FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1992 » No. 468
Peter Gutjahr

Abkehr vom Mythos der Revolution

Eine Polemik wider den Geist der Moderne

Gestern Abend wieder einmal Adorno gelesen, diesmal gegen den Strich seiner Intention, ihn selber herausgelesen aus seinen Satzschlingen, den Klemmer, der zur Macht will mit dem untauglichsten aller Mittel: der bloßen, sich zu keinem Imperfekt bekennenden Kritik.

Was will der Spiesser eigentlich? Natürlich die Herrschaft über das Proletariat. Und das als der bessere Bourgeois. Was gehts mich an? Ich hab heute, nach diesen Jahren der Läuterung in der Hölle der Industriellen Produktion, kein Erbarmen mit den Intellektuellen mehr. Sie sind Winkeladvokaten im Schatten der Macht. Ihr Interesse an uns ist kein anderes, als das der Herrschaft, und wenn die Herrschaft uns benützt als den wichtigsten Teil der Produktivkraft, so benützen sie uns als den Gegenstand, der nach ihren Bedürfnissen zu formen und zu verändern sei. Uns bekommen sie dabei ebensowenig vors Objektiv, wie sich selber. So kommt denn dieser Wixer dazu, den Jazz (Negerjazz, wie er schreibt) zu verurteilen, weil dieser bloßer Ausdruck der Knechtschaft sei ... wogegen Mozart, Wagner, Schönberg die wahre Kunst verkörpern.

Schnallt ers noch? Ist er noch bei Sinnen? Was könnte wahrer sein als der geniale Gefühlsausdruck einer Existenz, die nichts anderes darstellt und darstellen will, als die eigne, gelebte, in diesem Fall eben erlittene Wahrheit? Was will man mehr? Antizipation unerfüllbarer Träume? Grandiose Kompensation der realen Minderwertigkeit? Oder kunstfertige Liebdienerei im Interesse der Macht?

Es ist immer dieselbe alte Scheiße mit den Intellektuellen. Ihre Radikalität hat keinen praktischen Wert. Sie verlangen von uns, die Wirklichkeit nicht anzuerkennen, sie zu ignorieren zugunsten einer Haltung, die eine Utopie antizipiert. Es ist leicht, sich gegen den status quo aufzulehnen, wenn man nicht gezwungen ist, sein Leben als untergeordnete Funktion in irgendeiner Scheißfabrik zu verbringen. Hätte Herr Adorno zwanzig Jahre unter Tag in einem Bergwerk gearbeitet, dann hätte er vielleicht gewußt, daß die wahre und einzig mögliche Kunst des Volkes darin besteht, sich an das Unvermeidliche anzupassen. Weil man gar keine andere Wahl hat, sondern, tut mans nicht, höchstpersönlich zugrunde geht.

Die utopistischen Gelüste der Herren Intellektuellen, ihr fataler Drang, die Armen aus ihrem Schicksal zu erlösen, hat uns Proletarier wesentlich mehr gekostet, als die Barbarei des Industrialismus. Wir, und das akzeptiere ich heute, nachdem ich mich von den Kleinbürgern emanzipiert habe, von ihrer ewigen Ranküne, ihrem Neid, ihrem unersättlichen Geltungsdrang, wir Proleten können uns bescheiden. Wir können die Tatsache akzeptieren, daß wir minderwertig sind. Und die Kunst, die aus dieser Bewältigung eines Lebens in Ohnmacht entsteht, ist eben jene Kreativität, derer sie sich, in aller Unschuld, seit jeher fleißig bedienen.

Ich habe jahrelang der Illusion nachgehangen, die kleinbürgerliche Intelligenz sei unser natürlicher Verbündeter. In Wahrheit ist die Intelligentia unser gefährlichster Feind. Es sind die Intelligenzler, die unsere jungen Leute aufstacheln und sie verführen. Es sind ihre unausgegorenen Ideen, geboren aus ihrem Ressentiment, ihrem Willen zum Kampf um die Macht, die unsere Jugend in den Aufstand drängt, den sie nicht gewinnen kann. Marx war darin keinen Deut besser als Lenin oder Hitler. Sie sind alle Scheißkerle gewesen, unverantwortliche Hasardeure, die in Wahrheit keine Ahnung hatten, womit sie spielen.

Natürlich sind im nachhinein die Intellektuellen immer die bedauernswerten Opfer. Sie habens ja immer nur gut gemeint. Man sehe sich nur diesen Herrn Gorbatchov an. Der Mann nennt sich auch noch einen Marxisten! Hätte er auch nur die geringste Ahnung von kapitalistischer Ökonomie, so müßte er wissen, daß die Krisen der westlichen Ökonomie Überproduktionskrisen sind. Er hätte sich daher auch ausrechnen können, daß eine Öffnung des Ostens für die westliche Konkurrenz nur bedeuten kann, daß im Osten die Produktionskapazitäten vernichtet werden mit dem Ziel, die westlichen Kapazitäten auszulasten. Aber er ist, und das verblüfft mich im nachhinein immer noch, ein vollkommen ahnungsloser Mensch. Er hat weder eine Ahnung von menschlicher Psychologie (hat er wirklich geglaubt, daß die Menschen etwas anderes an die Staatsmacht bindet, als der Zwang? Hat er wirklich an „die Demokratie“ geglaubt? Es ist für mich kaum zu fassen, daß die Macht, noch dazu die eines Superstaates, so ahnungslos und so dämlich sein kann), noch hat er eine Ahnung von Ökonomie. Wozu, zum Teufel, war denn die Akademie der Wissenschaften gut?

Die Herrschenden sollten sich meiner Ansicht weniger um das Volk kümmern, als vielmehr um die Bedingungen und die Voraussetzungen ihrer Herrschaft. Wir kommen schon zurecht. Ertragen wirs nicht mehr, dann gibt es eben Randale. Das ist eine klare Sache zwischen uns und der Macht. Die Intellektuellen brauchen wir dafür nicht.

Es hat in der Geschichte noch keinen Volksaufstand gegeben, der motiviert gewesen wäre vom Neid der Untertanen auf die Macht und den Reichtum der Herrschenden. Ich wollte, ich könnte es ihnen ausdeutschen, den Herren der Welt: Vor uns müßt ihr keine Angst haben. Wir können leben mit unserer gesellschaftlichen Funktion — vorausgesetzt, man läßt uns leben, tritt uns nicht mit Füßen und nimmt uns nicht unser Gesicht! Es ist eure eigene Brut, die ihr fürchten müßt, die kleinen Wixer und Möchtegernnapoleons, angefangen von einem Udo Proksch bis hin zu einem Pol Pot. Wir wollen nur, und das möglichst in Ruhe und mit sinnlichem Genuß, leben. Wir brauchen keine Revolution.

Die Gefahr droht euch nicht vom Proletariat, sondern von eurer Ökonomie. Wie der Feudalismus nicht an einer plötzlichen Unduldsamkeit und Machtgier des einfachen Volkes zugrunde gegangen ist, sondern an seinem Unverständnis für die Geheimnisse der Ökonomie, die den städtischen Bourgeois und Zinswucherer förmlich zur Macht gedrängt hat, so bedroht euch die Dynamik des entfesselten Kapitals. Nicht eure Regierungen beherrschen die Welt. Sie sind nur weitgehend hilflose Agenten im Vorfeld der kapitalistischen Produktion. Von den Regierungen ist nichts als Terror zu erwarten, Terror als Antwort auf eine unlösbare ökonomische Situation. Mit diesem Instrumentarium könnt ihr nicht gewinnen.

Eure ökonomische Philosophie geht aus von der Vorstellung des unbegrenzten Raums. In der Phase der Expansion der industriellen Produktion griff der Imperialismus nach den Ressourcen der vorindustriellen Welt und brach damit innerhalb eines halben Jahrhunderts zwei Weltkriege vom Zaun. Jetzt, in der Phase der expandierenden Massenproduktion ist es der Exportimperialismus, der die Produktivität der in der ersten Phase der Industrialisierung ausgeplünderten Länder und Regionen des Erdballs vernichtet und den Armen selbst die Mittel zur primitiven Substitution aus der Hand schlägt. Aber die Ressourcen auch der Kaufkraft sind erschöpft. Die großen, brachliegenden Märkte gibt es nicht mehr. Die ökonomische Welt leidet an mortalem Kaufkraftschwund, die Ökonomien der reichen Länder produzieren mehr, als die Armut kaufen kann. So verhungern Millionen, verarmen Milliarden, die ganze Welt ist verschuldet beim Privatkapital. Jetzt steht die Welt vor dem Abgrund einer globalen Depression. Gewinne kommen nur mehr aus der Spekulation, das Finanzsystem lebt als Zombi seit Jahrzehnten nur mehr von der offenen und der verschleierten Inflation. Das System ist, wieder einmal, am Ende, diesmal aber global, und so billige Auswege wie einen dritten und vierten Weltkrieg gibt es nicht mehr. Eine derartige Orgie der Zerstörung würde den Rest der noch lebensfähigen Biologie vernichten, ganz abgesehen von den verheerenden Folgen des ultimativen Zusammenbruchs auf die menschliche Psychologie. Scheitert ihr jetzt, so bedeutet das das Ende der Zivilisation.

Ich, für meine Person, bin für den radikalen Schnitt. Gefordert ist jetzt die Vernunft der Mächtigen, der paar hundert Familien, die im Hintergrund des parlamentarischen und des Aktiensystems agieren, als ob der Zustand der Welt nicht ihre Sache sei. Gefordert ist eine Diktatur des Großkapitals, die den blinden Expansionismus beendet und neue Regeln schreibt für das große ökonomische Spiel. Ich hab kein Interesse am Aufstieg kleiner Möchtegerntycoons zur Macht. Ihre Ambitionen bedeuten mir nichts, sie sind keine Rechtfertigung für das Hasardspiel der bürgerlichen Demokratie.

Ich bete für das Monopol und die Herrschaft der Finanzaristokratie. Ihre Macht fürchte ich weniger, als die Zukunft, die ohne ihr Bekenntnis auch zur politischen Macht uns allen droht. Man erliegt der marxistischen Propaganda (die sich darin mit der bürgerlichen trifft), wenn man davon ausgeht, die Herrschaft der Monopole werden nicht zu kontrollieren sein. Monopole kann man zur Verantwortung ziehen, Tyrannen kann man bekämpfen, das freie Spiel des Wettbewerbs aber nicht.

Wo sind die Mächtigen, die endlich den Mut aufbringen zu sagen: es ist genug? Wo sind die Pragmatiker der Macht, die wissen, daß das Spiel zu Ende ist? Es hat keine Zukunft mehr, die Grenzen des Wachstums sind erreicht. Jetzt geht es um die Philosophie des Wirtschaftens im begrenzten Raum. Der europäische Traum ist zuende. Es gibt keine ewige Expansion.

Man darf nicht länger auf die Intellektuellen hören. Sie haben lauter Scheißbegriffe im Kopf. Und die psychologische Struktur ihres Denkens ist infantil. Sie entspricht der Trotzphase des Kindes, das gegen objektive Grenzen rebelliert. Endlösungsbegriffe markieren den Horizont des europäischen Denkens, die großen, mit dem Pathos von Jahrtausenden aufgeladenen Begriffe einer an Erlösungsvorstellungen orientierten Kultur. Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit: alles Leerformeln, die, wie die europäische Vergangenheit beweist, nur zu fanatischen Exzessen und zu Ausbrüchen kollektiven Wahnsinns führen. Es ist eine Haltung, die sowohl die Greuel der Inquisition inspiriert hat, als auch die der französischen, der russischen oder der faschistischen Revolution. Man will nicht leben, sondern die Erlösung davon. Das ist das ganze Geheimnis der so fatal siegreichen europäischen Geistesrevolution.

Wir Untertanen sollten damit Schluß machen. Wir träumen nicht von der Freiheit, sondern von der Möglichkeit, uns vor der Gesellschaft zu bewähren. Was wir wollen, bezeichnet nicht der Begriff Gerechtigkeit, sondern so zivile Worte wie Fairness und Rücksicht auf den Schwächeren. Und die Gleichheit schließlich, Grundlage des Bürgerlichen Rechts, realisiert sich uns als die Verdrängung der realen Ungleichheit, die durch gleiches Recht nur zementiert und verschärft wird zugunsten jener, die die soziale Hierarchie ohnehin privilegiert.

Also weg damit und auf den Müllhaufen der abendländischen Geschichte mit den großen Begriffen! Sie sind frühchristlicher Ballast und taugen für unseren Alltag nicht.

Was die sogenannte Demokratie betrifft, so muß man auch hier radikal entmystifizieren. Die Demokratie gilt für uns Untertanen nicht. Sie ist eine Erfindung der Bourgeoisie, modus vivendi ihrer ökonomischen Konkurrenz, die den kleineren Kapitalisten vor der Übermacht des größeren schützen soll. Sie hat darum ihre Realität nicht im Parlament, nicht im Austausch der Argumente, nicht in der Suche nach dem vernünftigsten Weg, sondern in der Korporation. Ihr Resultat ist darum auch nicht die Vernunft, sondern die optimale Interessenkoalition im wertfreien Kampf um die Macht. Kein Abhängiger lebt in einer Demokratie. Das ist nur eine Fiktion. Die Wahlabstimmung dient nur der Legitimation der einen Fraktion gegenüber der anderen. In den Wahlgängen eruieren die Fraktionen der Herrschenden ihre Akzeptanz. Daß sie diese weitgehend schon in ihrer Gesamtheit verloren haben macht ihnen Angst. Darum trommeln sie unisono für die Demokratie. Es geht ihnen nicht um unsere Meinung, unsere Überlegungen zur Politik. Es geht ihnen nur um ihre Legitimation.

Soll Demokratie Sinn haben, so müßte sie die objektiven Interessen des Ganzen repräsentieren. Das Ganze ist aber ein Organismus mit klar definierbaren funktionalen Komponenten. Da wären zunächst das im gegenwärtigen System unberücksichtigte Interesse der Ressourcen und der Regeneration. Dann das nach wie vor patriarchalisch verwaltete Interesse der Arbeitskraft. Weiters das der Motivation (deren gegenwärtiger Ausdruck wäre wohl das Interesse des Kapitals). Zu berücksichtigen wäre auch die Stimme des Staates (repräsentierend die realpolitische und verwaltungstechnische Möglichkeit zur Realisation der diversen Programme und Wünsche), sowie, und nicht zuletzt, das differenzierte Feld der kulturellen Zielvorstellungen (derzeit noch repräsentiert durch die Weltanschauungspartei).

Erst ein solches Konzept, das alle lebensnotwendigen Komponenten erfaßt und in einem repräsentativen Modell zum demokratischen Ausdruck bringt, wäre fähig, die Lebensprobleme der Menschheit zu lösen. In einem solchen Modell wäre dann das Kapital einer von mehreren lebensnotwendigen Faktoren, die Bourgeoisie würde also in ihrem Machtanspruch relativiert und wäre, wie sie selber sich gerne sieht, Auftragnehmer der Gesellschaft, der sie ihren (im übrigen natürlich unter zweifelhaftesten Umständen erworbenen) Reichtum vorschießt.

Von einem solchen Konzept ist diese Demokratie freilich weit entfernt, und eine Periode einer neuen, globalen Diktatur ist wahrscheinlicher, als eine neue Blüte der Demokratie. Aus diesem Grunde beschäftigt sich meine politische Phantasie mehr mit der Wahrscheinlichkeit einer Notstandsdiktatur, als mit neuen Paradiesen eines liberalen Humanismus. Besser, der Liberalismus setzt sich die Grenzen, als sie werden uns gesetzt von der irrationalen Reaktion.

Man sagt, das zentrale Problem der Moderne sei gewesen der Nihilismus, beziehungsweise das Problem der Legitimation der Macht. Leider hat man damit recht. Die Moderne ist immer im Ideologischen geblieben. Ihre Kritikbesessenheit ist, was immer die Intis sich selber vorgemacht haben, steckengeblieben in der Oberfläche des Scheins. Sie hat das wirkliche Problem des zwanzigsten Jahrhunderts nie erfaßt.

Das Verbrechen des bürgerlichen Kapitalismus ist der Zinseszins. Der Zins, das Motiv des Kapitalisten, seinen Reichtum der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen zum Zweck der produktiven Investition, ist der Motor des Wachstums. Wenn auf ein geliehenes Kapital hundertzwanzig Prozent zurückzuzahlen sind, dann heißt das, daß ein Wirtschaftswachstum von zwanzig Prozent nötig ist, soll der Schuldner bei diesem Geschäft nicht verlieren.

Zwanzig Prozent scheint viel, bedenkt man die Raten des von unseren Ökonomen angenommenen Wachstums der produktivsten Ökonomien von durchschnittlich drei bis fünf Prozent. Aber in Wahrheit sind zwanzig Prozent auf das geliehene Kapital nichts, ein Geschenk, das kein Kapitalist uns macht. Den wahren Profit macht das Kapital nicht mit dem Zins, sondern mit dem Zinseszins. Der Zinseszins zwingt zum schnellen Kapitalumschlag, verhindert damit die langfristige Investition und treibt die Wachstumsspirale an in einem Tempo, das sinnvolle Planung und verantwortliches Wirtschaften unmöglich macht. Es ist auch der Zinsezins, der die kapitalschwachen Ökonomien in den Ruin treibt, egal wie produktiv sie in Wirklichkeit sind. Weder die armen Länder, noch die vom Privatkapital abhängigen Staaten der reichen Länder haben die geringste Chance gegen den Zinseszins. Wird dieses Übel nicht baldigst abgeschafft, erübrigt sich jede Kunst der spitzfindigsten Kritik

Der Marxismus war ohne Zweifel eine Kinderkrankheit der ökonomischen Vernunft. Man muß nicht gleich den Privatbesitz an Produktionsmitteln abschaffen, um zu einer vernünftigen, zweckorientieren Wirtschaft zu kommen. Es wäre darum meiner Ansicht nach auch verfehlt, den Zins als solchen abzuschaffen. Das bringt nichts als die Weigerung der Kapitalisten, ihr wie auch immer erworbenes Geld zur Verfügung zu stellen. Allerdings ist die Ökonomie im begrenzten Raum kein selbstreferentielles System. Sie ist Mittel zum Zweck und bedarf der politischen Lenkung. Politische Lenkung heißt Begrenzung des Spielraums des treibenden Motivs. Angewandt auf das Motiv des Kapitals also hieße das: Einführung des politischen Zins. Nicht jede Investition ist sinnvoll, nicht jede Investition ist gleich viel wert. Darum hat die Gesellschaft nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, hier unterschiedlich zu belohnen. Durch höhere Zinsen muß belohnt werden, wer in sinnvolle, von der Allgemeinheit gutgeheißene Projekte investiert. Durch Steuern muß man bestrafen Investitionen, die im Sinne des allgemeinen Wohlergehens schädlich sind.

Der Zins ist grundsätzlich eine Option auf die Produktion der Zukunft. Eine im Jetzt abgeschlossene Bilanz verträgt keinen Zins. Zukunft, ökonomisch gedacht, heißt aber Steigerung der Produktivität. Der Zins, obwohl er, moralisch betrachtet, der schäbigen Haltung des Erpressers entspringt, hat also objektiv sein Gutes, denn die Steigerung der menschlichen Produktivität scheint mir nach wie vor ein wünschenswertes Ziel. Es hat sich aber gezeigt, daß nicht alle Wege gedeihlich sind. So sind zum Beispiel die Atomkraftwerke ein gefährlicher Unsinn, und es wäre sinnvoll gewesen, das Plus der Produktivität in eine andere Form der Energiegewinnung zu lenken, die möglicherweise mehr Arbeitskraft bindet, dem ganzen auf lange Sicht aber bekömmlicher ist.

Jetzt bleibt uns keine Wahl mehr. Jetzt muß man die produktivsten Sektoren bestrafen, sie rigoros besteuern, um die ruinierte Natur, die Schäden durch verfehlte Investitionen, verfehlte Entwicklungen zu reparieren. Man muß, welchen Kampf es auch fordern wird, das Interessenkartell der Schwerindustrie brechen. Die Ölwirtschaft muß zurückgedrängt werden, die Automobilindustrie in ihrem rabiaten Expansionismus gebremst, ihr Ausstoß radikal reduziert werden. Geld darf nicht mehr fließen, wohin die Spekulation es treibt. Man muß die Kapitalisten endlich zwingen zu tun, was nötig ist. Hat die Ingelligentia nicht den Mut, das zu fordern und durch ihre erwiesene Tatkraft umzusetzen, dann hat sie ihre Berechtigung zur Kritik verloren. Ich jedenfalls habe keinerlei Interesse an ihrem eitlen, scholastischen Geschwätz.

Der Kampf gilt der kapitalistischen Ökonomie als selbstreferentiellem System. Nicht die diversen Nationalismen und Fundamentalismen sind das Problem. Schon gar nicht der Untergang der Kultur, der Tod der Kunst, und was es der Lieblingsthemen der Intelligentia mehr gibt. Das Problem des Herrn Salman Rushdie ist zweifellos unangenehm. Es ist aber in Wahrheit nur Ausdruck des Unwillens der Massen, für nebbiche Schwätzer und Selbstdarsteller aus den Reihen der leider allzu überheblich gewordenen Intelligenz den Kopf hinzuhalten. Das, nicht die Tatsache, daß wir die Gefahr nicht sehen, die in diesem Beispiel sich zeigt, hindert uns daran, auf die Straße zu gehen und um sein Leben zu kämpfen. Angesichts der Verhungernden in Somalia und anderswo, angesichts des Verbrechens des nahezu unkontrollierten Organhandels, der weltweiten Kinderprostitution, des Menschenhandels und der sinnlosen, nur durch die nackte Verzweiflung der betroffenen Massen verursachten Kriege ist der Fall Salman Rushdie eine Tragödie, die mich noch keine Minute meines Schlafes gekostet hat.

Es werden, ich hoffe es wenigstens, einmal Zeiten kommen, da man das neunzehnte und das zwanzigste Jahrhundert mit dem sogenannten finsteren Mittelalter vergleichen wird. Es wird späteren Generationen nicht mehr verständlich sein, wie so viel Intelligenz soviel Idiotie hat hervorbringen können. Zu zeigen, warum das nicht nur möglich, sondern notwendig war als folge falscher Voraussetzungen des Denkens wird die Aufgabe der Intellektuellen jener Generation sein.

Auch der Irrationalismus hat sein Motiv.

Der Geist der Moderne ist geprägt von der Problematik der Intelligenz. Die Intelligentia als säkularisierter Erbe der Priesterschaft ist keine Klasse an sich, sondern bestenfalls eine Klasse für sich. Das soll heißen, der Intellektuelle, egal aus welcher sozialen Schicht er kommt, ist gezwungen, sich zu einem Standpunkt, zu einem Interesse zu bekennen. Sowohl die Arbeiterschaft als auch die Bourgeoisie werden definiert durch ihre Funktion im Produktionsprozeß der kapitalistischen Industrie. Ihr Standpunkt ist eindeutig und muß nicht gesucht werden.

Der Intellektuelle dagegen definiert sich spontan als Anwalt der objektiven Vernunft, die sich in den Mantel des Moralischen hüllt, weil nur die Moral eindringen kann in die hermetische Welt der Dialektik von Arbeit und Kapital, die als Industrialismus Synthese geworden ist und so, als mächtigstes Interessensubjekt, in der amorphen Welt der Ressourcen sich rücksichtslos verwirklicht.

Im Marxismus identifiziert sich die Intelligenz vollkommen mit dem Interessensubjekt Industrialismus und versucht, dessen produktiven Widerspruch aufzulösen, um der Forderung der Moral, respektive der objektiven Vernunft, zu genügen. Ohne sich dessen bewußt zu sein hat sie damit aber nur die Verdrängung der Interessen der nichtindustriellen Welt radikal vorangetrieben, die Entwicklung der Kräfte der nachindustriellen Welt verhindert, soweit das in ihrer Macht stand. Das Scheitern der marxistischen Welt war von daher vorprogrammiert, und es besteht keine Notwendigkeit, hier nach grundsätzlichen Unterschieden zwischen Marx, Lenin, Stalin oder den europäischen Sozialdemokraten zu suchen. Man wird solche prinzipiellen Differenzen nicht finden.

Der Widerspruch zwischen dem Totalitätsanspruch des Industrialismus, ob Ost oder West, und den Forderungen der objektiven Vernunft der ganzheitlichen Existenz der Menschheit in ihrem planetaren Biotop, der in den Forderungen der Moral gleichsam vorbewußten Ausdruck findet, hat aber in den Reihen der Intelligenz sehr früh einen vehementen Widerspruch gegen das Konzept des Industrialismus ausgelöst. Sogar bei Marx selbst klingt dieser Widerspruch an im zynischen Gestus seiner Kritik des Wesens des Kapitals. Freilich verdrängt er diesen Widerspruch durch seine oberflächliche Gleichsetzung der industriellen Arbeiterschaft mit den objektiven Interessen der Menschheit und der biologischen Welt. Tatsächlich bildet die industrielle Arbeiterschaft (als die Masse der beschäftigen Arbeitskräfte) eine natürliche Interessenkoalition mit dem Kapital und nimmt, wie das Beispiel des realen Sozialismus beweist, dabei keinerlei Rücksicht auf die Intelligenz, die Natur, oder die Armut und andere, politisch im Industrialismus-Modell nicht repräsentierten Interessen.

Untersucht man das Schicksal der nichtindustriellen Intelligenz, so entdeckt man verschiedene Versuche, sich der unheimlichen Logik der unseligen Koalition von Kapital und Arbeitskraft zu widersetzen. Dabei sind zwei Strömungen zu unterscheiden: Die eine sucht ihre Basis in der Begründung der Vernunft in der Moral, beziehungsweise umgekehrt, und verliert sich und den Mut bei der Suche nach dem Trick, die moralisch motivierte Vernunft in irgendeinem Absolutum zu verankern.

Die andere Strömung umgeht diese Falle und beruft sich auf den Rousseauismus und den bürgerlichen Mythos des autonomen, selbstverantwortlichen Subjekts, dessen natürlichster und gesündester Impuls der Wille zur Entgrenzung sei. Sein Ausdruck daher, egal wie sinnlos und irrational der politisch auftritt, gilt dem Vertreter des reinen Subjektivismus als der einzigen, unverdächtigen Form menschlicher Äußerung. Jede Kritik an der so vergötzten Spontaneität wird als totalitärer, anmaßender Terror gebrandmarkt, den sozialen Verbindlichkeiten entzieht man sich durch Ästhetizismus und die Narrenfreiheit der Kunst, die damit als unkritisierbar gesetzt wird und als der einzig legitime Anwalt des menschlichen Subjekts.

Harte Moralisten und zynische Individualisten sind die natürlichen Antipoden der intellektuellen Reaktion auf den Industrialismus. Diese umfaßt daher so unterschiedliche Figuren wie Nietzsche und Günther Anders, so heterogene Kräfte wie den Anarchismus und den theistischen Fundamentalismus.

Es ist dieses, scheinbar unmöglich auf einen Nenner zu bringende Feld gegensätzlichster oppositioneller Positionen, aus dem der Geist der Moderne hervorgegangen ist als der Wille zum Widerspruch und als Praxis der Kritik, die ihre Ergebnisse mißbraucht sieht als Wissen, das sie unfreiwillig der herrschenden Koalition zur Verfügung stellt.

Das Versagen der Intelligenz in ihrem Kampf gegen den industriellen Moloch hat aber tiefere, psychologische Gründe, die ım Wesen des Intellektuellen selber wurzeln und ihn unfähig machen für Lösungen der pragmatischen Art. Der Intellektuelle ist gezwungen zum Bekenntnis, hieß es eingangs. Das Bekenntnis als bewußter Akt der Zuordnung erst gibt ihm seine, immer gefährdete Identität. Wer aber sich zur Entscheidung gezwungen sieht versucht spontan, eine Idealposition zu finden, der nicht mehr widersprochen werden kann. Das Ideal, die Verankerung der Entscheidungsgrundlage im Absoluten, aber auch der Hang zum Fanatismus sind dem Denken und Wollen des Intellektuellen sozusagen angeboren.

Idealpositionen aber gibt es nicht in einer Welt, deren Wesen der kreative Widerspruch ist. Darum sieht der Intellektuelle in allen denkbaren Positionen deren inneren Widerspruch, verdrängt diesen durch einen Überzeugungsfanatismus, oder aber verzweifelt an ihm. Er ist zur Vernunft spontan nicht fähig, erlebt sich selbst daher vorwiegend als zwanghaftes Scheitern und reflektiert sich und die Welt aus dieser psychologisch schwierigen Position. So ist der Intellektuelle per definitionem ein einsamer Mensch. Nähert er sich einer Position an, so tut er das kritisch, als Wille zum Widerspruch, der sich zwangsläufig als Wille zur Dominanz artikuliert. Darum bleibt der Intellektuelle, so er sich treu bleibt, immer in Distanz zur Umgebung, in der er sich gerade bewegt, und je größer der Wunsch nach Näherung ist, desto mehr gefährdet er sich selbst. Er macht sich unbeliebt und hindert sich am persönlichen Erfolg, wenn er seinem natürlichen Ideal treu bleibt, er macht sich lächerlich, weil er sich widerspricht, wenn er dem Zwang seiner Umwelt nachgibt und sich arrangiert. Im ersteren Fall wird er sich verhärten zum kompromißlosen Moralisten, für den es keine Rückkehr in die Gemeinschaft mehr gibt, weil diese, im Normalfall, den Moralisten meidet wie die Pest. Im zweiten Fall erleidet er einen Selbstwertverlust vor dem Maß seiner persönlichkeitsbildenden Werte, was er durch Zynismus und irrationalen Immoralismus sadomasochistisch kompensiert. So bleibt denn vom Intellektuellen seine objektive Funktion, die Sozialisation von Erfahrung durch deren Verbalisation, die als Wissen zum Know How der gefestigten Identitäten wird. Da er persönlich sich aber als Gegensatz solcher Identitäten empfindet, erlebt er seine Produktivität als wertlos, wenn nicht kontraproduktiv, und neigt dazu, das Wissen als solches zu verachten. So schließt sich der paradoxe Kreis, der aus dem Willen zur Vernunft den Irrationalismus gebiert.

Abschließend: Die Revolution als der zentrale Mythos der Moderne entspringt der Psychologie des Intellektuellen, der sich spontan der Rebellion zur Verfügung stellt. Ich sehe darin kein Verdienst der Intelligenz, denn Revolutionen bringen keinen inhaltlichen Fortschritt in der Lösung der Probleme der menschlichen Existenz. Die französische Revolution war kein Wieg der Vernunft oder der Moral. Sie war nichts weiter, als eine der denkbaren Möglichkeiten der Anpassung an eine ökonomische Situation, auf die aus dem Geist des Feudalismus keine Antwort mehr zu finden war. Der tiefere Grund für diese Unfähigkeit der alten herrschenden Klasse, eine Antwort auf das Phänomen der Bourgeoisie zu finden, war nicht deren moralischer oder intellektueller Verfall, sondern deren mangelndes Wissen um die Geheimnisse der Ökonomie. Es besteht also kein Grund, die Revolution oder die Moderne zu verherrlichen. Den Mythos der Revolution zu überwinden wäre vielmehr eine der Aufgaben der anstehenden postmodernen Revolution.

Postscriptum:

Marktwirtschaft, Wettbewerb, Konkurrenz sind nicht an Wirtschaftswachstum gebunden. Man muß dieser gängigen Meinung energisch widersprechen. Nur der Zins zwingt zum Wachstum des Produktionsvolumens und damit der Kaufkraft.

Wettbewerb ohne Wachstum ist Verdrängungswettbewerb. Unter der, im Interesse einer funktionierenden Wirtschaft im begrenzten Raum notwendigen Voraussetzung, daß Wettbewerbsvorteile nicht aus einer Erhöhung der Produktivität pro Kopf der beschäftigten Arbeitskraft, damit der Verringerung der Kaufkraft im Verhältnis zur Produktmenge, also über den Preis erzielt werden, bleiben Sparsamkeit im Umgang mit den materiellen Ressourcen einerseits, die Überzeugung des Käufers durch das bessere Produkt andererseits die einzigen Möglichkeiten, einen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen.

Damit produziert der Wettbewerb ohne Wirtschaftswachstum genau jene Qualität der Produktion, die wir von ihm verlangen und als seine Segnungen preisen, ohne aber zugleich die Kehrseite des bisherigen Wirtschaftens, die soziale Not, die Inflation, die Destabilisierung der politischen Verhältnisse hervorzurufen.

Ich denke, die Bourgeoisie und ihre staatlichen Interessenverwalter sollten sich das Modell einer Wirtschaft ohne Wachstumszwang vorurteilslos durch den Kopf gehen lassen. Es würde einige ihrer Probleme lösen, ohne sie im mindesten zu beschränken oder das Wesen ihrer Tätigkeit zu verändern. Auch, und vor allem die Gewerkschaften und die Interessenvertretungen der sozial Schwachen wären gut beraten, den Kampf gegen die Zinswirtschaft aufzunehmen. Eine bessere Lösung gibt es nach meiner Ansicht nicht.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1992
, Seite 50
Autor/inn/en:

Peter Gutjahr:

Foto: Selbstportrait, 2016
Geboren 1954 in Hard, Vorarlberg, Österreich. Lebt seit seiner Pensionierung in einem Gemeindebau in Ottakring / Wien. Vertreibt sich die Zeit mit Malen und Schreiben. Arbeitet gelegentlich an einer „AdFinitum" betitelten Sammlung von Meinungen, Kommentaren, Beobachtungen, die, da er seinen Tod wohl nicht wird dokumentieren können, irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft als vollendet der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden darf.

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