FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 124
Georg Lukács

Probleme der kulturellen Koexistenz

Vom FORVM wird niemand erwarten, es sei einer Meinung mit Georg Lukács, großem Überlebendern aus Zeiten, da der Kommunismus prästalinistisch intellektuellen Glanz hatte. Vom FORVM wird desgleichen, schon seinem Namen nach, niemand erwarten, es drucke nur, wessen Meinung es ist. Vom FORVM wird, drittens, niemand erwarten, es drucke, wessen Geistigkeit es nicht dennoch unbezähmbaren Respekt und bezwingendes Interesse abgewönne. In diesem dreifachen Sinn freut es sich der hiemit fortgesetzten Mitarbeit des eminenten Literaturtheoretikers.

Wie immer die gegenwärtigen Friedensgespräche unmittelbar ausgehen mögen, sicher ist, daß in den nächsten Jahrzehnten die kulturelle Koexistenz zwischen bürgerlicher und sozialistischer Welt eine wachsende Bedeutung erlangen wird. Da die aktuellen Diskussionen über dieses Thema zumeist eine sehr große Verwirrung sowohl in der Bestimmung der Fundamente wie in der der Perspektiven zeigen, scheint es uns angebracht, die allgemeinsten theoretischen Probleme dieses Komplexes zu überblicken.

Es wird vor allem von westlicher Seite immer wieder betont: solange die Sowjetunion nicht auf ihre Zielsetzung, auf den Weltkommunismus verzichtet, kann von einer wirklichen Koexistenz keine Rede sein. Das ist, scheint uns, theoretisch gesprochen, ein leeres Gerede; praktisch würde es — zumindest — ein Perennieren des Kalten Krieges bedeuten. Denn jeder, der vom ökonomischen Wesen des Kapitalismus und des Sozialismus nur eine verschwommene Ahnung hat, müßte wissen: beide Systeme sind, im Gegensatz zu früheren Wirtschaftsformationen, ihren Grundlagen nach universalistischen Charakters. Beide konnten nur auf der Grundlage, daß die ganze Welt ökonomisch und darum auch politisch ein unzertrennbar verflochtenes Gebilde geworden ist, entstehen. Beiden ist die Tendenz, die ganze Welt nach der eigenen Lebensform zu gestalten, immanent; keine kann, ohne sich selbst aufzugeben, auf dieses objektiv notwendige Bestreben verzichten. Die reale Frage kann deshalb nur so lauten: nachdem der Atomkrieg und damit jeder Krieg von weltumformender Art aus dem Arsenal der realen Möglichkeiten ausscheidet, mit welchen Mitteln können diese unaufhebbar universalistischen Bewegungsrichtungen für ihre Verwirklichung arbeiten? Ein praktisch-vernünftiges Wie im Verkehr der beiden großen Systeme kann also nur bei Unterstellung dieses Rahmens der zwangsläufigen universellen Aktivitäten gesucht werden.

Das bedeutet: die Koexistenz der beiden Systeme — bei einer zuerst faktischen, später immer entschiedener institutionalisierten Ausschaltung der Möglichkeiten von kriegerischen Lösungen — kann nur eine neue Form des internationalen Klassenkampfes sein. In einem Vortrag, den ich im Sommer 1956 hielt, habe ich bereits die Lenin’sche Frage: „Wer wen?“ als dynamische Grundlage jeder Koexistenz, jedes Dialoges innerhalb der Koexistenz bezeichnet. Das wird von marxistischer Seite immer wieder ausgesprochen. Es kommt darauf an, daß die westlichen Politiker und Ideologen zur Einsicht gelangen, ihre eigene Position sei ebenfalls die eines Klassenstandpunkts, einerlei, ob diese auf dem Gebiet der Politik, Ökonomie oder Ästhetik eingenommen wird, und nicht irgendwelche „Offenbarung“ einer gesellschaftsjenseitigen Vernunft.

Eine solche Einsicht hat keineswegs zur Folge, daß die Gesprächspartner nun ihren eigenen Standpunkt relativistisch auffassen müßten. Sie können ihn auch weiter als den einzig richtigen betrachten, wie wir Marxisten es tun; die theoretische Anerkennung der Unvermeidlichkeit der Klassengrundlage im Anspruch auf gesellschaftliche Universalität beim Gegner muß nicht zu einem selbstkritischen Relativismus führen, da dieser Anspruch, auch bei Anerkennung seiner sozialen und ökonomischen Unvermeidlichkeit, theoretisch durchaus als widerspruchsvoll und unhaltbar kritisiert werden kann; so die kapitalistische Ideologie im Blickfeld des Marxismus. Es handelt sich demgemäß nicht um Rückzug, nicht um Konzessionen, sondern bloß um ein historisches Verständnis für die wirkliche Position des Gegners, um eine Polemik gegen das, was er wirklich meint und von seinen Ausgangsstellen aus konsequenterweise meinen muß.

Das real wirksame Prinzip, das das Streben zur Universalität einer Formation bestimmt, liegt naturgemäß in Struktur und Dynamik ihrer Ökonomie. Eine wirklich umfassende und erschöpfende Analyse der Koexistenz müßte also von hier ausgehen. Da unsere Zielsetzung nicht so weit gesteckt ist, müssen wir uns in dieser Frage auf einige Bemerkungen beschränken, um so rasch wie möglich zu unserem eigentlichen Thema zu kommen. Vor allem: eine institutionelle Ausschaltung des Krieges muß früher oder später zum Abbau aller Diskriminierungen im Wirtschaftsverkehr führen. Diese sind ja im wesentlichen ökonomische Kriegsvorbereitungen; daß mächtige Monopolorganisationen eine solche Lage für eigene, engere Interessen ausnützen können, ändert am Gesamtbild nichts Entscheidendes. Auch deshalb nicht, weil alle ökonomisch diskriminierenden Maßnahmen Hilfsmittel des Kalten Krieges sind, und dieser muß, bei solider Ausschaltung des echten Krieges, früher oder später (wahrscheinlich eher später als früher) absterben.

Es ist klar, daß erst der so entstehende ökonomische Wettbewerb der Systeme, die reale Form der wirtschaftlichen Koexistenz, das — letzten Endes — ausschlaggebende Motiv dafür abgibt, ob die Menschen eines Systems für das eigene oder für das konkurrierende optieren werden, was ja den ausschlaggebenden Inhalt des der Koexistenz zugrunde liegenden Klassenkampfes ausmacht. Ich habe bereits in anderen Zusammenhängen ausgeführt, daß die ökonomische Entwicklung selbst die wirksamste Propaganda in diesem Wettbewerb ergibt. Aber natürlich: die reale Entwicklung selbst, nicht eine propagandistisch verkündete. Ich habe auch darauf hingewiesen, daß dieses Präponderieren des ökonomischen Seins kein absolut wirkendes Motiv ist. Es kommt vielmehr — wieder: letzten Endes — darauf an, welches ökonomische System den Menschen ein gehaltreicheres und sinnvolleres Leben zu garantieren imstande ist.

Diese letzte Beschränkung in der ideologischen Wirksamkeit ökonomischer Tatsachen habe ich in früheren Artikeln ebenfalls gestreift, vor allem durch den Hinweis auf die große geistige Anziehungskraft der sozialistischen Revolution in den Zwanzigerjahren, in einer Zeit, in der nicht einmal die Wiederherstellung der Kriegsschäden ökonomisch gelöst war. Für die Gegenwart rückt dieses Problem schon darum in den Mittelpunkt, weil die letzte Phase der kapitalistischen Entwicklung der Freizeit, der Muße eine in dieser sozialen Breite noch nie vorhandene Bedeutung verliehen hat. Und zwar nach zwei Richtungen. Einerseits liegt die ständige quantitative Vergrößerung der Freizeit in der Entwicklungsrichtung der Ökonomie, anderseits entfaltet sich ihre menschliche Ausnützung keineswegs so selbstverständlich-unproblematisch wie im Leben der früheren herrschenden Klassen.

Diese Doppelseitigkeit, das quantitativ ungeheure Anwachsen der an der Muße Beteiligten, verbunden mit der wachsenden Ratlosigkeit ihrer menschlichen Verwertbarkeit, ergibt eine der zentralen Kulturfragen unserer Zeit, mit der sich die Theoretiker der bürgerlichen Welt auch immer intensiver befassen.

Es bedarf deshalb keiner eingehenden Erörterung, daß die kulturellen Probleme unter solchen Umständen für die Entscheidung sozialer Alternativen eine Bedeutung gewinnen, die vor einigen Jahrzehnten unvorstellbar schien. Auch Marx, der vor ungefähr hundert Jahren dieses Problem ins Auge faßte und in der „Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum“ einen Zustand erblickte, dem „die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordene Zeit und geschaffenen Mitteln entspricht“, hat diesen Zustand nur für den Sozialismus als verwirklichbar angesehen. Freilich — und das konnte Marx 1857/58 unmöglich voraussehen — wurde eine gesellschaftlich bereits beträchtliche freie Zeit schon im Kapitalismus verwirklicht. Allerdings wird sie dementsprechend auch von ihm selbst, der inzwischen die ganze Fabrikation von Konsummitteln bis zur Klischierung des kulturellen Lebens seiner Herrschaft unterwarf, seinen eigenen Interessen entsprechend manipuliert.

Unsichtbarer Sozialismus

Dieser Widerspruch von wachsender sozialer Relevanz der Freizeit und ihrer ebenfalls wachsenden inneren Hohlheit, ihrer Unfähigkeit, die Menschen wirklich zu befriedigen, geschweige denn ihrem Leben höheren Gehalt zu geben, bildet heute eine der zentralen Kulturfragen in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern.

Marx glaubte noch, eine solche Höhe der Produktivkräfte würde erst im Sozialismus erreichbar sein. Bei seiner echt wissenschaftlichen Art, nur die bewegenden Kräfte, die die Zukunft herbeiführen, zu analysieren und über diese selbst nur jene allgemeinen Andeutungen zu machen, die sie als Perspektive klarstellen können, hat er sich auf die konkreten Fragen des „Reichs der Freiheit“, wie seine spätere Benennung lautet, nicht eingelassen. Die allgemeinen theoretischen wie praktischen Entstellungstendenzen des Marxismus-Leninismus in der Stalin’schen Periode haben zur Folge, daß den Menschen, die an der kapitalistisch manipulierten Leere ihrer Muße, der abstrakt gewordenen Basis ihrer menschlichen Entfaltung leiden, kein sozialistisches Vorbild entgegenleuchtet, kein sozialistischer Ausweg sichtbar gemacht wird. Und — diese Tatsache ist wiederum höchst bedeutsam — es gibt keinen kapitalistisch-immanenten Ersatz für das Unsichtbarwerden der sozialistischen Perspektive als Vorbild und als Ausweg.

Für unsere Zwecke reicht es aus, die allgemeinsten Umrisse dieses Problemkomplexes angedeutet zu haben. Wir wollten damit nur die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß bei einer voraussehbaren Entwicklung in der unmittelbaren Zukunft die Probleme der Kultur eine qualitativ gewichtigere Rolle zu spielen berufen sind als in früheren Perioden, als auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe des Kapitalismus.

Wir haben die kulturelle Koexistenz als eine Form des Klassenkampfes bestimmt. Natürlich ist damit nichts Neues gesagt. Seit es Klassen gibt, versucht die herrschende Klasse den Ausgebeuteten eine ihr genehme Weltanschauung aufzudrängen. Diese Funktion von Religion, Schule etc. ist uralt. (Schon im Mittelalter wurde die Malerei als Bibelersatz und Bibelauslegung ein Mittel der weltanschaulichen Einflußnahme auf die Analphabeten.) Und es ist gar keine Frage, daß auch auf dem ideologischen Gebiet im engeren Sinne ein solcher Kampf seit vielen Jahrhunderten vor sich geht, seit nämlich der Analphabetismus der unterdrückten Klassen immer stärker im Verschwinden begriffen ist.

Kultur ist mehr als Klassenkampf

Natürlich werden viele im Westen solche Feststellungen als eine Vulgarisierung der Kultur betrachten. Und eine solche würde auch entstehen, wenn man annähme, jede Philosophie, jedes Dichtwerk etc. sei nur zu dem Zwecke enstanden, um eine solche Funktion im Klassenkampf zu erfüllen. Aber der echte Marxismus ist weit entfernt von einer solchen Auffassung. Er weiß freilich einerseits, daß jeder Ideologe in einem bestimmten Land, zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Klasse geboren und erzogen wurde. Die Eindrücke und Einflüsse, die seine Persönlichkeit formen, zeigen sich notwendig in seiner ganzen Denk- und Gefühlsweise und demzufolge auch in seiner Produktion. (Diese Wirkung der sozialen Umgebung kann natürlich auch eine repulsive sein, wie beim Fabrikantensohn Friedrich Engels, der zum Kommunisten wurde. Das modifiziert im Einzelfall den Klasseninhalt sehr wesentlich, kann aber die Klassenmäßigkeit des ganzen Komplexes nicht aufheben.)

Die soziale Genesis der Kulturwerke ist aber nur eine — und nicht einmal die entscheidende — Komponente ihres sozialen Wesens. Unabhängig von der Absicht des Schöpfers hat das Geschaffene eine bestimmte Wirkung im sozialen Leben seiner Zeit und eventuell auch in dem der Nachwelt. Unabhängig davon, wie Kopernikus, Kepler und Galilei persönlich zu den religiösen Problemen ihrer Zeit standen, haben ihre Werke eine mehr als tausend Jahre bestehende religiöse Ontologie zerstört und haben damit allen sozialen Kämpfen auf dem Terrain der Weltanschauung eine neue Physiognomie gegeben.

Will man zu einer realistischen Einschätzung solcher Kämpfe in der Gegenwart kommen, so muß man den Begriff der Weltanschauung sehr breit, weit über das Gebiet der Fachphilosophie hinausgehend fassen. Diese Tendenz ist im Marxismus immer sehr ausgeprägt vorhanden gewesen, jedoch keineswegs ausschließlich in ihm. William James begann z.B. seine Vorlesungen über Pragmatismus mit einem Zitat aus Chesterton, dessen Inhalt er vorbehaltlos bejahte. Chesterton leitet seine Ausführungen mit den Worten ein: „Es gibt Leute — und ich gehöre zu ihnen — die glauben, das praktisch bedeutsamste Ding an einem Menschen sei seine Weltanschauung. Für eine Wirtin, die einen Mieter ins Auge faßt, ist es zwar sehr wichtig, daß sie sein Einkommen kenne, noch wichtiger ist es aber für sie, daß sie seine Philosophie kenne.“

Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, kommt man dazu, in den Handlungen eines jeden Menschen einen bestimmten systemartigen Zusammenhang zu entdecken, der einerseits von seinem gesellschaftlichen Sein aus bestimmt ist (wie wir gesehen haben, hebt die oppositionelle Einstellung dieses allgemeine Bestimmtsein nicht auf), anderseits seinen einzelnen unmittelbaren Handlungen eine — ihm selbst oft nicht bewußte oder falsch bewußte — Einheit verleiht. Es ist also gar nicht unrichtig, dieses seelische Kraftfeld zwischen Reproduktion der Wirklichkeit und Reagieren auf sie ganz allgemein Weltanschauung zu nennen.

Es ist hier nicht der Ort, die sehr verschiedenen und abgestuften Bewußtseinsniveaus solcher Weltanschauungen zu analysieren. Worauf es hier ankommt, ist, anzudeuten, welche Rolle diese Weltanschauungen in der Entscheidung von Alternativen des Lebens spielen, insbesondere in solchen, wo es sich um das Bejahen oder Verneinen der gesellschaftlichen Welt, in der der betreffende Mensch lebt, handelt, eventuell — und praktisch sehr häufig — um eine resignierte, zynische etc. Urteilsenthaltung in dieser Frage.

Entideologisierung?

Unter dem Einfluß des Neopositivismus ist im Westen die Anschauung weit verbreitet: nur die sogenannten totalitären Systeme würden Gewicht auf Weltanschauung legen, die „freie Welt“ sei prinzipiell weltanschauungslos, und dies sei gerade ihre Stärke. Natürlich werden einige gegen diese vielleicht allzu schroff synthetisierende Bestimmung Einwände erheben. Sie sollten aber bedenken, daß die führenden Neopositivisten all das, was außerhalb einer mathematisierenden Manipulation der Phänomene liegt, aus dem Gebiet des wissenschaftlich, ja überhaupt vernünftig Erfaßbaren prinzipiell ausscheiden. So heißt es in einem so berühmten Buch wie Wittgensteins „Traktat“: „Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen ... Und es ist nicht verwunderlich, daß die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind.“ Und er zieht, mutig und folgerichtig, alle Konsequenzen. So sagt er: „Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben“, und anschließend: „Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“

Damit hat Wittgenstein alle menschlich wesentlichen Probleme ins Gebiet des Nichtrationalisierbaren verschoben, ins Irrationale, und er zeigt gerade mit dieser radikalen Ablehnung aller Weltanschauungsfragen ihre praktisch-reale Unausweichlichkeit: werden sie durch die Türe der Philosophie hinausgeworfen, so kehren sie durch das Fenster zurück.

Es ist darum kein Zufall, daß der Existentialismus und die mit ihm verwandten religiösen oder irreligiösen Weltanschauungen diese Gebiete im Namen eines zeitgemäßen Irrationalismus besetzten. Und die polare Zusammengehörigkeit solcher unmittelbarer Gegensätzlichkeiten ergibt wesentlich den Spielraum für die herrschenden Weltanschauungen des Westens. (Es ehrt Sartre, daß er sich philosophisch bei dieser Polarität nicht beruhigen kann und sie in immer neuen Versuchen zu überwinden trachtet.)

Mit Dogmatismus geht es nicht

Kann man nun dieser prinzipiellen Problematik aller Weltanschauungen den Marxismus erfolgreich gegenüberstellen, ja, ist zwischen ihnen ein fruchtbarer Dialog überhaupt möglich? Mit den Erben der Stalin’schen Periode sicher nicht. Sie stellen der verfeinerten Manipulation der Erkenntnis nur eine grobe, der Irrationalität der menschlichen Praxis, den wichtigen Fragen des menschlichen Daseins nur eine dogmatische Erstarrtheit gegenüber.

Und wenn in der Zeit nach dem XXI. Kongreß einige Marxisten versuchen, die dogmatisch grobe Manipulation durch Rezeption von westlichen Philosophien zu korrigieren (Semantik etc. auf dem Gebiet des dialektischen Materialismus, Mikrosoziologie etc. auf dem des historischen), so befinden sie sich im Irrtum. Die „Forderung des Tages“ für Theorie und Praxis der Kommunisten ist die marxistische Erkenntnis dessen, was die Zeit nach Lenins Tod Neues an strukturellen Veränderungen, an Entwicklungstendenzen etc. im gesellschaftlichen Leben hervorgebracht hat. Es gibt massenhaft neue Erscheinungen, die mit Berufungen auf Marx und Lenin nicht zu lösen sind.

Lenin hat bereits 1922 bei Einführung der NEP über den Staatskapitalismus gesagt: „Nicht einmal Marx kam auf den Gedanken, auch nur ein einziges Wort darüber zu schreiben, und ist gestorben, ohne ein einziges exaktes Zitat und unwiderlegliche Hinweise hinterlassen zu haben. Wir müssen also jetzt versuchen, uns selber zu helfen.“

Chruschtschew hat in seiner Bukarester Rede diese Methode Lenins auf die neue Lage, auf die seinerzeit richtigen Feststellungen Lenins über das Verhältnis des Imperialismus zur Unvermeidlichkeit des Krieges mutig und richtig angewendet. Es handelt sich einerseits darum, daß es eine Reihe von neuen, vor allem ökonomischen Tatsachen sowohl in der kapitalistischen wie in der sozialistischen Welt gibt, die die Klassiker des Marxismus nicht ins Auge fassen konnten, weil sie zu ihrer Zeit nicht existierten, anderseits darum, daß Stalin und seine Anhänger in wichtigen Fragen die marxistische Methode entstellt, ihre Lebendigkeit und Weltoffenheit zur Erstarrung gebracht haben.

Die neuen Tatsachen des Lebens können nur durch die Wiedergeburt der Marx’schen Methode, durch eine unbefangene Neubetrachtung auf dieser Grundlage entziffert werden, nicht durch ein unkritisches Einbauen unkritischer bürgerlicher Reflexe der neuen Entwicklung in die — dem Wesen nach — unverändert gebliebene Stalin’sche Methode.

Es könnte scheinen, daß wir mit einer solchen Analyse der ideologischen Lage im Kapitalismus und Sozialismus der kulturellen Koexistenz jeden geistigen Boden entziehen würden. In Wirklichkeit ist das strikte Gegenteil der Fall: nur durch eine solche kritische Bestandsaufnahme der Gegenwart kann der Weg in die Zukunft, der Weg zur — unvermeidlich kommenden — kulturellen Koexistenz geebnet werden. Dabei ist als Voraussetzung die Abrechnung mit dem Stalin’schen Erbe für die sozialistische Weltanschauung evident. Freilich nur für solche, die den weltanschaulichen Charakter des Marxismus zu verstehen imstande sind. Von Max Weber bis Wright Mills gibt es nicht wenige, die dies — mehr oder weniger — begriffen haben. Wer allerdings mit Madariaga der Ansicht ist, die Weltanschauung Lenins wäre: „Entweder gibst du mir recht, oder ich schieße“, mit dem ist es schwer, über diese Frage ins Gespräch zu kommen. (Darum war Madariaga erstaunt und empört, daß ich ihn in einem früheren Aufsatz mit Enwer Hodsha zusammen genannt habe; darum hat er nicht gesehen, daß das tertium comparationis einfach die bejahende Stellungnahme beider zum Kalten, ja auch zum Warmen Krieg gewesen ist.)

Molotow und Koestler

Es kommt für den Westen — im eigenen Interesse — darauf an, zu begreifen, daß die gegenwärtige Alternative der sozialistischen Weltanschauung und Methode die Wahl zwischen Wiederherstellung des echten Marxismus, seiner Anwendung auf die neuen Phänomene der Gegenwart oder dem Beharren bei der von Stalin entstellten Methode ist, und nicht etwa — wie man oft meint — die zwischen Molotow und Koestler.

Ist hier der Kampf um einen Weg wenigstens für die fortgeschrittenen Denker sichtbar, so faßt die große Mehrheit die ideologische Lage des Westens weitgehend allzu statisch-selbstzufrieden auf; daß dabei die praktische Bejahung des gegenwärtigen Zustands zuweilen die Form der „Kulturkritik“ annimmt, ändert sehr wenig an den Grundtatsachen.

Unterhalb dieser Statik (oder unverändert-gleichmäßigen Entwicklung), auf der Oberfläche geht aber in Wirklichkeit eine bedeutsame Wandlung vor sich, die sich bis heute allerdings nur in einzelnen pragmatisch begründeten politischen Vorstößen zeigt, obwohl sie — an sich — eine wichtige und prinzipielle Wandlung für die ganze kapitalistische Welt bedeutet. (Um von vornherein jedes Mißverständnis auszuschließen: es handelt sich um eine Wandlung innerhalb des kapitalistischen Systems; ich spreche jetzt nicht über die Möglichkeiten einer sozialistischen Revolution.)

Franklin D. Roosevelt hat nach der großen Krise von 1929 eingesehen, daß bei der großen sozialen Labilität der gesamten gegenwärtigen Welt, bei der Existenz eines mächtigen sozialistischen Staates, die Wiederholung solcher Krisen große Gefahren auch für die USA mit sich führen könne. Er hat dementsprechend eine Wirtschaftspolitik durchgesetzt, deren Grundlinie auf die Vermeidung der Krisen, auf prophylaktische Maßnahmen zur Verhinderung ihres Ausbruchs etc. ausgerichtet war.

Einerlei, wie weit diese Stellungnahme mit richtigem oder falschem Bewußtsein über ihre ökonomische Basis eingenommen wurde, ihr objektiver Sinn beinhaltet das Vertreten der allgemeinen Interessen des Gesamtkapitalismus, wenn nötig auch gegen die Interessen einzelner — wenn auch noch so mächtiger und einflußreicher — kapitalistischer Gruppen. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß einige von ihnen unter bestimmten Umständen am Ausbruch einer Krise interessiert sein können, diese sogar herbeiwünschen, um eine weitere Konzentration der Monopolpositionen, um eine Vernichtung lästiger Konkurrenten zu erreichen. Die Welterschütterung im und nach dem Jahr 1929 hat aber gezeigt, daß in solchen Fällen der Bestand des kapitalistischen Systems an sich gefährdet sein kann. Roosevelt gelang es auch, diese Linie der Wirtschaftspolitik in den USA durchzusetzen, ja sie zum Leitfaden der wirtschaftlichen Praxis in den entwickeltsten kapitalistischen Staaten zu machen.

Der zweite Fall, in welchem diese neue Politik in Erscheinung trat, war der Krieg gegen Hitler-Deutschland. Auch hier haben partielle Sonderinteressen mächtiger kapitalistischer Gruppen München und seine Folgen herbeigeführt. Damals haben Roosevelt und Churchill eingesehen, daß die Gesamtinteressen der bürgerlichen Welt einen Vernichtungskrieg gegen das Hitler-System erfordern (auch im Bündnis mit der Sowjetunion), daß das längere Überwiegen der partiellen Interessen einzelner Machtgruppen den Untergang des Ganzen herbeiführen könne.

Seitdem ist diese Frage nicht von der Tagesordnung gewichen. Die Entstehung eines starken sozialistischen Staatenbündnisses, die unwiderstehliche Befreiungsbewegung der Kolonialvölker, die ebenso unaufhaltsame Tendenz ökonomisch rückständiger Länder, ihre Zurückgebliebenheit zu überwinden, die Umwandlung der gesamten Strategie durch die Nuklearwaffen etc. haben das Ignorieren dieses Problems objektiv immer unmöglicher gemacht.

Kapitalismus contra Kapitalisten

Dennoch war nach Roosevelts Tod Kennedy der erste und bisher einzige Staatsmann in der kapitalistischen Welt, der dieses Programm unter veränderten, weiterentwickelten Verhältnissen wiederaufnahm. Daß es sich auch hier um den Gegensatz der Interessen des Gesamtkapitalismus und der einzelnen Monopolorganisationen handelt, zeigt am klarsten das Verhältnis der USA zu den mittel- und südamerikanischen Staaten: die praktische Durchführung einer intimen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit, wobei die Höherentwicklung, die ökonomisch-politische Modernisierung der mittel- und südamerikanischen Staaten ein vitales Interesse des Gesamtkapitalismus der USA wäre, scheitert immer wieder daran, daß an bestimmten Komplexen der Zurückgebliebenheit dieser Staaten (Monokulturen, feudaler Großgrundbesitz etc.) mächtige Kapitalgruppen interessiert sind.

Damit soll nur das Grundproblem angedeutet werden. Seine Durchführung auf allen Gebieten des internationalen Lebens kann unmöglich der Zweck dieser Abhandlung sein. Es soll nur nebenbei auf die innenpolitische Negerfrage, auf die außenpolitisch verhängnisvolle Unterstützung der reaktionärsten Richtungen und Regierungen in Mittel- und Südamerika, in Korea, Vietnam etc. hingewiesen werden, um die Universalität dieses Problems anschaulich zu machen.

Ebensowenig kann sich diese Abhandlung das Ziel setzen, die Chancen und Perspektiven einer solchen Entwicklung zu analysieren. Für uns ist diese historische Tatsache vor allem ideologisch von Bedeutung. Denn ihr folgerichtiges Durchsetzen erfordert ebenso eine ideologische Selbstbesinnung wie das Überwinden der Stalin’schen Methoden in der Welt des Sozialismus. (Es sei nur am Rande bemerkt: das Wort „ebenso“ müßte in Anführungszeichen gesetzt werden, da ideologische Selbstbesinnung in der bürgerlichen Welt eine andere Struktur, Dynamik etc. hat als in der marxistischen.)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1964
, Seite 181
Autor/inn/en:

Georg Lukács:

Geboren 1885 in Budapest. Philosoph, Literaturhistoriker und politischer Theoretiker. Seit 1918 war Lukács Mitglied der ungarischen KP, 1919 wirkte er als stellvertretender Volkskommissar für das Unterrichtswesen in der Räterepublik. Lukács emigrierte nach Wien, Berlin und Moskau. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Ungarn zurück und arbeitete als Professor. Lukács war führendes Mitglied des Petöfi-Klubs und beteiligte sich am Ungarnaufstand 1956.

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