwar immer noch gefährlich — den Schlag erleichtern, der sie auf die Schädelstätte der Zeitgeschichte befördert.

Lukács jetzt, wo es scheint, daß die herrschende Klasse den einst entlaufenen Sohn wieder heimholte, bloß als „kritischen Kritiker“ zu bezeichnen, wie dies Fetscher in seiner Laudatio tut (vgl. den Abdruck in diesem Heft), heißt die wichtigere Frage nach der Funktion und nach der möglichen Tat des revolutionären Intellektuellen übergehen. Wer sich mit Lukács als mit einem bloß „kritischen Kritiker“ begnügt, gehört zu jenen Apologeten der Bourgeoisie, die — wie Iring Fetscher — behaupten, die neue Klasse werde die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft verwirklichen, zu jenen, die glaubten, auch die Lehre von Karl Marx von der Gründung aller politischen Macht auf materielle Produktion taugte für den Zweck der Verewigung bürgerlicher Machtausübung.

Aber die bürgerliche Klasse ist ebensowenig ewig, wie die vor ihr herrschenden Klassen es waren.

Lenin erkannte den Augenblick der revolutionären Machtergreifung sehr klar: wenn die herrschende Klasse, die ihren eigenen Untergang mitproduziere, erkannt habe, daß sie zur Herrschaft nicht mehr fähig ist, wenn die Unterdrückten die Unfähigkeit der Herrschenden als unerträgliche Not verspürten, dann ist es Zeit, die Revolution zu beginnen.

Hier wird auch die Funktion der revolutionären Intellektuellen klar. Sie haben längst erkannt, daß die Klasse, der sie dienten, von der sie sich aber lösten, ihrem Untergang nahe ist, und sie wissen, daß die „stumme Art“, die Unterdrückten und Ausgebeuteten, das Chaos der Herrschaftskrise nur verspüren. Also kommt ihnen zunächst als Erkennenden und Wissenden — da Erkennen und Wissen Formen des Bewußtseins sind — die Rolle der „Vermittlung“ zu.

Der „stummen Art“ der Mehrheit setzt die bürgerliche Gesellschaft das Privileg des Wortes gegenüber. Die bürgerliche Klasse als Verwalterin dieses Privilegs weist dem Intellektuellen somit eine spezifische Rolle zu. Die Erkenntnis und das Bewußtsein sowohl dieses phänomenalen Grundwiderspruchs als auch der ihm zugeteilten gesellschaftlichen Rolle — sogar innerhalb eines bürgerlichen Bewußtseins von der gesellschaftlichen Funktion der Sprache als Herrschaftsinstrument — entsprechen noch nicht einem revolutionären Bewußtsein, bilden aber die eine Seite der Voraussetzung dafür. Die Voraussetzung des revolutionären Bewußtseins liegt in der bewußt vollzogenen Negation der eigenen Klasseninteressen. Somit gründet revolutionäres Bewußtsein des revolutionären Intellektuellen in der bürgerlichen Gesellschaft auf vermittelten und vermittelbaren Klassenverrat. Die Aufgabe des revolutionären Intellektuellen ist es also nicht, das Herr-Knecht-Verhältnis erkennend zu reproduzieren, sondern den Massen beizustehen, die materielle Produktion des neuen Worts zu erreichen. Die materielle Produktion des neuen Worts ist die Auflösung des Widerspruchs von materieller und kultureller Produktion. Das neue Wort ist die unmittelbare Waffe im Klassenkampf, die entfesselte und auf Veränderung der alten Klassenverhältnisse gestellte und konzentrierte Produktivkraft.

1.

keine tätige Vermittlung, denn jede positive Tat wäre der Versuch zur Versöhnung der Klassengegensätze, der Versuch der Unterdrückung und Beseitigung der Widersprüche und Klassenkonflikte: also verräterisch und konterrevolutionär. Im übrigen würden versöhnlerische Intellektuelle ihr Selbstbewußtsein verlieren, handelten sie wider ihre Einsicht vom Wesen der Klassenkämpfe als einzigem Wesen, das die Entwicklung und Vollendung der Menschengattung in der Geschichte verwirklicht.

2.

als „Vermittlung“ negative Tat, wenn die revolutionären Intellektuellen als destruktives Element auftreten. Sie hören auf, Handlanger der Bourgeoisie zu sein, und desorganisieren die Einheitsfront der Konterrevolution.

Einheitsfront der Konterrevolution: Wenn die herrschende Klasse ihre Krise erkennt, versucht sie durch Reformen, Kriege und weltweite Aggression die konterrevolutionäre Einheitsfront zu organisieren, um entweder den Angriff der Revolution zurückzuschlagen oder ihm zerstörend vorzugreifen. Sie kann ihren Untergang verzögern und das Leid und die Not der Unterdrückten verstärken; sie kann aber auch — was viel schlimmer ist — die angreifende Klasse in ihren Untergang hineinziehen oder zur Stützung ihres eigenen Systems integrieren. Dann wäre sie ihrem Untergang entronnen, und die angreifende Klasse hätte ihre verändernde und revolutionäre Kraft verloren. Damit verliert sie auch die Möglichkeit, sich selbst als Teil des menschlichen Gattungswesens zu verwirklichen. Sie versinkt in der „Naturgeschichte“ (vgl. u. Abschnitt II, 2. Absatz).

Desorganisation der Einheitsfront der Konterrevolution:

Der Burgfriede der ausbeutenden Klassen zerfällt in dem Moment, wo die unmiittelbare Gefahr aufhört, und ein erbitterter Klassenkampf tritt an seine Stelle. Dementsprechend ist die Bourgeoisie selbst in Fällen, wo es ihr machtpolitisch möglich wäre, die alte ‚Rechtsordnung‘ wiederherzustellen, unfähig, den Weg zu den heißersehnten ‚geordneten Zuständen‘ zurückzufinden. Ein entscheidender Grund hierfür ist, daß die zunehmende Verschärfung der Wirtschaftskrise, der Kampf von Revolution und Gegenrevolution, das selbständige Klassenbewußtsein jener Schichten erweckt haben, die im Vorkriegsstadium sich gedankenlos von der Bourgeoisie führen ließen (Bauern, städtische Kleinbürger, Intellektuelle, deren Bedeutung im Entscheidungskampf darauf beruht, daß die bewaffnete Macht der Konterrevolution sich zum großen Teil aus ihren Reihen — Studenten, aktive Offiziere — rekrutiert). Diese Schichten, die zu irgendeiner Organisation der ganzen Gesellschaft völlig unfähig sind, weigern sich jedoch immer mehr, als ideologische Schlepper, als mittellose Handlanger der Bourgeoisie zu kämpfen. Sie werden selbständig und desorganisieren damit die einheitliche Kampffront der Konterrevolution.

(Georg Lukács, Weltreaktion und Weltrevolution, Flugschriften der Jugend-Internationale, Nr. 11, S. 5.)

3.

ausschließlich „Vermittlung“, solange die Revolution nicht durchgeführt, die Macht ergriffen und auf die Grundlage einer neuen Produktionsform gestellt ist.

4.

zusammengefaßt die Rolle der revolutionären Intellektuellen im Klassenkampf: Vermittlung zwischen Desintegration der Einheitsfront der Bourgeoisie und Stärkung der Einheitsfront der unterdrückten und lohnabhängigen Klassen.

Die Funktion der revolutionären Intellektuellen ändert sich, sie gehen zur Konterrevolution über, wenn sie nicht zugleich intendieren und verwirklichen, daß die Einheitsfront der Konterrevolution unaufhörlich durch Aufklärung zu zersetzen ist und andererseits das unmittelbar entstandene Wort auf der Seite der Unterdrückten mit deren fortschreitenden Bewußtwerdung zum konkreten Instrument der tätigen Veränderung zu gestalten. Wird nur das erste Moment verwirklicht, muß die Aufklärung in Romantik übergehen. — Von Klassenveränderung isoliert, leben Aufklärung und Romantik vom genügsamen Schein rein bewußtseinsmäßiger Veränderung; wird hingegen nur die Einheitsfront der Bourgeoisie attackiert, ohne die Einheitsfront der unterdrückten Klassen aufzubauen, so heißt das nicht, daß sich der revolutionäre Intellektuelle außerhalb der Einheitsfront der bürgerlichen Gesellschaft befindet. Man muß notgedrungen scheitern oder zu einem Instrument der Bourgeoisie werden. Eine Vermittlung, die ausschließlich auf die Einheitsfront der unterdrückten Klassen abzielt, muß notwendigerweise in die Widersprüche eines nicht revolutionären Klassenkampfes verwickelt bleiben und trägt den Revisionismus bereits in sich; der Revisionismus ist im Übergang von einer Machtform zur anderen als Moment einer nicht durchgeführten oder nicht durchführbaren Revolution in ihren notwendigen Implikationen auf Veränderung als deren retadierendes Moment bereits enthalten.

5.

niemals Planung der Revolution. Nur Anarchisten und Sektierer, die ihre eigene Funktion im Klassenkampf nicht kennen, weil sie — wie die Apologeten der Bourgeoisie — ungeschichtlich denken und deshalb nur der Konterrevolution nützen, glauben an die Planarbeit und an die Durchführbarkeit der Revolution unter allen Umständen.

Planbar sind Aufstände und Staatsstreiche, weil sie nicht vom entwickelten Klassenbewußtsein, sondern ausschließlich von der Krise der herrschenden Klasse abhängen. Jetzt wird auch die Rolle der revolutionären Intellektuellen klarer: sie sind die einzigen, die den Augenblick der Revolution erkennen, die Revolution einleiten und den spontanen Ausbruch revolutionärer Kraft in den proletarischen Massen auf die schwächsten Punkte des Feindes konzentrieren und die Organisation der revolutionären Massen beginnen können. Das Selbstbewußtsein der revolutionären Intellektuellen ist der Ausdruck des erwachenden Klassenbewußtseins der unterdrückten Klassen.

Damit wird aber auch die Funktion der revolutionären Intellektuellen nach der Revolution klar: wenn sie sich von den Aufklärern, die in abstrakt-moralisierender Weise an die Verbesserung der Welt, an die Einheit der Gegensätze und an den Fortschritt des Menschengeschlechts durch Bildung glauben — das alles müssen sie glauben, und sie sind nur deshalb Aufklärer, weil sie keinen konkreten Begriff vom Menschen und seiner Geschichte haben —, wenn die revolutionären Intellektuellen also von dieser niedrigen Stufe des Bewußtseins sich lösten, so mußten sie notgedrungen zur desintegrierenden Agentur, also nicht zu aufklärenden Verherrlichern der alten Ordnung, sondern zu Zerstörern dieser werden; wenn sie in der Zerstörung der alten Ordnung zugleich die neue revolutionäre Macht der Diktatur des Proletariats aufzubauen halfen, wurden sie zu tätigen Führern der Revolution; wenn sie aber glaubten, nach der vollzogenen Revolution sei die Revolution beendet, wenn sie die Macht der Diktatur des Proletariats, die notwendig einzig durch die Dauer und Unauflösbarkeit des Klassenkonflikts existiert, für sich selbst mißbrauchten, indem sie Intellektuellenorganisationen an die Stelle der leitenden Funktion der Diktatur des Proletariats setzten — diese nur vortäuschend und für fremde, also eigene Zwecke ausnützend —, dann verlieren sie jegliche Bedeutung für den Fortschritt der Revolution und damit für die Verwirklichung des Menschengeschlechts. Sie werden zu Feinden und Verrätern der Revolution, denn sie haben sich abgewandt vom Pfad der Erkenntnis, daß das Wesen der Geschichte gerade in der Dauer der Klassenkämpfe, in der Unaufhebbarkeit der Klassenkonflikte liegt; also daß das Wesen der Geschichte die notwendige Permanenz der Revolution ist; oder sie haben diesen Pfad nie erreicht.

Die Intellektuellenorganisationen sind mit ganz sporadischen Ausnahmen früher oder später in das Lager der Gegenrevolution übergegangen. Ihre oft recht revolutionären Führer aber blieben mit der Zeit entweder völlig isoliert oder wurden, wenn sie sich von ihren Fachgenossen nicht loslösen konnten, ebenfalls in die Reihen der Bourgeoisie zurückgedrängt.

(Georg Lukács, Kommunismus, Zeitschrift der Kommunistischen Internationale für die Länder Südeuropas, S. 15, Zur Organisationsfrage der Intellektuellen.)

Die Organisationen der Arbeiter hingegen sind Kampforganisationen des Proletariats: sie sind Vorformen der kommunistischen Organisation der Wirtschaft; also abhängig von der Produktion, den Besitzverhältnissen an den Produktionsmitteln und von der „Vermittlung“ zwischen der Arbeit als Produktivkraft und den Produktionsverhältnissen. Da die Organisationen der Arbeiter heute von der Bourgeoisie kontrolliert werden und in deren Herrschaftssystem integriert sind, ist es die Aufgabe der revolutionären Intellektuellen, gemeinsam mit den klassenbewußtesten Arbeitern — vor allem mit den Jungarbeitern und Lehrlingen — diese Organisationsformen der Unterdrückung, diese Instrumente des inneren Kolonialismus zu zerstören und die Lüge der Sozialdemokraten von der Sozialpartnerschaft zu entlarven. Diese Frage, deren Beantwortung und Durchführung in der Praxis liegt, hängt also ab: vom Herrschaftssystem, von der Funktion der Organisationen des Proletariats in diesem und vom Grad der Entwicklung des Klassenbewußtseins; nur sekundär aber hängt sie ab von der Funktion der revolutionären Intellektuellen.

II. Koexistenz als Verrat

Was im nationalen Bereich heute die Lüge von Sozialpartnerschaft ist, der „Burgfriede“ im Dienst der alten Rechtsordnung, der die revolutionären Kräfte täuscht und lähmt, ist auf weltpolitischer Ebene die Lüge von der friedlichen Koexistenz und deren ideologischer Ausdruck in der Konvergenztheorie. Der revolutionäre Intellektuelle kann im nationalen Bereich seine Rolle hervorragend spielen, aber auf weltpolitischer Ebene total versagen.

Da die allgemeine Funktion der revolutionären Intellektuellen sowohl von der Befreiung aus der eigenen Klasse als von der Befreiung aus den Schranken der Nation abhängt — Klasse und Nation sind Kategorien aus der „Naturgeschichte“ der Menschheit [1] —, ist ihre Funktion nicht einseitig aufhebbar, sondern nur durch beide Momente — der Negation der Klasse und der Nation — bestimmt.

Zur Frage der Koexistenz äußerte sich Lukács in einem Interview wie folgt:

Let me start by referring to a talk I gave at the Political Academy in 1956 where I said coexistence was the new form of the class-struggle, but that for it, as for all class-struggles, the Leninist principle of who whom keeps its validity. But we can now no longer ignore the essential fact which is at the back of all coexistence, namely the uninterrupted contact between cultures which cannot be stopped by either war or prohibition.

(Georg Lukács, The New Hungarian Quarterly, Nr. 32/Vol. IX, 1968, S. 166; vgl. a. G. L., Probleme der kulturellen Koexistenz, „Neues Forum“, April und Mai 1964.)

„Uninterrupted contact between cultures“ — „Einheit der Kultur“. Wie viele revolutionäre Intellektuelle scheitert letztlich auch Lukács am Begriff der Kultur. Rational vermag der Intellektuelle revolutionär zu sein; seine Sinne jedoch bestechen ihn, sie verlangen nach den Produkten, die seine Klasse produziert, von der er sich verstandesmäßig zwar trennte, der er aber im Unbewußten, mit seinem „sinnlichen Apparat“ [2] verbunden blieb.

An Lukács’ Kulturbegriff zeigt sich, daß er an einer entscheidenden Wende die Lehre des dialektischen Materialismus nicht erweitert oder kritisiert, sondern ignoriert. Wir sagen das nicht, um Lukács’ Verdienst als Theoretiker der Revolution zu schmälern, schon gar nicht, um hämisch festzustellen: der verlorene Sohn sei in den Schoß der bürgerlichen Gesellschaft zurückgekehrt, sondern mit der alleinigen Absicht, die Theorie der Revolution und damit auch diese selbst voranzutreiben.

Marx zerstört den bürgerlichen Kulturbegriff, wenn er in den „Grundrissen“ von der „unegalen Entwicklung materieller und kultureller Produktion“ spricht und erweist, daß die „unegale Entwicklung“ die konkrete Bedeutung des Grundwiderspruchs von Kapital und Lohnerwerb einnimmt. Marx läßt den Verdacht gar nicht erst aufkommen, es handle sich in der postulierten Einheit der Kultur um eine Kategorie des dialektischen Materialismus, sondern stellt klar, daß es sich ausschließlich um eine Kategorie bürgerlicher Philosophie handelt, vornehmlich der Hegelschen Geschichtsphilosophie entnommen, die im Schein der Kontinuität der kulturellen Tradition ihren Machtanspruch verbirgt und mit dem Ideal des „wahren Ganzen“ die unumstößliche Ordnung des bürgerlichen Rechtsstaates meint.

Eine zweite Inkonsequenz von Lukács besteht darin, daß er den Zusammenbruch der Kultur vor den Zusammenbruch der politisch-ökonomischen Ordnung setzt, darüber hinaus aber die Einheit der Kultur postuliert.

Denn, wenn wir die Kultur einer Zeit richtig erfassen, so haben wir in ihr die Wurzel der Gesamtentwicklung dieser Zeit erfaßt, und somit sind wir eben dorthin angelangt, als wenn wir von der Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse ausgegangen wären.

(Georg Lukács, Alte Kultur und neue Kultur, Kommunismus. 1/43, 1920.)

Lukács verwechselt offensichtlich Produktion mit Reproduktion. Der Marxsche Begriff der Produktion schließt aus, daß Kulturproduzenten von sich aus anders als reproduktiv wären. Produktiv sind einzig die arbeitenden Klassen, die das Wesen des Menschen, als das durch Arbeit bestimmte Wesen, verwirklichen.

Demgegenüber ist Ausgangspunkt der hier folgenden Gedankenreihe die Erwägung, daß die Kultur der kapitalistischen Epoche schon in sich zusammengebrochen war, bevor der Ökonomische und politische Zusammenbruch erfolgt wäre.

(Lukács, a.a.O.)

Lukäcs wird also undialektisch. Er setzt materielle und kulturelle Produktion gleich. Er fragt, welche soziologischen und ökonomischen Bedingungen Kultur garantieren (a.a.O.), und übersieht, daß die ökonomischen Bedingungen der herrschenden Klasse zugleich die Bedingungen ihrer Kultur sind; ebensosehr sind sie die Bedingungen der Ausbeutung und Unterdrückung der anderen Klassen, für deren Sprach- und Kulturlosigkeit.

Die „unegale Entwicklung materieller und kultureller Produktion“ ist nichts als die konkret dialektische Form des Grundwiderspruchs von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften, aber nur als ein Moment der Bewegung des Kapitals zu analysieren. Lukács’ Kulturbegriff basiert auf der Trennung von „Notwendigkeit“ und „Freiheit“, auf der Trennung von Zivilisation und Kultur, auf deren Ineinssetzung in die — bloß abstrakt postulierte — Einheit der Produktion. Diese unglückliche und falsche Trennung verschleiert die Unversöhnbarkeit der Gegensätze: sie verhindert eine klare Klassenanalyse, verbirgt die unabdingbar-gewaltsame Form des Klassenkampfes in die scheinbare Versöhnung der Gegensätze zur Koexistenz. Für uns kann die friedliche Koexistenz nur eine lang anhaltende Schwäche, ein Kräftesammeln des Proletariats bedeuten, um erneut den Kampf mit der Bourgeoisie der ganzen Welt aufzunehmen, niemals aber eine „neue Form des Klassenkampfes“.

Die Koexistenz der Gegensätze ist ein Moment der Vermittlung der Kräfteverhältnisse im Klassenkampf.

III. Kultur als Lüge

Die Monopolbourgeoisie lockt mit der Glücksverheißung ihrer ewigen Kulturwerte, die sie im übrigen selbst nicht mehr versteht: sie kennt nichts von dem, was Lukács, wenn er über Goethe redet, meint; sie begreift ihre eigene Vergangenheit nicht, was nur ein Zeichen der Senilität ist.

Die herrschende Klasse ist unfähig, sich selbst anders denn als herrschende zu begreifen. Die bürgerliche Klasse ist unfähig, eine andere Gesellschaftsform als die der bürgerlichen Gesellschaft von sich aus für die Zukunft zu postulieren. Die Zukunft der Bourgeoisie bewegt sich ausschließlich in Utopien. Das Bürgertum ist unfähig, sich die Zukunft anders denn nach einem biologischen Modell vorzustellen. Für sie ist die Bedrohung ihrer Herrschaft die von ihr gewendete Androhung der Vernichtung von Leben insgesamt. Der ewige Frieden unter diesen Bedingungen ist permanente Aggression.

Aber sie ist noch immer mächtig genug, um ihre Gegner mit der stereotypen Wendung von Glück und Kulturwert zu verwirren und deren Ablösung von ihrer eigenen Klasse zu vereiteln. „Glück“ ist nichts als der Schein von Harmonie, hinter dem sich Anpassung aller Glieder in vernunftloser und unmenschlicher Übereinstimmung mit der alten Rechtsordnung verbirgt.

Der bürgerliche Kulturbegriff aber ist — als Moment der materiellen Produktion gesehen — der ideelle Ausdruck dieser Ordnung und Harmonie, die aber errichtet wird auf den Leiden der Mehrheit unter dieser Ordnung. Somit kann der Begriff des Glücks nur Ausdruck des herrschenden Klassenbewußtseins sein; Streben nach Freiheit muß Trauer negieren. Wir Marxisten verachten diese bürgerlichen Tugenden; unser Ziel ist die Verwirklichung der Freiheit, die ausschließlich über den Weg des Klassenkampfes führt.

Der Klassenkampf verliert sich nicht an den disparaten Phänomenen aufgelöster Ordnung, sondern bringt aus der Negation dieser Ordnung, die ihre materielle Basis aus ihrem Zerfall selbst mitliefert, und aus der neu entstehenden Wirklichkeit der Bedürfnisse die neue Gegenständlichkeit und deren Neuordnung hervor.

Der Begriff der Kultur (im Gegensatz zur Zivilisation) umfaßt sämtliche wertvolle Produkte und Fähigkeiten, die in bezug auf den unmittelbaren Lebensunterhalt zu entbehren sind. Zum Beispiel die innere und äußere Schönheit eines Hauses gehört zum Begriff der Kultur, im Gegensatz zu seiner Festigkeit und Heizbarkeit usw. Wenn wir daher fragen: Was ist die gesellschaftliche Möglichkeit der Kultur?, so müssen wir antworten: Sie wird durch diejenige Gesellschaft geboten, in der die primären Lebensbedürfnisse so befriedigt werden können, daß man um ihrer Befriedigung willen nicht eine derart schwere Arbeit leisten muß, die die Lebenskräfte völlig in Anspruch nehmen würde. Wo also freie Energien zur Verfügung der Kultur stehen.

(Lukács, a.a.O.)

Lukács trennt, im Gegensatz zu Marx, Sinn und Funktion: die bloße Bedürftigkeit ist determiniert und determinierend; erst entlastete Bedürftigkeit verleihe Sinn. Marx’ Stoffwechseltheorie läßt eine solche Trennung nicht zu. „Die Menschen vollziehen ihren Stoffwechsel mit der Natur unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen.“ (Marx, Kapital).

Kultur wird innerhalb des Stoffwechsels zum Schein: zur Lüge der herrschenden Klasse, ihre Macht wäre ewig. Ihr Wille nach Unsterblichkeit ist nichts als die Penetranz der Klassenherrschaft. Im Begriff der Produktion ist — als vorantreibender Widerspruch — der Gegensatz von Kultur und Zivilisation aufgehoben im Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Der Mensch produziert universell; wahrhaft produziert er erst in der Freiheit von dem Zwang unmittelbar physischer Bedürftigkeit; unmittelbar physische Bedürfnisse sind aber gerade durch das System der Unfreiheit vermittelt; frei von unmittelbar-physischen Bedürfnissen zu produzieren — woran vor allem die Intellektuellen glauben und worin sie ihr Privileg erblicken — bedeutet: sich als Konsument frei zu dünken und theoretisch die „Konsumation“ als ein Moment kapitalistischer Produktionsweise anzuerkennen.

Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist.

(Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Marx/Engels Werke, Band I, Seite 386.)

Das heißt, daß die herrschende Klasse das an Ideologie produziert, was ausreicht, die alten Bedürfnisse zu affirmieren und begrifflos zu halten; das heißt aber auch, daß der revolutionäre Intellektuelle durch seine Theorie neue Bedürfnisse produzieren und diese den alten entgegensetzen muß, um die Nowtendigkeit des Klassenkampfes sichtbar zu machen.

Das Schicksal der Philosophie wird durch den Grad bestimmt, zu dem sie die Bedürfnisse der Klassen in der Gesellschaft befriedigt.

(Mao Tsetung)

Lenin hat darauf hingewiesen: der ideologische Kampf des revolutionären Marxismus gegen den Revisionismus am Ende des 19. Jahrhunderts war das Vorspiel zu großartigen revolutionären Schlachten des Proletariats. Der Kampf der revolutionären Marxisten/Leninisten gegen die modernen Revisionisten ist heute das Vorspiel zu neuen, noch gewaltigeren Kämpfen des Weltproletariats. Es läßt sich voraussagen, daß das kommende halbe oder ganze Jahrhundert das Zeitalter durchgreifender Umwälzungen der Gesellschaftsordnung auf der ganzen Erde sein wird, ein weltumstürzendes Zeitalter, wie es die Geschichte noch niemals erlebt hat. In diesem großen Zeitalter wird die revolutionäre Vorhut des Proletariats die revolutionären Völker, die mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, dazu führen, auf dem Weg der Revolution alle Schwierigkeiten zu überwinden und zum vollen Sieg der revolutionären Sache der Völker der Welt voranzuschreiten. Den modernen Revisionismus zu verurteilen, den Marxismus/Leninismus von neuem zu studieren und ihn zu propagieren, das ist gegenwärtig die allerwichtigste Aufgabe an der philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Front. [3]

Die revolutionären Intellektuellen in den kapitalistischen Ländern sind aber nicht in der glücklichen Lage, eine siegreiche Revolution geschlagen zu haben. Deshalb ist ihre vornehmliche Aufgabe — diese Ziele stets vor Augen, also den Kampf gegen den modernen Revisionismus —, die Institutionen, die die alte Ordnung verbürgen, zu zerstören, also vor allem die Institutionen der Bildungsindustrie, die sie nicht übernehmen können, sondern die sie zum Objekt des Klassenkampfes machen müssen, weil von diesen Institutionen des Bürgertums der Klassenkampf als Konterrevolution gegen das Proletariat vorbereitet und gesellschaftlich vermittelt wird.

Lukács konzedierte, daß die Kultur jeweils die der herrschenden Klasse ist: die Kunst als das Gedächtnis des Menschengeschlechts; wenn sich in der kapitalistischen Produktionsweise der Begriff der Produktion erst erfülle, dem nun auch die herrschende Klasse subsumiert ist, würde auch die Differenz von materieller und kultureller Produktion aufgehoben. Lukács kann den Widerspruch nicht lösen, daß in der historischen Einheit der Produktion die „Bezugsfalle“ liegt: die Kultur einerseits als systemerhaltende zu übernehmen — wenn durch den revolutionären Kampf der neuen Klasse die alte Ordnung stürzt —, während andererseits die „alles revolutionierende kapitalistische Produktionsweise“ die „unegale Entwicklung materieller und kultureller Produktion“ als „affirmative Kultur“ besorgt und fördert.

Für Lukács liegen „Form und Inhalt kultureller Äußerung“ im Widerspruch.

Wenn daher zwischen Ideologie und Wirtschaftsordnung ein wesentlicher Gegensatz ist, so muß dieser Gegensatz, in bezug auf unser Problem, so ausgedrückt werden, daß die Formen und die Inhalte der kulturellen Äußerungen miteinander in Widerspruch geraten.

(Georg Lukács, Alte Kultur und neue Kultur, Kommunismus, S. 1544; vgl. Bd. 2 der Lukács-Ausgabe, 322 ff., bei Luchterhand.)

In der „Entäußerung“, im Produkt, manifestiert sich aber nur der Schein des Widerspruchs. Deshalb fährt Lukács im Irrtum fort, wenn er sagt, die Wirtschaft verliere ihre determinierende Funktion im Übergang von kapitalistischer zu kommunistischer Produktionsweise; dieser Verlust trete zugunsten der Kultur ein.

Dieser Überlegung liegt die Vorstellung zugrunde, Natur ließe sich in Kultur auflösen. Aber die Naturgesetze wurden durch das besondere Naturwesen Mensch und dessen Arbeit nur modifiziert und zu Gesellschaftsformen verändert. Das dialektische Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft bleibt. (Von einer „Dialektik der Natur“ zu reden, ist ein Vorbeidenken an der Stoffwechseltheorie Marx’.)

Im Kapitalismus nimmt sich jeder nichtwirtschaftliche Faktor rein ideologisch aus: So muß auch alle Kritik des dialektischen Materialismus, des Marxismus-Leninismus-Maoismus, als ideologischer Faktor beurteilt werden. Die Ideologie ist sowohl Affirmation der Ordnung, die sie vertritt, als auch Negation und Zerstörung dieser.

Kultur sank ab zum Moment der Ideologie: als das Versöhnungsversprechen einer Gesellschaft, die ihren Untergang über ihr Maß hinaus überlebte, als das Versprechen — in Adäquation zum Wesen des Menschen von einer materiell machbaren Welt für den Menschen. Dieses Versprechen muß von der neuen, revolutionären Klasse eingelöst werden, wenn die herrschende ihre Ordnung nur auf Zerstörung des materiellen Wesens des Menschen erhalten kann.

IV. Revolution als Ende der Kultur

Das Wesen des Klassenbewußtseins bestand bis jetzt immer aus dem Insbewußtseinheben der wirtschaftlichen Interessen. Der bloße Übergang auf die Arbeit des Aufbaues — deren Endergebnis dieser Funktionswechsel ist — berührt nicht einmal das Bewußtsein der unmittelbaren Klasseninteressen; er ist bei diesem sozusagen „unter dem Bewußtsein“ Nur das volle Klassenbewußtsein, dem über die unmittelbaren Interessen hinaus die weltgeschichtliche Sendung des Proletariats bewußt wird, hebt dieses Motiv, diesen Funktionswechsel, ins Bewußtsein des Proletariats.

Dieser Funktionswechsel bringt die Möglichkeit der neuen Kultur hervor. Denn die Kultur ist ebenso die innere Herrschaft des Menschen über seine Umgebung, wie die Zivilisation seine äußere Herrschaft über seine Umgebung bedeutet. Wie die Zivilisation die Mittel dieser Herrschaft über die Natur schuf, so werden diese Mittel durch die proletarische Kultur für die Herrschaft über die Gesellschaft geschaffen.

(Georg Lukács, Kommunismus, a.a.O., S. 1546.)

Das kann sie jedoch ausschließlich durch die Veränderung der Produktion, durch die totale Veränderung der Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln erreichen. Nur dadurch wäre die „Einheit der Produktion“ zu erlangen; nur dadurch wird die Frage nach Kultur irrelevant.

Die dialektische Vermittlung als Revolution zwischen Kulturzerfall — an materieller Produktion gemessen — und neu entstehender Ordnung der Beziehungen der Gesellschaft zu ihren Produkten richtet sich nach dem Apriori der notwendigen Einheit von materieller und kultureller Produktion. In der Periode des Übergangs ist die bloß postulierte Einheit der Produktion als ein System von Widersprüchen sichtbar, was die Theorie zur Erkenntnis jener fordert.

Der kapitalistischen Produktionsweise kann keine kommunistische entgegentreten. Durch die „Einheit der Produktion“ ist auch die revolutionäre Veränderung der ganzen Welt bestimmt. Solange das Proletariat nicht überall die Produktionsmittel in der Hand hat und die Produktionsverhältnisse bestimmt, gibt es keine Freiheit von Zwang und Not, sondern nur verräterischen und ausbeuterischen „Sozialismus“, der seine „Glücksideologie“ auf dem Elend von 90 Prozent der Weltbevölkerung aufbaut.

Diese Illusion muß der revolutionäre Intellektuelle zerstören, er wirke als Schiboleth zwischen Zerstörung und Neuaufbau.

Ist hiermit die revolutionäre Bedeutung der Intellektuellen geleugnet? Mitnichten. Ja, viele Intellektuelle sind gute, sind mitunter die besten Vorkämpfer der Revolution. Wenn Zeitgenossen Lenins und Trotzkis, Bela Kuns und Rosa Luxemburgs dies leugnen würden, so wären sie mit Blindheit geschlagen. Aber Intellektuelle können nur als Individuen revolutionär werden; sie müssen aus ihrer Klasse austreten, um an dem Klassenkampf des Proletariats teilnehmen zu können. Dann können sie wirkliche Vorkämpfer werden; können — da sie mit offenem Bewußtsein tun, was die große Masse der Proletarier nur instinktiv tut — die besten und aufopferungsvollsten Führer werden. Denn sie haben, wie das kommunistische Manifest sagt: „zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet.“

(Georg Lukács, Zur Organisationsfrage der Intellektuellen, Kommunismus, a.a.O. S. 154.)

Die revolutionären Intellektuellen zählen nur dann, wenn sie Revolutionen siegreich durchfochten und an deren Permanenz festhalten. Das Bewußtsein des revolutionären Intellektuellen hängt ab vom Schicksal des Proletariats, von der Verwirklichung des Gattungswesens Mensch; davon getrennt, sinkt es zurück in den Bewußtseinskult der Bourgeoisie und wird zur Reliquie der Individualität.

Die Kultur ist die Gestalt der Idee des Menschseins des Menschen.

(Georg Lukács, Alte Kultur und neue Kultur, Kommunismus, S. 1549.)

Das klingt trostreich, versöhnend. Betrachten wir uns in den Werken der Kunst: wir glauben, unser Menschsein, in diesen „versteinerten Verhältnissen“ aufbewahrt, wiederzufinden. In Wahrheit aber entdecken wir — im Kontrast zur wirklichen Welt, zu ihrer materiellen Produktion, der das Proletariat aller Zeiten seine Stummheit verdankt — nur die Abwesenheit dieses Proletariats.

Daraus folgt nicht Bilderstürmerei noch Vergötzung der Kunstprodukte, sondern, mit ruhiger Abkehr vom Jahrtausende alten Schein, die sichere Zerstörung der Lüge vom alten, einzig durch Kultur vermittelten Wesen des Menschen; die Aufhebung der kulturellen Produktion durch materielle. Das durch Revolution zu vollziehende Freiwerden der gefesselten Produktionskräfte kann nicht durch Verwirklichung eines angeblichen „Selbstzwecks“ des Menschen in die alte Laufbahn von Kultur und Tradition zurückversetzt werden. Im Freiwerden selbst vollziehen sich Zweck und Wesen der neuen Gesellschaft.

Lieber Genosse Jirak,

ich drucke Ihren Text gerne. Was mir daran nicht gefällt: der fast totale Mangel an Dialektik in Ihrem Strategiekonzept. Was sich auf seiten des Establishments (und der doktrinären „Linken“) darstellt als Integration, kann sehr wohl vom Standpunkt des Fortschrittes in Richtung Revolution ein solcher Fortschritt sein (Zersetzung und Verunsicherung des Bestehenden u.dgl.). Marx und Engels, erst recht Lenin, hatten eine dialektische Strategie, ihr Super-Marxisten-Leninisten seid noch beim prämarxistischen, prähegelschen Satz der Identität A = A (Integration = Integration), statt prinzipiell vorauszusetzen, daß möglicherweise A = non-A ist (Integratrion = revolutionäre Zersetzung). Das ist nicht automatisch so; die Annahme solcher Automatik wäre wiederum undialektisch und in der Tat bloße Apologetik. Aber es kann so sein, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind (z.B. bewußtseinsmäßiger und organisatorischer Zusammenhalt der revolutionären „Linken“). Daß Sie diese zweite, strategische Arbeitshypothese von vornherein ohne jede Reflexion ablehnen, scheint mir Ihre Kinderkrankheit zu sein. Da das Kind aber seine Kinderkrankheit ganz prächtig zu beschreiben versteht und da ich alter Reaktionär es mit dem pluralen Marxismus halte, d.h. alle Stimmen im Bereich der Linken zu Worte kommen lassen will, soweit sie das Wort handzuhaben wissen, so drucke ich Ihren Text wie auch die Lukács-Rede und die Fetscher-Laudatio.

Übrigens: was machen Sie in Neuwied? Integriert bei Luchterhand?

Herzlichst
Günther Nenning

[1Was hier nur anzudeuten ist; auch der Widerspruch ist jetzt nicht zu entwickeln, daß einerseits der Gegensatz der Klassen permanent, Klasse aber Kategorie der Naturgeschichte ist.

[2Freud bezeichnet die Seele als sinnlichen Apparat, dessen „Triebanspruch“ den „Plan der Schöpfung“ dauernd um das Glück betrüge: Von der Psychologie der Revolution aber an einem anderen Ort.

[3Dschou Yang, Rede am 26. Oktober 1963 auf der vierten erweiterten Sitzung des Ausschusses der Abteilung Philosophie und Gesellschaftswissenschaften der chinesischen Akademie der Wissenschaften. — D. Y. war Leiter der Parteihochschule und einer der ersten im Zuge der Kulturrevolution enthobenen Funktionäre.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1970
, Seite 1115
Autor/inn/en:

Peter Jirak: 1939 geb. in Marburg/Drau‚ Studium der Malerei bei Gütersloh (Wien) und Hegedusic (Zagreb), Studium der Philosophie an der Wiener Universität, dissertierte über „Den Staatsbegriff bei Hegel und Marx“, war ein Rädelsführer der Neuen Linken (SOS, Sozialistischer Österreichischer Studentenbund, später FNL, Föderation Neuer Linker) an der Wiener Universität, 1968. Später Lektor bei Luchterhand, wo auch die Gesammelten Werke von Georg Lukács erschienen. Gastrosoph und Vorsitzender der Slow-Food-Bewegung, lebt in Wien und Norditalien.

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