FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1972 » No. 220
Lutz Holzinger

Rot markierter Fleckerlteppich

„Rote Markierungen“, Europa Verlag 1972

Auch in Österreich würdigen die großen Parteien seit einiger Zeit über die Tagesaktualität hinausreichende Ereignisse, indem sie ihre intellektuelle Kamarilla in Buchform in Erscheinung treten lassen. Es ist daher nur billig, daß die SPÖ durch eine Buchveröffentlichung die Ernsthaftigkeit unterstreicht, mit der sie ihre Ideologie zu diskutieren gedenkt. Geht es ihr doch — wie Parteivorsitzender Kreisky in seinem Geleitwort zu dem Band „Rote Markierungen“ (Europa Verlag, 1972) hervorhebt — um nicht mehr und nicht weniger als: „die Menschen unseres Landes mit ... globalen Aufgaben zu konfrontieren, sie herauszuführen aus der Enge der Selbstbeschränkung, der Selbstgenügsamkeit oder gar der Selbstgefälligkeit“ (S. 9). Kreisky fährt weiter unten fort: „Ich glaube, daß die Gedanken, die ich hier ausgedrückt habe, die Herausgabe der Beiträge von Karl Blecha, Heinz Fischer, Rupert Gmoser, Fritz Herrmann, Heinz Kienzl, Norbert Leser und Hans Werbik in höchstem Maße rechtfertigen. Ich bin froh, daß die Autoren, ... Zeit gefunden haben, die Unverbindlichkeit kurzer Aufsätze zu überwinden und sich um eine ausführliche Darstellung ihrer Gedanken bemühen“ (S. 10).

Die Beschwörung einer komplizierten Zukunft läßt Vergangenheit und Gegenwart vergessen. Deren Aufarbeitung erspart man sich dadurch, daß man den Schleier, der den Mangel sozial-demokratischer Perspektiven verhüllt, im Ideologie-Bad reinzuwaschen sucht. Angesichts der Regierungstätigkeit der SPÖ darf aber auch die Zukunftsprojektion nicht den Geruch des Sozialismus an sich haben; die Diskussion wird daher in eine utopische Zukunft verlegt oder — was das gleiche ist — behauptet, Österreich sei bereits sozialistisch. Die Vermittlung zwischen opportunistischer Praxis und utopisierter Theorie leisten — André Gorz mißverstehend — mittelfristige Ziele. Sie werden auf den Begriff der „Demokratisierung“ gebracht als einem quasi-sozialistischen Nenner, der zur Etikettierung der systemimmanenten SP-Tagespolitik dient.

Der Ideologie-Parteitag der SPÖ hat offenbar die Funktion, Sozialismus so zu definieren, daß der Begriff auf die Partei angewandt werden kann. Was man sich darunter vorzustellen hat, macht der Band „Rote Markierungen“ deutlich. Mit Ausnahme von Fritz Herrmann, Referent für Kunstfragen im Unterrichtsministerium, nehmen alle Autoren den von Kreisky gespielten Ball glänzend auf. Die peripher in der österreichischen Sozial-Demokratie noch vorhandenen sozialistischen Traditionen werden eskamotiert, indem scheinbar wertneutrale mittelfristige Konzeptionen entworfen werden, die einerseits jede sozialistische Orientierung der Praxis verbieten und anderseits eine mechanische Entwicklung zum Sozialismus in ferner Zukunft beschwören. Die Beiträge von Karl Blecha und Heinz Fischer sind dafür typisch.

Blecha

Blechas Argumentation basiert auf den Fetischen „Modernisierung und Demokratisierung“. Der Zwang zur Modernisierung ergibt sich für den Autor notwendig aus dem Nachhinken Österreichs hinter dem Entwicklungsstand der westeuropäischen Industrienationen. Ganz wohl scheint Blecha bei diesem Gedanken doch nicht zu sein, weil er sich immerhin gezwungen sieht, die „inhumanen Tendenzen“ dieser Entwicklung zu reflektieren. Daher verfällt er auf den Begriff der Demokratisierung als einen Schlüssel, der das Tor zu einer egalitären Gesellschaft aufsperrt. „Der SPÖ fällt die Aufgabe zu, das bestehende System zu überwinden und durch ihre parlamentarische und außerparlamentarische Aktion die Voraussetzungen für eine auf Freiheit und Gleichheit, Partizipation und sozialer Gerechtigkeit beruhende Gesellschaftsordnung zu schaffen“ (S. 14).

Über weite Strecken würdigt der Autor die bisherigen Anstrengungen seiner Partei, die „Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche“ vorangetrieben zu haben. Für die Zukunft der SPÖ lehnt er die Alternative Reform oder Revolution ab; er bringt vielmehr das antagonistische Gegensatzpaar mit dem Ausdruck „revolutionäre Reform“ unter einen Hut. Blecha meint, damit eine Dialektik von Modernisierung und Demokratisierung installieren und in den Griff bekommen zu können. Der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft läuft die Notwendigkeit parallel, sie durch Demokratisierung den Bedürfnissen des Menschen anzupassen. Das Resultat dieser Methode ist indessen auf sozialdemokratische Bedürfnisse zugeschnittenes Krisenmanagement. Das ist die Dienstleistung der SPÖ, auf die sie ein Monopol hat. „Die einzige organisierte Kraft, die sich gegen die Unmenschlichkeit der modernisierten Industriegesellschaft auflehnt, ist die demokratisch-sozialistische Bewegung. Eine offensive Strategie kann sie am ehesten dort führen, wo sie über Machtpositionen verfügt und damit die im Spätkapitalismus begründeten Ursachen dieser Entwicklung überwinden kann. Die Fähigkeit dazu muß sie aus der Ideologie revolutionärer Reformen beziehen“ (S. 31). Den „sozialdemokratischen Reformisten“ wirft Blecha vor, bloß „Symptome aufheben zu wollen“. Wie nahe er den „Wurzeln“ kommt, geht aus seinem Forderungskatalog hervor:

Zum menschenwürdigen Dasein in einem modernen Österreich gehört,

daß der Mensch frei atmen kann, ohne befürchten zu müssen, mit jedem Atemzug Gift in seine Lungen zu pumpen;

daß der Mensch Wasser trinken kann, ohne Angst haben zu müssen, daß es verunreinigt ist und seine Gesundheit schädigt;

daß der Mensch ein Recht auf ungestörten Schlaf hat, auf einen Schlaf, der nicht durch Motoren- und Maschinenlärm schwerstens beeinträchtigt wird;

daß der Mensch eine gesunde Wohnung zu erschwinglichem Preis bekommen und an der Gestaltung seiner unmittelbaren Umgebung teilnehmen kann.

(S. 31)

Als Remedur schlägt Blecha vor, sich nicht ausschließlich am optimalen Wirtschaftswachstum zu orientieren. An der „Wurzel“ des Systems, den Produktionsverhältnissen wird nicht gerüttelt. Blechas „revolutionäre Reformen“ enthüllen sich so als Ideologie, welche die SPÖ auf das Austragstübchen der Sozialisierung von Produktionskosten verweist, die die kapitalistischen Unternehmen nicht tragen wollen.

Heinz Fischer

Aus Heinz Fischers Beitrag spricht die Sorge über eine endgültige Verkalkung und Integration seiner Partei durch die Regierungstätigkeit. Er ruft seine Parteigenossen auf zu mehr Dynamik, muß aber einschränken:

Die Sozialdemokratie als eine in die bestehende Gesellschaft integrierte politische Bewegung kann nicht ihr eigener linker Flügel sein. Sie kann aber auf gesellschaftskritische, systemtranszendente Ansätze nicht verzichten. Sie kann dem großen Druck der an der Aufrechterhaltung des bestehenden Systems Interessierten nur dann ohne Deformierung standhalten, wenn sie sich dem Druck progressiver Minderheiten, dem Druck kritischer Fragen und dem Druck der Konfrontation mit den eigenen langfristigen Zielsetzungen und Utopien nicht verschließt.

(S. 53)

Fischer baut also auf Kräfte, die außerhalb der Einflußmöglichkeit der SPÖ liegen. Die Partei verkommt zu einem Objekt, das bewegt wird vom Antagonismus zwischen herrschender Klasse und linken Randgruppen. Wohin das führen muß, ist offenkundig. Bei Fischer etwa dazu, daß er in der Diskussion um das Bodenrecht eine Aufweichung des kapitalistischen Eigentumsbegriffs sieht, obgleich es dabei nur um die Beseitigung von wachstumshemmenden Faktoren geht (vgl.: Wilhelm Kainrath, Assanierung des Kapitals; in: NF, März 1972, S. 23ff.).

Fischers Rechtfertigungsideologie verfolgt den Zweck, zu vermitteln zwischen Wählerfang und sozialistischer Perspektive, die von seiten der SPÖ längst an den Nagel gehängt wurde. Im Wortlaut heißt es dann: „Maximierung des Produktes aus sozialistischer Substanz unserer Politik mal dem Ausmaß an Konsens, das wir für diese Politik mobilisieren können“ (S. 54). Kein Zweifel, daß der zweite der dominierende Faktor ist.

Gmoser

Rupert Gmoser entwirft eine „Sozialdemokratische Gewerkschaftsstrategie für morgen“. Der Autor spricht deutlich aus, was die stärker an die sozialdemokratische Parte gebundenen Autoren nur umschrieben sagen: „In der pluralistischen Gesellschaft geht es nicht mehr um die Vernichtung des anderen, sondern um das gleichberechtigte Nebeneinander der verschiedenen sozialen Gruppen“ (S. 70). Gmoser übernimmt damit die konservative Demokratietheorie. Folgerichtig sieht er in der Verbandsdemokratie, welche dem ÖGB die Integration ins System gestattet, eine wesentliche Errungenschaft.

Nebenbei konstatiert er, daß die Arbeiter „ihren Aufstieg vom Proletarier zum Arbeitnehmer“ geschafft haben. Daß das Wirtschaftssystem weiterhin auf Ausbeutung und Entfremdung beruht, daß es der „Arbeitgeber“ ist, der die Arbeit des „Arbeitnehmers“ nimmt, um dessen Mehrarbeit zu verwerten, macht ihm nichts aus. Denn: „Im Bereich der Wirtschaft bekennen wir uns zu einem Leitbild, das dem Rechenstift für den Bereich, in dem er allein zuständig ist, seine Herrschaft läßt, das aber gleichzeitig der Tatsache Rechnung trägt, daß es auch in der Wirtschaft letzten Endes um den Menschen geht“ (S. 61). Wo der „Rechenstift“ für den Menschen Platz läßt, wird freilich nicht näher ausgeführt. Gmoser genügt das Vertrauen in Mutter Gewerkschaft:

Die österreichischen Gewerkschaften haben mit ihrem Eintreten für die Mitbestimmung eine bedeutsame Entscheidung gefällt. Sie haben sich für den Kurs der Integration in das System entschieden und sich abgesetzt von den politisch scheinradikalen Gewerkschaften Frankreichs und Italiens einerseits und den amerikanischen Business Unions anderseits ... Sie haben im Rahmen des Systems das System zu ändern begonnen und haben es ... grundlegend umgestaltet.

(S. 63)

Auch dieser Autor plädiert für „Humanisierung und Demokratie“. Die sozialistische Forderung nach Wirtschaftsdemokratie durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Selbstverwaltung der Arbeiter und Angestellten und Wirtschaftsplanung wird verkürzt auf den fragwürdigen Begriff der Mitbestimmung: „Unabdingbare Forderung und geistige Basis aller Bemühungen um die Demokratisierung der Wirtschaft muß es sein, daß aus dem Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln — aber auch aus der Verfügungsgewalt darüber — keine Herrschaftsgewalt über Menschen ableitbar ist“ (S. 76). Wie man die herrschende Klasse dazu bringen kann, ihre Macht nicht zu gebrauchen, ohne ihr deren Basis zu entziehen, bleibt unklar.

Kienzl

Aber es kommt noch besser. Heinz Kienzl, Generaldirektor-Stellvertreter der Oesterreichischen Nationalbank, wagt den Ritt über den Bodensee. Er konstatiert, Österreich befinde sich bereits jenseits des Kapitalismus. Freilich ist es ihm platterdings unmöglich, von Sozialismus zu sprechen; so führt er den Begriff „Labourismus“ zur Beschreibung unseres Wirtschaftssystems ein. Kienzl meint, es sei Grund genug, daß „35 Prozent des Bruttonationalprodukts ... im nichtprivatkapitalistischen Sektor der österreichischen Wirtschaft“ (S. 109) hergestellt werden, um von einer Überwindung des Kapitalismus zu sprechen. Er sieht davon ab, daß es die kapitalistischen Strukturen sind, die auch die Sektoren des Staates und der verstaatlichten Banken prägen.

Der Salto mortale des Autors ist gut gemeint, mißglückt aber, weil ihm nicht mehr gelingt als die Beschreibung von Aspekten der gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklung: „Ich glaube, daß wir bereits heute sechs wichtige Grundströmungen erkennen können, und zwar Planung der Wirtschaft, Dynamisierung der Wirtschaft, Industrialisierung, Steigerung der Mobilität, Urbanisierung und Internationalisierung“ (S. 116). Die SPÖ braucht nun nach Kienzl bloß diese Tendenzen des ökonomischen Fortsehritts „in gesellschaftlichen Fortschritt um(-zu-)setzen“.

Nach dem zündenden Gedanken zu Beginn seines Beitrages gibt der Autor eine konventionelle Beschreibung von Gegenwart und Zukunft unter technokratischen Vorzeichen. So nebenbei fällt ein recht interessantes Finanzierungskonzept für die sozialdemokratischen Reformen ab: „Sollen die Gemeinschaftsleistungen erbracht werden, kann der Warenkonsum weniger rasch steigen, das heißt, die Steuerbelastung muß größer werden. Dies scheint möglich zu sein, und das erfordert ein radikales Umdenken der Sozialdemokratie, die noch an steuerpolitischen Idealen des 19. Jahrhunderts klebt“ (S. 124). Der stellvertretende Generaldirektor der Oesterreichischen Nationalbank empfiehlt seiner Partei also Finanzierung durch Geldentwertung, ein Ratschlag, der angesichts der Preislage auf offene Ohren stoßen dürfte.

Leser, Werbik

Norbert Leser und Hans Werbik, die Universitätsprofessoren unter den Autoren, passen sich dem Niveau des Bandes an.

Leser vertritt die Auffassung, die moderne Entwicklung der Gesellschaft lasse zentrale Momente der sozialistischen Strategie überholt erscheinen. Im wesentlichen reklamiert er für die SPÖ die Fortsetzung des liberalen Erbes. Leitbegriffe seiner Darstellung sind ebenfalls Demokratisierung und Humanisierung. Leser stellt ferner dar, wie die SPÖ nicht sein darf: weder marxistisch noch selbstgefällig; sie hat „auf die Durchdringung der österreichischen Gesellschaft mit Elementen des Sozialismus hinzuarbeiten“ (S. 146). Der Autor fragt immerhin, „warum das Subjekt (die SPÖ — l. h.) dieser Veränderung nicht selbst auf die Erhaltungswürdigkeit seiner Formen untersucht werden soll“ (S. 159).

Hans Werbik sieht hingegen im Modell der „Consensus-Demokratie“ den Zugang zu einer idealen Gesellschaft. Es beruht auf der Erkenntnis, daß die westeuropäischen Gesellschaften ihren Klassencharakter abgelegt haben und daß daher eine prästabilisierte Harmonie der Gesellschaft aktiviert werden kann, wenn es gelingt, divergierende Absichten und Zielsetzungen verschiedener Interessengruppen zu harmonisieren.

Werbik schlägt zu diesem Zweck ein formales Schema vor, das die Aufgabe hat, „die in der Ausgangssituation miteinander unverträglichen Zielsetzungen durch Rede miteinander verträglich zu machen“ (S. 165). Das Modell stützt sich auf folgende grundlegende Prämissen:

1. Jeder vorgetragene Zweck soll zur Beratung zugelassen werden. ... 2. Jeder vorgetragene Zweck z soll als Mittel für einen bestimmten übergeordneten Zweck (Oberzweck) Z verstanden werden. ... 3. ... Es soll dann für jeden geäußerten Zweck z ein anderer Zweck z+ gesucht werden, der ebenfalls ein geeignetes Mittel für die Erreichung des übergeordneten Zweck Z ist, wobei aber die Realisierung von z+ mit dem System der Zwecke der übrigen Beratungsteilnehmer verträglich ist. ... Bei diesem Transformationsverfahren soll die Leichtigkeit des Übergangs von z+ berücksichtigt werden, indem mit der Transformation derjenigen Zwecke begonnen wird, deren Transformation leicht ist.

(S. 165 f.)

Werbik führt als weitere Voraussetzung eine tiefgreifende Parlamentsreform an: Jeder Wahlwerber habe für sich mit eigener Plattform und einem Spektrum an Zwecken zu werben und sei im Parlament mit einem Veto auszustatten. Beschlüsse können nur mit totaler Übereinstimmung gefaßt werden. Ob dem Autor bewußt ist, daß er mit diesem Modell zum Ideologen der Verbandsdemokratie wird, ist unklar. Indem er sich dem Glauben hingibt, Reden bringe die Leute zusammen, formalisiert er das Modell der „sozialen Partnerschaft“; aber vermutlich hat er recht, wenn er die Regierungstätigkeit der SPÖ als Übergang zur offenen Machtergreifung der Verbände und Interessengruppen ansieht.

Die referierten Beiträge des Buches „Rote Markierungen“ sind Keime einer Rechtfertigungsideologie der SPÖ. Verschleiert soll damit werden, daß die einzige Grundlage der sozial-demokratischen Regierungstätigkeit der Zwang zur Sozialisierung von Kosten ist, die bei der „Modernisierung Österreichs“ anfallen, vom privaten Kapital aber nicht getragen werden. Dieses Krisenmanagement der SPÖ wurde notwendig, well es konservativen Parteien nicht gelingen kann, diese Kosten den Lohnabhängigen zusätzlich aufzuhalsen. Eine Partei, welche sich darauf beschränkt, liberale Reformen nachzuholen, kann keine sozialistische Strategie für sich reklamieren, wie das Blecha und Genossen tun. Das sozial-demokratische Nachziehverfahren in Österreich bereitet nicht einer „sozialistischen Evolution“ den Weg, sondern dient bloß der Effizienzsteigerung des Kapitalismus.

Der eigentümliche Charakter der Sozial-Demokratie faßt sich dahin zusammen, daß demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln.

(Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte; in: Marx/Engels, Ausgewählte Werke, Moskau 1971, S. 124)

Anstatt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie der Antagonismus Kapital/Lohnarbeit aufgehoben werden kann, was anderswo versucht wird (vgl. „Französische Sozialdemokraten über Wirtschaftsdemokratie“ in diesem Heft), wiegt sich die SPÖ in der Illusion, der Sozialismus sei ihr bereits auf den Kopf gefallen. Die Gefahren, die darin liegen, gehen aus der Haltung der Sozial-Demokraten zur gegenwärtigen Preiskrise hervor. Anstatt die politisch-ökonomischen Ursachen des Dilemmas in einer gut vorbereiteten Kampagne zu enthüllen, läßt man sich auf eine immanente Diskussion ein und sieht sich so, den Schwarzen Peter in Händen, auf das unzureichende wirtschaftspolitische Instrumentarium der bürgerlichen Ökonomie beschränkt. Damit macht sich die SPÖ zum Komplizen des Privatkapitals und beraubt sich jeder Möglichkeit, bei einer Verschärfung der inflationären Tendenzen die Interessen der lohnabhängigen Massen zu wahren.

Herrmann

Fritz Herrmanns Artikel mit dem Imperativ „Einen sozialistischen Kulturbegriff entwickeln“ als Titel nimmt sich im Reigen der übrigen Beiträge als Fremdkörper aus. Der Autor arbeitet konsequent das Versagen der sozialdemokratischen Kulturpolitik heraus. Seine Perspektiven gehen aus von einer zutreffenden Einschätzung des Spätkapitalismus. Im Gegensatz zu seinen Partnern sieht er keine Aspekte sozialistischer Evolution in dieser Gesellschaft; statt dessen beschreibt er konsequent die Ablösung der materiellen durch die menschliche Verelendung:

Im Kapitalismus, gestern wie heute, bedient das arbeitende Individuum, ob sechzehn, zehn oder acht Stunden am Tag, den Mechanismus der Erzeugung von Tauschwerten, also von dem, was optisch als Ware in Erscheinung tritt ... Deren Hauptziel besteht vielmehr darin, daß das den Produktionsprozeß treibende Element, das Kapital, ..., vermehrt wird.

(S. 86)

Und weiter:

Und da der heutige Mensch im Gefühl dieses Außer-sich-Seins viele Stunden am Tag arbeitend verbringt, steht er schließlich sich selbst, seiner menschlichen Existenz, fremd gegenüber. Die materielle und geistige Kultur, die auf seiner Arbeit beruht, kann er ebensowenig als die seine wiedererkennen. ... Alles wird zur Ware. Mit Gefühlen wird gehandelt.

(S. 87)

Später schließt Herrmann daran die Frage: „Wie aber also soll sich die Idee einer sozialistischen Kultur als einer maximalen Erfüllung menschlichen Lebens je verwirklichen?“ Eine vorläufige Antwort gibt er selbst: „Jeder Versuch dazu, wo immer er in einem Land unternommen wird, wird wahrscheinlich korrumpiert, solange der Kapitalismus auf der Welt eine beherrschende Position einnimmt, solange er den Individuen mit seiner durch Warenfülle belegten Gegenidee vom absoluten Wert von Arbeit und Leistung imponieren kann“ (S. 89).

Der Autor sieht den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Kultur ganz klar. Die Entwicklung einer sozialistischen Kultur ist demnach nur im Zusammenhang mit einer entsprechenden Entwicklung der wirtschaftlichen Basis möglich. Vorläufig muß sich der Kulturreferent im Unterrichtsministerium aber damit begnügen, für sozialkritische und experimentelle Kunstformen mehr Verständnis zu fordern.

Das Verhältnis von opportunistischen und kritischen Beiträgen des besprochenen Buches ist ein Index für die Chancen sozialistischer Perspektiven in der SPÖ.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1972
, Seite 25
Autor/inn/en:

Lutz Holzinger:

Jahrgang 1944, Dr. phil. (Germanistik), war Mitglied der KPÖ und Redakteur der Volksstimme sowie von Gründung bis Einstellung Chefredakteur des Salto. 1971/1973 war er Redaktionsmitglied des NEUEN FORVMS.

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