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Peter Gutjahr

Von Fröschen und von Skorpionen

Vier Dialoge und eine Zugabe

1.Dialog

Egokrücken

Alfred und Slobo in einem Wiener Gemeindebau.
Alfred, am Schreibtisch vor seinem Computer, spielt Schach, Slobo, mit einer Tasse Tee aus der Küche kommend setzt sich auf die Couch.

Slobo: „Alfred, dein Wasserhahn tropft.“

Alfred: „Erzähl mir etwas Neues.“

Slobo: „Ich hab da neulich gelesen, wie viel Wasser durch tropfende Wasserhähne verlorengeht. Du würdest es nicht glauben!“

Alfred: „Wir haben genug Wasser in Wien.“

Slobo: „Noch! Wenn am Semmering kein Schnee mehr fällt ist es damit vorbei! -
Apropos Schnee: Was hältst du von dieser Serie, du weißt schon, ‚Game of Thrones‘? Ich hab mir mit meiner Alten gestern eine Folge angeschaut, bei ihrer Schwester, die hat Sky, wir haben ja kein Sky, Jovanka war dagegen, wir hängen sowieso zu viel vor der Glotze, sagt sie. Und du kennst sie ja: wenn die -“

Alfred: „Verdammt!
Würdest du, bitte!, einen Moment die Klappe halten? Ich bin am Verlieren!“

Slobo: „Du verlierst doch immer.“

Alfred: „Stimmt nicht. Gestern hab ich zwei Partien gewonnen.“

Slobo: „Na, stell dir vor! Zwei von wie vielen? -Ich versteh ja echt nicht, warum du deine Zeit mit Schachspielen vergeudest. Du bist ein lausiger Schachspieler, und du weißt es. Du kannst spielen, sooft du willst, es wird nie ein Großmeister aus dir werden. Fällt dir nichts Besseres ein, dir die Zeit zu vertreiben?“

Alfred: „Und was zum Beispiel?“

Slobo: „Du könntest lesen. Oder schreiben! Wie lange hast du nichts mehr geschrieben? Fünf Jahre? Zehn?“

Alfred: „Schreiben! Ich wüsste nicht, was.“

Slobo: „Na, zum Beispiel, was du über unsere Zukunft gesagt hast, das ,Bottelneck-Disaster‘, du erinnerst dich?“

Alfred: „Ich bin ja nicht senil! Noch nicht!“

Slobo: „Ich mein ja nur! Das Szenarium des Untergangs der bürgerlichen Zivilisation, das würde die Leute bestimmt interessieren!“

Alfred: „Na, sicher! Das, und die Zombie-Apokalypse!
Sollte ich je wieder etwas schreiben, dann mit Sicherheit keine Tragödie. Und überhaupt! Das sind doch alles Trottel, die Leute! Schau dich doch um: lauter Idioten! Um die ist nicht schad. Um die nicht! -
Scheiße!“

Slobo: „Was?“

Alfred: „Verloren!“

Slobo: „Sag ich ja! Du hast kein Talent fürs Schach.“

Alfred: „Ach, leck mich!“

Slobo: „Leck dich selber!“

Alfred: „Du mich auch!“

Pause. Slobo greift nach einer dampfenden Tasse Tee.

Slobo: „Jebemti!“

Alfred: „Was ist denn?“

Slobo: „Vruc!!“

Alfred: „Heast, Slobo! Red deitsch!“

Slobo: „Is, was du redest, vielleicht a deitsch? -Warum lernst du nicht meine Sprache? Da hättest du was zu tun!“ Alfred: „Ja freilich! Soweit kommt‘s noch!“

Slobo: „Was? Ist sich der Österreicher zu schad, eine Fremdsprache zu lernen?“

Alfred: „Was soll ich lernen Tschuschisch? Englisch kann ich. Und Spanisch krieg ich auch ein paar Sätze hin. Aber Tschuschisch? Was soll ein Mensch mit – wie heißt das noch in politisch korrekt?“

Slobo: „Serbokroatisch! Ich bin Serbe, falls du das vergessen hast! Und bei uns in Serbien spricht man nicht Tschuschisch, sondern Serbokroatisch!“

Alfred: „Bei uns?- in Serbien?? Wir sind hier in Österreich, nicht in Serbien. Und in Österreich spricht man Deutsch!“

Slobo: „Ah, ja? Dann mach doch schnell einmal das Fenster auf! Was hörst du dann?“

Alfred: „Auf jeden Fall kein Deutsch!“

Slobo: „Genau! Du hörst mehr Serbokroatisch, Türkisch, Slowenisch, Bulgarisch, Rumänisch und Arabisch als Deutsch. Weil hier mehr von uns leben, als von euch! Genaugenommen redet hier überhaupt niemand Deutsch. Deitsch, das ja, so reden die im vorigen Jahrhundert eingewanderten Tschechen, aber Deutsch? Deutsch hörst du hier doch nurmehrnoch im Fernsehn.“

Alfred: „Willst du mir damit auf deine subtile Art beibringen, dass ich hier der Ausländer bin? Ist es das, was du mir sagen willst?“

Slobo: „Alfred, lass das! Du weißt, worum es mir geht!“

Alfred: „Nein. Das weiß ich nicht! Und es wär mir sehr lieb, würdest du es mir erklären, Slobo!“

Slobo: „Was ich sagen will ist das:
Eure Platzhirschallüren, liebe Österreicher, sind hier draußen in der Vorstadt fehl am Platz! Findet euch endlich damit ab: Wir sind hier weder Türken, noch Serben, noch Kroaten, noch - “

Alfred: „noch Inder, Pakistani, Chinesen, Nigerianer...“

Slobo: „...sondern Nachbarn. Schlicht – Nachbarn!“

Alfred: „Nachbarn! -Schöne Nachbarschaft! Lauter Kameltreiber und Tschuschen“

Slobo: „Weißt du, was du bist? Ein Chauvinist!“

Alfred: „Und du? Ein Sozialdemokrat!“

Slobo: „Rassist!“

Alfred: „Gutmensch!“

Slobo: „Nazi!“

Alfred: „Pazifist!“

Slobo: „Nihilist!“

Alfred: „Du – du.. Mir fällt nichts mehr ein.“

Slobo: „Mir auch nicht. – Umarmung?“

Alfred: „Untersteh dich!“

Beide lachen.

Pause.

Slobo schlürft seinen Tee und blättert in seinem Magazin. Alfred steht auf und geht zum Fenster, öffnet es und schaut hinaus.

Alfred: „Die Idioten haben den Rasen schon wieder bis auf die Narbe abgemäht. Warum können sie das Zeug nicht einfach wachsen lassen? Alles Zwangsneurotiker! Fetischisten! - Weißt du übrigens, dass wir mehr als 70 Prozent unserer Arbeitsleistung in die Produktion von Waren und Dienstleitungen investieren, die rein unserem Fetischismus dienen?

Allein dieser beschissene Individualverkehr! Wenn man sich vorstellt, was wir nur ans Auto verschwenden! Oder diese Handys! Wer, zum Teufel, braucht denn wirklich ein Handy!? Alles Egokrücken!“

Slobo: „Egokrücke! Das ist gut, das passt! Zum Beispiel der Emre, du weißt schon, der glatzerte Türke von der Achterstiege, der immer daherkommt wie ein prämierter Zuchtbulle mit seinen Tattoos und Piercings und dabei stinkt wie eine arabische Schwuchtel. Der hat sich bis über beide Ohren verschuldet, nur, um sich den protzigen BMW zu kaufen, mit dem er dann am Abend nach seiner Zwölfstundenschicht in der Druckerei, wo er neuerdings arbeitet. –“

Alfred: „Ja, kenn ich. Ein widerlicher Kerl.“

Pause. Alfred schließt das Fenster und setzt sich wieder an den Computer, beginnt ein neues Spiel. Slobo blättert in seinem Magazin. Er langweilt sich.

Slobo: „Alfred? Sag, hast du zufällig ein Bier im Haus?“

Alfred: „Nö. Ich hab nie Alkohol im Haus. Tut mir leid.“

Slobo: „Was? Aber du trinkst doch? Ich hab dich doch erst neulich bei Slavica getroffen, da hattest du ganz schön einen sitzen!“

Alfred: „Ich trinke nur selten, und nur außer Haus. Daheim bin ich trocken.“

Slobo: „Wirklich? Ich dachte, du bist Alkoholiker.“

Alfred: „Bin ich auch. Ich trinke zwar selten, und nur wenn ich in der Öffentlichkeit bin, dann aber immer zu viel. Es entsteht so wohl der Eindruck, dass ich immer trinke, das ist aber nicht wahr. Ich trinke nur in der Öffentlichkeit.“

Slobo: „Merkwürdig.“

Alfred: „Ich bin eben ein Soziopath. Ich kann nüchtern mit den Leuten nichts anfangen, nüchtern geh‘n sie mir nur auf den Wecker.“

Slobo: „Ja. Das hab ich schon begriffen: du magst die Menschen nicht.“

Alfred: „Stimmt nicht. Manche sind mir sympathisch. Mehr oder weniger.“

Slobo: „Verstehe. Deshalb sitzt du lieber die ganze Zeit vor dem Computer, als unter die Leute zu gehen.“

Alfred: „Stimmt genau.“

Slobo: „Wenn das so ist, dann geh ich wohl besser.“

Alfred: „Krieg dich ein, Slobo! So war das nicht gemeint. Es ist nur so, dass ich nicht herumsitzen kann und quatschen. Ich muss mich beschäftigen.“

Slobo: „Dann frag ich mich, warum du mich eingeladen hast?“

Alfred: „Ich hab dich nicht eingeladen. Du hast mich gefragt, ob du mich einmal besuchen kannst, und ich hab nicht nein gesagt.“

Slobo: „Ja, stimmt. Ich war neugierig. Da kennen wir uns schon so lang, und doch hatte ich das Gefühl, dich gar nicht zu kennen. Ich wollte einfach wissen, wie du lebst.“

Alfred: „Jetzt weißt du’s.“

Slobo: „Ja. Jetzt weiß ich’s“

Alfred: „Ich bin ein ganz gewöhnlicher, langweiliger Mensch, der ein ganz gewöhnliches, langweiliges Leben führt.“

Slobo: „Der seine Zeit mit lieber mit Computerspielen verbringt, als mit anderen Menschen zu kommunizieren.“

Alfred: „Kommunizieren!“

Slobo: „Ja. Reden, quatschen, sich austauschen! Normale Menschen tun so etwas!“

Alfred: „Ich bin nicht ‚normal‘! - Was liest du da überhaupt? Was ist das?“

Slobo: „Das? Das hab ich vorhin in der Trafik gekauft. Hat mich interessiert. Nennt sich ‚Paroles – Magazin für Literatur und Philosophie‘.“

Alfred: „Ah.“

Slobo: „Ist ganz interessant. Da ist zum Beispiel ein Artikel über Sartres Existenzialismus: ‚Sartre und das Nichts‘. Würde dich auch interessieren.“

Alfred: „Quatsch! Ich hab Sartre gelesen! Auf über hundert Seiten schlägt er sich mit der Frage herum, ob es das ‚Nichts‘ nun gibt, oder nicht, ohne am Ende mehr als Sätze zustande zu bringen wie diesen: ‚Pierre ist nicht hier. Das ist eine Tatsache. Das heißt, die Nichtexistenz Pierre‘s in diesem Café ist real, hat Existenz.‘ -So in etwa.“

Slobo: „Versteht ich nicht.“

Alfred: „Damit will Sartre sagen, dass das Nichtvorhandensein von etwas eine Tatsache wie jede andere ist, daher das Nichts also als existent betrachtet werden muss.“

Slobo: „Und du glaubst nicht, dass es ein Nichts gibt?“

Alfred: „Ich glaube nicht, Slobo! Ich weiß, oder ich weiß nicht.“

Slobo: „Aha. Und woher weißt du so genau, dass es kein Nichts gibt?“

Alfred: „Logik, Slobo! Logik!“

Slobo: „Ich höre –“

Alfred: „Das ist doch ganz einfach: Das Sein ist das Seiende. Wo nichts existiert, da existiert auch kein Sein. Fazit: Ein Nichts existiert nicht.“

Slobo: „Alfred, manchmal denk ich, du bist ein Genie!“

Alfred: „Ach was! Einstein war ein Genie - ich denke nur gelegentlich nach, das ist alles.“

Pause. Slobo denkt nach. Alfred geht in die Küche und kommt mit einem Krug und zwei Gläsern zurück. Er stellt den Krug und die Gläser auf den Couchtisch und füllt ein Glas mit einer trüben bräunlichen Flüssigkeit.

Alfred: „Es ist alles eine Frage der Konzentration.“

Slobo: „Was ist das?“

Alfred: „Apfelsaft. Mach ich selber. Zwei Drittel Saft, naturtrüb aus biologisch angebauten steirischen Äpfeln, ein Drittel gutes Wiener Leitungswasser, eine Prise Ingwer. Magst du? Sehr gesund.“

Slobo, skeptisch bejaht. Alfred füllt das zweite Glas und setzt sich neben Slobo auf die Couch. Sie trinken.

Alfred: „Na? Was sagst du?“

Slobo: „Nicht schlecht. Vielleicht ein bisschen zu ‚naturtrüb‘. Sollte man vielleicht abseihen, bevor man es serviert.“

Alfred: „Abseihen? Bist du verrückt?? Das sind wertvolle Ballaststoffe, Mann!“

Slobo: „Es fühlt sich merkwürdig an auf der Zunge.“

Alfred: „Logisch. Ist ja alles drin, der ganze Apfel mit Putz und Stingl!“

Slobo: „Es setzt sich, wenn man es ein bisschen stehen lässt.“

Alfred: „Das Meiste ist da gar nicht mehr drin. Daraus mach ich, mit ein wenig Zimt gewürzt,

Apfelmus.“

Slobo, hält sein Glas gegen das Licht: „Gesund ist es ja...“

Er steht auf und geht mit dem Glas zum Fenster, wirft einen Blick hinaus. Draußen neigt sich unter einem grauen, wolkenschweren Himmel der Nachmittag einem frühen Abend entgegen. Der weitläufige Innenhof des Gemeindebaus liegt verlassen und kahl im prosaischen Licht des verblassenden Tages.
Nach einer kleinen Weile-

Slobo: „Trotzdem.“

Alfred, ein wenig gekränkt ob der mangelnden Begeisterung seines Gastes für seinen gesunden Apfelsaft:
„Lass ihn stehen, wenn du ihn nicht magst!“

Slobo: „Nein, nicht das. Mir geht noch immer dein ‚Nichts‘ durch den Kopf. Mir ist das noch nicht ganz klar.“

Alfred: „Was denn?“

Slobo: „Ich meine, dass Pierre nicht im Café ist, ist doch eine Tatsache? Ist die Welt nicht, wie Wittgenstein gesagt hat, ‚das Ensemble der Tatsachen‘ ?“

Alfred: „Hat Wittgenstein das wirklich so gesagt? Das ‚Ensemble der Tatsachen‘? - Egal! Jedenfalls: auf dieses Problem hat Popper eine befriedigende Antwort gegeben. Nachzulesen in ‚Objektive Erkenntnis‘, wenn ich mich nicht irre.“

Slobo: „?“

Alfred: „Popper unterscheidet drei Klassen von Tatsachen, die drei unterschiedlichen ‚Welten‘ angehören.
Die erste Welt ist die Welt der sinnlich erfahrbaren Tatsachen. Das ist die, in der wir, wie alles Andere, körperlich existieren.
Die zweite Welt ist die des Möglichen. Diese Welt existiert nicht als physische Realität, stellt aber jenen ‚Raum‘ dar, in den das Sein werden kann. Jenseits des Möglichen keine Realität, kapiert?
Die dritte Welt ist die Welt der Ideen. In diese Welt gehört alles hinein, was aktuell in irgendwelchen Köpfen herumspukt an Ideen, Vorstellungen und Visionen.
Diese Ideen sind als solche zwar real, aber sie existieren, ob realistisch oder phantastisch, nur in den Köpfen der imaginierenden Personen. Sartres nicht anwesender Pierre gehört in diese Welt.“

Slobo: „Interessant. Leuchtet ein. Wie heißt der nochmal? Popper?“

Alfred: „Sir Karl Popper. Da oben bei den Philosophen.“

Slobo: „Ah, ja, da ist er ja . Karl Popper. Aristoteles. Platon. Descartes, Spinoza, Leibnitz -eine erstaunliche Bibliothek, die du da hast. Wie viele Bücher sind das?“

Alfred: „Weiß nicht genau. Etwa zweihundert, schätz ich.“

Slobo: „Alle gelesen?“

Alfred: „Nicht jede Seite. Man muss diese Wälzer nicht unbedingt Seite für Seite gelesen haben. Es genügt, wenn man die wichtigsten Thesen verstanden hat. Ist ja auch alles Schnee von gestern inzwischen.“

Slobo: „Lauter große Namen: Kant, Hegel, Schopenhauer. Und da: Nietzsche und Marx friedlich vereint!“

Alfred: „Ja, im Bücherregal geht das.“

Slobo: „Und jede Menge Literatur – Hamsun, Kafka, Dostojewski seh’ ich da, Bukowski, Beckett, Brecht – hast du ein System, wie du deine Bücher auswählst?“

Alfred: „Eine so kleine Bibliothek kann natürlich nie vollständig sein. Da fehlt Vieles von dem, was ich sehr schätze. Aber mit Ausnahme von mir selbst steht in diesen Regalen nur Erstklassiges.“

Slobo: „Mit Ausnahme von dir selbst? Ich bin beeindruckt! Soviel Bescheidenheit sieht man selten bei euch ‚Künstlern‘!“

Alfred: „Das ist nicht Bescheidenheit, sondern Selbstschutz. Ich würde mich lächerlich machen mit der Behauptung, ein begnadeter Schriftsteller zu sein.“

Slobo: „Stimmt. Aber ganz ohne Talent bist du auch nicht. Dein ‚Freund der Niederlagen‘ ist bestimmt nicht das schlechteste Buch, das ich gelesen habe.“

Alfred: „Sicher. Im Vergleich mit dem ganzen Mist, den dieser Flohzirkus der abertausend ‚Talentierten‘ abscheidet bin ich nicht das Letzte. Aber dass ich zu denen da in meinen Regalen gehöre behaupte ich nicht einmal, wenn ich besoffen bin!“

Pause.
Slobo überfliegt die kleine Bibliothek, nimmt da und dort ein Buch heraus, stellt es wieder zurück. Alfred dreht sich eine Zigarette.

Slobo: „Und das hast du alles gelesen?“

Alfred: „Das, und noch ein paar Hundert andere.“

Slobo: „Für jemanden, der keine höhere Schulbildung hat ist deine Belesenheit erstaunlich.“

Alfred: „Ich habe immer viel gelesen.
Als Kind war es mir eine Möglichkeit, meiner unerfreulichen Gegenwart zu entfliehen.
Später bekam mein Lesen immer mehr kompensatorischen Charakter.“

Slobo: „Wie? Versteh ich nicht. Du hast gelesen, um was zu kompensieren?“

Alfred: „Was schon! Meine Minderwertigkeit!“

Slobo: „Verstehe. Deine Bibliothek ist also auch sowas wie -“

Alfred: „ - eine Egokrücke, ja. Gewesen. Heute ist sie mir nur mehr noch Dekoration.“

Pause.
Alfred raucht, blättert in dem Magazin. Slobo, im Begriff, sich wieder auf die Couch zu setzen, wirft im Vorbeigehen einen Blick auf die Stellung des Schachspiels auf dem Bildschirm des auf Eingabe wartenden Computers.
Er lächelt, schüttelt den Kopf, setzt sich dann neben Alfred auf die Couch und lässt seinen Blick durch das kleine, mit Kommoden, Regalen, Grünpflanzen und einem schmalen, ungemachten Bett überfüllte, von der Patina unzähliger Zigaretten gedunkelte Zimmer Alfreds schweifen. Nach einer keinen Weile-

Slobo: „Schade, dass du nicht studiert hast.“

Alfred: „Ja, vielleicht. Hat nicht sollen sein.“

Slobo: „Könntest du immer noch! Du bist noch keine Siebzig!“

Alfred: „Quatsch! Wozu? Ich hab doch nicht einmal die Matura!“

Slobo: „Du könntest dich als Gasthörer inskribieren! Wie wär’s mit ein paar Semestern Philosophie?“

Alfred: „Hör auf, Slobo! Philosophie! Als ob diese Lehrstuhlphilosophen mir etwas erzählen könnten, was ich noch nicht weiß! Und überhaupt: wozu? Die Fragen, die ich als junger Mensch hatte habe ich alle beantwortet. Es gibt nichts mehr, was mich noch interessiert.“

Slobo: „Nichts mehr? Wirklich? Da ist nichts mehr, was du noch wissen, was du noch lernen möchtest?“

Alfred: „Nein. Höchstens noch die Kosmologie. Ich würde zu gern verstehen, wo genau der Fehler in ihrem Gebäude liegt. Ich habe eine Ahnung, weiß aber nicht, wie ich meine vage These beweisen könnte. Ich weiß einfach zu wenig über ihre Mathematik. Das, ja, könnte mich noch interessieren.“

Slobo: „Na, also! Los dann! Worauf wartest du?“

Alfred: „Unsinn! Wozu? Irgendwann wird jemand kommen, der es kann. Irgendwann wird Einstein von einem neuen Stern am Himmel der ewigen Bestenliste korrigiert und Platon auch aus der Kosmologie vertrieben. Ich bin dafür nicht der Mann. Meine Talente sind für so einen Wurf zu bescheiden.“

Slobo: „Warum glaubst du das? Du bist intelligent, du bist kreativ, und du hast eine präzise Frage, die du beantwortet haben willst! Also, warum versuchst du es nicht?“

Alfred: „Weil es dafür nicht reicht. Ich bin nicht halb so intelligent, wie du glaubst. Mein Gehirn arbeitet langsam, meine Konzentrationsfähigkeit ist begrenzt, mein Gedächtnis mehr als mangelhaft. Und, was noch wichtiger ist: Mein Charakter, meine Persönlichkeit taugt nicht zu Großem.

Ich hab einfach nicht das Zeug dafür, jemand zu werden, der ich nicht bin.“

Slobo: „Unsinn, Alfred! Du könntest so viel mehr aus dir machen – es muss ja nicht gleich ein Stern am Himmel der Unsterblichen sein! Aber lieber schlägst du deine Zeit mit Computerspielen tot, als dich anzustrengen und ein Werk zu schaffen, das deinen, und sei es auch limitierten, Talenten entspricht!“

Alfred, steht auf und geht mit einer Geste kategorischer Ablehnung zum Fenster:

„Ich bitte dich, Slobo! Hör endlich auf damit! Du gehst mir echt auf den Geist!“

Er schaut einen Augenblick in den kahl und grau daliegenden Innenhof hinunter, geht dann zurück zum Computertisch, setzt sich. Ruhiger

Alfred: „Ich bin ganz zufrieden damit, wie es ist. Niemand will etwas von mir, und ich will auch von keinem was. Das ist es, was ich immer wollte: Zufriedenheit. Ruhe. Warum könnt ihr es nicht einfach dabei belassen?!“

Kleine Pause. Slobo schließlich, beruhigend

Slobo: „Ich frag mich nur, warum du so wenig Ehrgeiz hast? Du könntest immerhin jemand sein, der mitzureden hat!“

Alfred: „Ah, ja? Und wozu? Noch so ein Schreihals, der seine unerheblich Meinung ins Gewühl der Menge schreit?“

Slobo: „Dein Defätismus, Alfred, ist obszön! Hast du denn überhaupt kein Verantwortungsgefühl? Du gehst, wie ich höre, nicht einmal zur Wahl!“

Alfred: „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.“

Slobo: „Sprüche! Immer kommst du mit deinen zynischen Sprüchen, wenn jemand ein bisschen Engagement und Verantwortung von dir fordert!“

Alfred: „Verantwortung? Wofür? Etwa für die Mischpoche, die du Menschheit nennst?“

Slobo: „Gleich hau ich dir Eine!“

Alfred: „Oho! Das also wäre dann wohl deine ‚Verantwortung‘, dein ‚Engagement‘! ‚Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt ...‘. Oh, ihr Idealisten! Ihr seid doch die wahre Pest!“

Slobo: „Also, echt! Das ist mir zu blöd jetzt. Und ich lass mich von dir Arsch auch noch provozieren! Wenn ich nicht wüsste, wie du wirklich denkst - .“

Alfred: „Da weißt du mehr als ich.“

2.Dialog

Der göttliche Algorithmus

Später. Slobo liegt auf der Couch hört über Kopfhörer Musik. Alfred sitzt wieder am Computer und spielt Schach. Slobo summt eine Melodie. Indem er die Kopfhörer abnimmt –

Slobo: „He, Alfred, erinnerst du dich noch?“

Alfred: „Woran soll ich mich erinnern?“

Slobo: „An dieses Lied, hör zu: ‚a workingclass hero is something to be-he‘ - ?“

Alfred: „Nein.“

Slobo: „Mir fällt der Name der Sängerin nicht ein. War einmal sehr bekannt, hatte eine

unverkennbare, rauchige Stimme – da dada da dada da dada dada - Na?“

Alfred: „Bedaure, kenn ich nicht.“

Slobo: „Aber du hast den Song doch hier in deinem Musikdings da.“

Alfred, lacht: „Das ‚Musikdings‘ nennt sich ‚MP3-Player‘, du Dinosaurier!“

Slobo: „Ist doch egal, wie es heißt, Hauptsache, es spielt Musik! - Wie viel geht da überhaupt drauf?“

Alfred: „weiß nicht genau. Ein paar Gigabyte.“

Slobo: „Und wie viel ist das, in Musik? Eine ganze CD?“

Alfred: „Da kriegst du zehn, vielleicht zwanzig CDs drauf. - Warum fragst du?“

Slobo: „Schon erstaunlich. Zehn CDs, und alles nur Nullen und Einsen! Manchmal frag ich mich, warum diese Elektronen alle tun, was wir von ihnen wollen? Warum die nicht einfach ausbüchsen? Irgendwo anders hin springen?“

Alfred: „Was? Slobo, du bist wirklich ein technischer Neandertaler! Ausbüchsen!“

Slobo: „Naja, warum nicht? Wär doch möglich!“

Alfred: „Wär es eben nicht! Elektronen haben keinen Willen und keine Wahl. Sie verhalten sich so, wie sie es entsprechend ihren Eigenschaften müssen.

Der Trick ist, ihre Umgebung so zu gestalten, dass sie nicht anders können, als zu tun, was wir wollen. Das ist eben das menschliche Genie: wir nutzen die Naturgesetze, um der Natur unseren Willen aufzuzwingen. Deshalb sind wir die Chefs, und die Elektronen müssen tun, was wir wollen – wir schlagen die Natur sozusagen mit ihren eigenen Waffen.“

Slobo: „Trotzdem –“

Alfred schüttelt in gespielter Resignation den Kopf und wendet sich wieder seinem Spiel zu.

Slobo steckt sich die Ohrstöpsel wieder in die Gehörgänge und legt sich, das schwarze Kästchen in seiner Hand betrachtend, zurück aufs Sofa.

Nach einer Weile, Slobo entstöpselt sich, legt das Musikdings auf den Tisch –

Slobo: „Eigentlich ist die Natur perfekt eingerichtet.“

Alfred, grübelnd, nebenbei: „Hm.“

Slobo: „Alle Dinge haben ihren Platz und erfüllen ihren Zweck. Eins greift ins Andere, und alles zusammen ist eine große, wunderbare Maschinerie.“

Alfred: „Maschinerie, klar.“

Slobo: „Manchmal frag ich mich, welchem Zweck wohl die Menschheit dient? Welchen höheren Sinn erfüllen wir, Alfred?“

Alfred: „Herrgott! Würdest du wohl endlich die Klappe halten? Ich muss mich konzentrieren!“

Slobo: „Nein, echt jetzt! Denkst du nie über die Bestimmung der Menschheit nach? Welchen, oder vielmehr: wessen Zwecken dienen wir? Von einer höheren Warte aus gesehen sind doch auch wir nur Natur und nicht wirklich frei, zu tun, was wir wollen.“

Alfred, wie vorhin: „Natur, klar.“

Slobo: „Vielleicht müssen auch wir ‚entsprechend unseren Eigenschaften‘ tun, was eine höhere Intelligenz von uns will?“

Alfred: „Analogien sind was für Stammtischphilosophen, Slobo!“

Slobo: „Glaubst du nicht, dass das möglich wäre?“

Alfred, indem er die Partie aufgibt und das Schachprogramm beendet, unwirsch:

„Ich sag dir, was ich glaube! Ich glaube, dass diese beschissene Maschine mich schon wieder geschlagen hat! Das glaube ich! Tatsachen, Logik, Slobo! Mathematik, Programmierung! Das ist alles, das ganze beschissene Geheimnis!“

Slobo: „Genau! Alles folgt vollkommen logisch einem geheimnisvollen, unserer beschränkten Intelligenz verborgenen Plan. – Weißt du, was ich glaube, Alfred? Ich glaube, Gott realisiert sich im Sein selbst als ‚der göttliche Algorithmus‘, der alles steuert und lenkt! Und die Evolution, die Evolution ist nichts anderes als das Ergebnis der genial in Bewegung gesetzten ‚Macchina ex Deum‘ sozusagen des Schöpfers.

Was hältst du davon?“

Alfred: „Heiliger Strohsack, Slobo! Krieg dich ein!“

Slobo: „Was denn? Was meinst du?“

Alfred: „Mensch! Denk nach! Wenn du einmal für einen Moment deine rosa Brille ablegst und aufhörst, Weihrauch zu schnüffeln, was siehst du dann?“

Slobo: „Einen schlechtgelaunten Nihilisten, der vergeblich versucht, ein Schachprogramm für Amateure zu besiegen.“

Alfred: „Ja, sehr gut! Du hast ja doch Humor! Aber im Ernst: Sollte euer Gott nicht das Absolute, in jeder Hinsicht vollkommene Wesen sein? Dann überleg doch einmal, wie seine Schöpfung zu einem vernünftigen und moralisch über jeden Zweifel erhabenen Wesen passt.

Ich war ein im Wald meiner Bergheimat herumstreunender Junge, als mir zum ersten mal Zweifel an der Vernunft der Natur kamen. Ich beobachtete einen Hirschkäfer, der sich verzweifelt damit abmühte, im unwegsamen Gelände zwischen Grasbüscheln und Tannennadeln voranzukommen. Während die hurtigen Ameisen mühelos über Stock und Stein dahinsausten, immer emsig damit beschäftigt, dem göttlichen Algorithmus zu entsprechen, verfing sich der arme Hirschkäfer ein ums andere Mal im Gestrüpp des Waldbodens. Warum, so fragte ich mich, hat die Evolution diese Käfer ein so gewaltiges Geweih entwickeln lassen? Außer, um damit vor den Weibchen zu protzen und allfällige Konkurrenten im anstrengenden Geschäft der Fortpflanzung aus dem Feld zu schlagen sind diese offensichtlich hinderlichen Absurditäten zu nichts gut. Sie erschweren dem armen Tier nur das Leben und kosten es eine Menge Energie.

Das Beispiel dieses bedauernswerten Käfers ist nur eines von unzähligen, die – insbesondere an der moralischen! – Vollkommenheit eures ‚Schöpfers‘ zweifeln lassen. Denn was ist am Ende das Dasein seiner Geschöpfe? Ein endloser Kampf ums Überleben! Seine ganze großartige Schöpfung ist doch ein einziges Massaker! Und das Schönste daran: Dieses ganze Fressen und Schlachten ist am Ende rein für die Katz. Niemand überlebt – ein toller Plan!“

Slobo: „Zugegeben: die Vorstellung eines gütigen Gottes, der das ganze Weltall erschaffen hat, nur um uns Menschen hervorzubringen in der Absicht, uns Gutes zu tun, ist naiv.“

Alfred: „Immerhin! Es scheint ein Funke Vernunft in deinem dunklen Geist zu glimmen.“

Slobo: „Andererseits lässt sich aber nicht leugnen, dass diese ganze ‚verschwenderische Ökonomie des Lebens‘ am Ende darauf hinausläuft, Intelligenz hervorzubringen. Insofern sind wir, bei aller Beschränktheit unserer kollektiven Intelligenz, Stand jetzt, der Höhepunkt der Evolution, soweit wir sie kennen.“

Alfred: „Du zitierst Nietzsche, um die Brutalität deines Schöpfers zu rechtfertigen? Bravo! Ich hätte nie vermutet, dass ein Machiavelli in dir steckt! Wenn ich an euch Kleinbürgern im Geiste eins verachte, dann diese Sucht, alles in eine Erzählung zu verwandeln, die von einem problematischen Anfang hin zu einem alles erklärenden, versöhnlichen Ende führt. Das ist Kitsch, Freund, nichts als Kitsch!“

Slobo: „Oh, ja! Wir Kleinbürger im Geiste! Wie originell! – Ihr Atheisten seid sehr kreativ, wenn es darum geht, uns, die wir an etwas glauben, als Idioten hinzustellen, aber mehr als euren Glauben habt auch ihr nicht zu bieten. Ihr glaubt an den Terror der Physik und eine sinnlose, einsame, trostlos kalte Welt, die mich allein lässt mit meinem unausweichlichen Tod.

Ich glaube, Kitsch hin oder her, an ein Leben nach dem Tod! Ich glaube daran, dass meine Existenz Teil eines großen, sinnvollen Geschehens ist. Ja, ich glaube! Und du?

Auch du glaubst doch nur! Zeig mir einen Beweis, dass an deinem trostlosen Glauben mehr dran ist, als an meinem! Na? Kannst du nicht! Eben! Da zieh’ ich im Zweifelsfall doch lieber meinen Glauben vor, der mir im Leben hilft, als deinen, der mir zu allem Übel auch noch das Messer in den Rücken stößt!“

Alfred: „Das geht mir jetzt aber wirklich langsam auf den Wecker! Hör zu, du Armer im Geiste: Jedes Kind weiß, dass Existenz oder Nichtexistenz eines Gottes, einer Seele, eines Jenseits nicht bewiesen werden kann. In diesen Fragen müssen wir alle glauben, da hast du recht. Wenn dir dein Glaube hilft, den Tod zu ertragen, bitte! Ich schreibe niemandem vor, was er glauben soll! – Problematisch wird die Sache für mich erst, wenn du behauptest, du wüsstest, was dein Gott will und du hättest den Auftrag, seinen Willen unter uns Menschen durchzusetzen. Da hört für mich der Spaß auf!“

Slobo: „Einverstanden. Religion ist Privatsache.“

Alfred: „Nein! Religion ist nicht! Privatsache! Glaube ist Privatsache – Religion ist Politik!“

Slobo: „Glaube, Religion – wo ist der Unterschied? Wenn euer Christenpapst eine Messe für, sagen wir – den Weltfrieden, liest, dann macht er doch keine Politik?“

Alfred: „Und wenn er gegen die Abtreibung predigt?“

Alfred verlässt den Computertisch und setzt sich Slobo gegenüber aufs Bett, beginnt, sich einen Joint zu drehen. Betont sachlich:

Alfred: „Glaube und Religion sind grundverschiedene Dinge, Slobo. Eine Religion ist immer auf einer Glaubensnorm gegründet. Und die Kirche, die diese Religion vertritt, ist die Normierungsanstalt. In allen Religionen übt der Klerus von allem Anfang an die Definitionsmacht aus und setzt seine Lesart dessen, was geglaubt werden soll, durch. Und das, ganz egal, wie friedfertig und fromm die Priester sich geben, durchaus auch mit roher Gewalt! Beweise dafür gibt es in der Geschichte zu Hauf. Sie hatten nie Skrupel, von ihrem Kanon abweichende Lehrmeinungen zu unterdrücken und Andersgläubige zu verfolgen und zu massakrieren. Woran die Priester im Einzelnen auch immer glauben mögen: dem Klerus geht es in allen Religionen nur um die Macht.“

Slobo: „Da ist was dran.“

Alfred: „Die Priester haben seit jeher mit der weltlichen Macht um die Vorherrschaft konkurriert. In den alten Zeiten, bevor es den Typus des starken Staates gab, waren sie die eigentlichen Herrscher und haben ihre Macht mit Terror bis hin zum Blutopfer durchgesetzt.“

Slobo: „Und dabei sich selber gemästet.“

Alfred: „Du sagst es.“

Slobo: „Meistens haben sie sich mit den Mächtigen verbündet. Die Mächtigen hatten das Schwert, sie ihre ‚Offenbarung‘.“

Alfred: „So ist es!“

Slobo: „Die nur sie auslegen durften.“

Alfred: „Das ist der Punkt!“

Slobo: „Sonst hochnotpeinliche Befragung.“

Alfred: „Scheiterhaufen.“

Slobo: „Kirchenbann.“

Pause. Slobo ist aufgestanden und geht in dem kleinen Zimmer herum, beschaut die an den Wänden hängenden Bilder, nimmt hier und da ein Buch aus einem Regal, blättert darin. Alfred macht es sich auf dem Bett bequem, zündet seinen Joint an, hustet, raucht.

Slobo: „Das ist schlau.“

Alfred, zündet den Joint an, saugt den kostbaren Rauch tief in die Lungen, und hustet–hustet–hustet–

Alfred: „?“

Slobo: „Du treibst mit deiner Argumentation einen Keil zwischen die Priester und die Gläubigen und untergräbst so die Macht der Kirchen.“

Alfred, einigermaßen erholt, kichernd: „Ja. Ich bin ein Maulwurf. Ein finsteres – kleines — kchch — Nagetier – kchkchkkch – mit messerscharfen – kchkch – Zähnen.“

Slobo: „Indem du die Macht der Priester untergräbst, schwächst du einen der Pfeiler, die die weltliche Macht tragen.“

Alfred, mit großer Geste: „kchkkchch-kchch-kch – Es lebe die Subversion!“

Slobo: „Du beraubst die Macht ihrer Ideologie!“

Alfred, wieder bei der Sache: „Nicht ganz, Slobo! Wir leben nicht mehr im Feudalismus. Die bürgerliche Macht ist auf die Götter nicht mehr angewiesen – sie verabreicht den Massen ihr eigenes Opium. Mit dem Argument, deren Freiheit zu schützen, rechtfertigt die Bourgeoisie ihre perfide Form der Sklaverei: ‚Ohne uns bricht über euch Wichte die Tyrannei herein! Wollt ihr das, in Unfreiheit leben?!‘ “

Slobo: „Ja, genau! ‚Und wenn es euch das letzte Hemd kostet: Nichts ist zu teuer für die Erhaltung der Demokratie!‘ “

Alfred: „Tausend Milliarden für die Rettung der Banken? Was sein muss, muss sein. Immerhin retten wir damit nicht etwa unsere Herrschaft, sondern euch vor den Folgen der Unordnung, der Willkür und der Tyrannei!“

Slobo: „Ohne uns die Anarchie!“

Alfred: „So ist es! Also strengt euch an, Freunde! Wir brauchen Wachstum, Leistung, Produktion! Mehr Wachstum, mehr Leistung, mehr Produktion!“

Slobo: „Zwölf Stunden für die Freiheit, sechzig für Frieden, Wohlstand und Demokratie!“

Alfred: „Keine Atempause, Zukunft wird gemacht; es geht voran!“

Beide lachen. Pause. Alfred steht auf, geht zum Fenster, öffnet es.

Alfred: „Wir sind schon zwei Schweinehunde, Slobo!“

Slobo: „Keine Idioten jedenfalls.“

Alfred: „Alte, durchtriebene Säcke.“

Slobo: „In Eichenfässern gereift.“

Alfred: „Mit allen Wassern gewaschen.“

Slobo: „Subversiv, gerissen.“

Alfred: „Boshaft.“

Slobo: „Hinterhältig.“

Alfred: „Gemein.“

Slobo: Kurz: „Das Salz der Erde.“

Alfred: „Das Salz der Erde!“

Pause. Alfred bietet Slobo den Joint an, der nimmt dankend an, kommt auch ans Fenster. Beide schauen hinaus. Dämmerung. Hinter einigen Fenstern brennt schon Licht. — Gegenüber, auf Stiege achtzehn, putzt die Hausmeisterin die Scheiben der Eingangstür. Im Geäst der altersschwachen Linde vor Alfreds Fensterhaben sich ein paar Krähen niedergelassen. Sie sind unruhig, zanken sich, fliegen wieder davon. Zwei Schulkinder mit riesigen Ranzen auf dem Rücken stapfen, einer hinter dem anderen, den Gehweg herauf, schweigend, überqueren den kahlgeschorenen Rasen, gehen, hopsen, laufen die letzten paar Schritte bis zum Eingang ihrer Stiege, eines drückt die Klingel, ungeduldig.

Alfred: „Wir haben leicht reden, Slobo.“

Slobo: „Stimmt. Wir sind aus dem Schneider.“

Alfred: „Wir haben’s hinter uns.“

Slobo: „Ich möchte heute nicht jung sein.“

Alfred: „Ja, wir haben Glück gehabt.“

Slobo: „Die Jungen sitzen voll in der Scheiße.“

Alfred: „Auf ihnen lastet das Gewicht der nächsten Transformation.“

Slobo: „Sie werden leiden.“

Alfred: „Wenn wir Pech haben, erwischt es uns auch.“

Slobo: „Fast hofft man in unserem Alter auf einen rechtzeitigen Tod.“

Alfred: „Ja. Es ist wirklich beschissen! – Geh’n wir auf ein Bier?“

Slobo: „Gute Idee. Geh’n wir einen heben!“

3. Dialog

Das ewig beschissene Proletariat

In der Eckkneipe

Alfred, schwer atmend, setzt sich: „Puh! Ich sag dir was, diese Raucherei bringt mich um!“

Slobo: „Ja, ziemlich übel. Das waren doch kaum dreihundert Meter bis hierher!“

Alfred: „Fünfzig Jahre – mindestens – fünfundzwanzig Zigaretten – im Schnitt – jeden Tag. Rechne es aus!“

Slobo: „Verrückt!“

Alfred: „Du – sagst es!“

Slobo: „Zeit, es zu lassen.“

Alfred: „Der Geist ist – willig…“

Slobo setzt sich ebenfalls, schaut sich um.

Slobo: „Kommst du öfter hier her?“

Alfred: „Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.“

Slobo: „Aha. Und heute war es demnach unvermeidlich.“

Alfred: „Nein. Aber ich will heute nicht mehr in die Stadt.“

Slobo: „Es wird doch noch etwas anderes geben in der Nähe!“

Alfred: „Eben nicht! Es gibt nichts hier draußen! Um diese Zeit hat der Supermarkt schon geschlossen. Da gäbe es immerhin ein Café mit Aussicht auf die Gemüseabteilung eine Etage tiefer. Die nächste Kneipe, die jetzt, nach sechs, noch offen hat, ist eine Viertelstunde weit weg. Und dort ist es genau so, wie hier.“

Slobo: „Ziemlich trostlos.“

Alfred: „Du sagst es. Eine Wüste.“

Der Kellner kommt mit den bestellten zwei Bier und stellt die Flaschen auf den Tisch. Wollt ihr Gläser?, fragt er. Slobo sieht Alfred fragend an. Der verneint. Der Kellner, zufrieden, geht ab.

Slobo amüsiert: „Bloß keine Umstände!“

Alfred: „Die Gläser werden nur zu den hohen Feiertagen gewaschen – wenn überhaupt.“

Slobo: „Na, dann Prost!“

Alfred: „Auf die Zivilisation!“

Slobo schaut sich um. An einem langen Tisch vor der Theke sitzen ein knappes Dutzend Leute, zwei davon sind Frauen.

Slobo: „Die Blonde da: kennst du die?“

Alfred: „Gefällt sie dir? Vergiss sie! Die verspeist halbe Portionen wie uns zum Frühstück.“

Slobo: „Da hätt’ ich unter Umständen nichts dagegen, hehe!“

Alfred: „Du solltest sie im Sommer sehen, wenn sie kurze Hosen und ärmellose Leibchen trägt! Sie ist über und über mit Drachen und Schlangen und dornigen Rosen tätowiert!“

Slobo: „Du hast doch nicht etwa Angst vor ihr?“

Alfred: „Und ob! Die Braut ist ein aggressives Miststück – ich hasse dominante Frauen!“

Slobo lacht. Er hebt sein Glas und prostet der Blonden zu. Die runzelt die fragend die Brauen, hebt dann aber die Flasche und prostet zurück. Jetzt drehen auch die Männer ihre Köpfe in Richtung des Tisches der Beiden. Einer ruft: „He, Alfred! Hast du deine Zähne heute dabei? Gabi sagt, dass du sie letzthin zu Hause vergessen hast!“ Alle lachen.

Alfred, peinlich berührt, knurrt –

Alfred: „Kretins! Debiles Pack!“

Slobo: „Man scheint dich zu kennen. Ist wohl öfter vorgekommen, dass es sich nicht hat vermeiden lassen, wie?“

Alfred: „Zugegeben: manchmal zieht es mich in die Gosse – meine masochistische Ader.“

Slobo: „Daraus lässt sich was machen, Alfred! Eine nette, kleine Erzählung, etwa: ‚Alfred besucht eine Spelunke und besäuft sich in Gesellschaft des lokalen Proletariats.‘ – Dich packt eines Abends der Rappel, du hältst es nicht mehr aus mit dir und deinem Computer, und du beschließt, auf ein schnelles Bier in die Kneipe unten am Eck zu gehen. Weil du ein ordentlicher Mensch bist, der Wert auf sein Äußeres legt, rasierst du dich, legst dein Aftershave auf und wirfst dich in Schale, Typ: kleiner Mann mit Hut. – In der Kneipe geht es hoch her. Eine illustre Gesellschaft hat sich versammelt, man lacht, man trinkt, und ehe du dich versiehst landest du bei ihnen am Tisch. Scherze fliegen hin und her, dein Alkoholspiegel steigt, und du findest die Blonde da drüben von Schluck zu Schluck reizvoller. Es kommt, wie es kommen muss: nach drei Flaschen Bier sitzt du neben ihr und beginnst, sie zu bequatschen. Sie ist zunächst nicht abgeneigt. Aber als du beim fünften Bier immer noch nicht zur Sache kommst, vielmehr versuchst, ihr zu erklären, warum ein Nichts nicht existieren kann, und was das für revolutionäre Folgen für Philosophie und Naturwissenschaft hat, blafft sie dich an:

‚He, Alter, merkst du nicht, dass du mir auf den Keks gehst? Wie wärs, wenn du dich in dein Nichts vertschüsst und jemand anderem auf den Arsch gehst?‘

Du, so plötzlich rüde aus deinem philosophischen Höhenflug in den Sumpf einer Vorstadtspelunke gestoßen reagierst ebenso schlagfertig wie eloquent:

‚An deinem pickligen Arsch ist doch eh keiner interessiert, dämliche Schlampe!‘

Und so kam es, dass unser Philosoph von einer Vorstadtschönen ein Glas Bier über den Kopf geschüttet bekam und das Lokal unter dem johlenden Gelächter der besoffenen Horde mit eingezogenem Schwanz verließ – Ende der Geschichte.“

Alfred: „Sehr witzig! Wie wär‘s denn damit: ‚Slobodan macht sich über seinen besten Freund lustig und kriegt eins auf die Nase‘?“

Slobo: „Na, das möcht ich sehen! Du kannst doch froh sein, wenn du am Morgen deinen Kadaver noch aus dem Bett hieven kannst!“

Alfred: „Oho! Ich bin zwar bald siebzig, aber einen klapprigen alten Sesselfurzer wie dich schüttle ich noch immer aus seiner Lederjacke!“

Slobo, lacht: „Das ist gut! Aus der Jacke schütteln! Wo hast du denn den Spruch her?“

Alfred: „Von einem Zuhälter am Gürtel, bevor er mich aus der Bar geschmissen hat.“

Slobo: „Wirklich? Du gehst zu den Huren? Alfred, du erstaunst mich!“

Alfred: „Ich ging, Slobo, ich ging! Heute bin ich froh, wenn ich mir ab und zu noch selber einen runterholen kann.“

Slobo: „Tja! ‚Das Alter ist ein Dieb‘.“

Alfred: „Du sagst es!“

Pause. Alfred dreht sich eine Zigarette. Slobo gähnt, sieht auf die Uhr. Er scheint irritiert, schaut sich suchend im Lokal um. Schließlich

Slobo: „Weißt du, wie spät es ist? Meine Uhr ist offenbar stehengeblieben. Es kann unmöglich erst halb fünf sein.“

Alfred: „Warum? Musst du noch wo hin?“

Slobo: „Ja. Ich sollte nach Hause. Jovanka ist bestimmt schon sauer, weil ich nicht zum Abendessen gekommen bin.“

Alfred: „Ach, ja, die Jovanka! Wie geht‘s dem alten Mädchen? Hab sie ewig nicht mehr gesehen; sag ihr einen Gruß von mir!“

Slobo: „Das lass ich besser bleiben! Du weißt doch, dass sie dich nicht ausstehen kann.“

Alfred: „Ja, ich weiß. Obwohl mir ja nicht klar ist, warum eigentlich? Ich hab ihr, meines Wissens, nie etwas getan?“

Slobo: „Sie mag einfach deine Art nicht. Weißt du, wie sie dich nennt?“

Alfred: „?“

Slobo: „Staatsminister Extragscheit.“

Alfred: „Staatsminister! Immerhin!“

Slobo: „Oder: Herr Gscheitl.“

Alfred: „Verstehe.“

Slobo: „Oder einfach: Der kleine Hirnwixer.“

Alfred: „Ja. Sie ist ein echter Prolet, deine Alte. Ich hab nie verstanden, wie du mit dieser Giftspritze zusammenleben kannst. Die keift doch den ganzen Tag und hat für niemanden ein gutes Wort!“

Slobo: „Ach! Sie ist schon in Ordnung, wenn man sie kennt.“

Alfred: „Dabei war sie Lehrerin!“

Slobo: „Sie ist halt enttäuscht von den Leuten. Und überhaupt.“

Alfred: „Du solltest sie einmal ordentlich durchficken.“

Slobo: „Ach, halt doch das Maul! Bei dir läuft sich alles auf das Vögeln hinaus. Wenn die Leute mehr Vögeln würden, statt wie die Sklaven zu schuften, dann wär die Welt für dich in Ordnung!“

Alfred: „Und ob! Das ist es doch, warum alle hysterisch sind! Sie haben keine Muße! Eros kommt zu kurz in unserer Zeit. Sie sind alle besessen von Thanatos. Als gäbe es nichts Schöneres, als sich gegenseitig zu massakrieren! – Schau dir ein x-beliebiges Fernsehprogramm an: in achtzig von hundert Filmen geht es um Mord. Die Amerikaner sind in dieser Hinsicht ja vollkommen verrückt; hast du je einen dieser durchgeknallten Zombifilme gesehen? Da geht es nur darum, bei bestem Gewissen massenhaft Leute abzuknallen. Das sind wahre Mordorgien! Und der letzte Schrei: prügelnde Mädchen. Die stehen jetzt ganz hoch im Kurs.“

Slobo: „Stimmt schon. Wir sind alle mehr oder weniger von der Gewalt fasziniert. Ich zum Beispiel schau mir im Fernsehn am liebsten Kriegsfilme an. Und Dokumentationen über die Weltkriege. Dabei bin ich Pazifist!“

Alfred: „Weniger von der Gewalt, als vielmehr vom Tod, denk ich. Katharsis, wenn du weißt, was ich meine.“

Slobo: „Also ich persönlich halte es mit Epikur. Wenn es nach mir geht, dann ist unsere Welt ein Garten. Ich wäre immer gern ein Gärtner gewesen –“

Alfred: „Das Unglück ist nur, dass die Krieger herrschen. Der Krieger ist das Leitbild des Patriarchats. Seit es Zivilisationen gibt, leben wir Menschen im Patriarchat. Falls es jemals ein Matriarchat gegeben hat, dann hat es sich jedenfalls nicht bewährt.“

Slobo: „Glaubst du das? Hat es früher, in prähistorischer Zeit, eine grundsätzlich andere Gesellschaft gegeben? Eine Art Paradies?“

Alfred: „Nein. Es hat immer Hierarchien gegeben. Die Hierarchie ist die Voraussetzung für jede gesellschaftliche Organisation, für gemeinschaftliches Handeln. Und je erfolgreicher, heißt: wohlhabender eine Gemeinschaft geworden ist, desto deutlicher werden auch die Unterschiede zwischen Oben und Unten. Die Sklaverei fängt schon in der Familie an. Selbst in Affengesellschaften gibt es Rangunterschiede, die sich tradieren. Die Einen werden als Leittiere geboren, die Anderen als Verlierer, die den Bessergestellten das beste Futter, die sichersten Schlafplätze, die attraktivsten Sexualpartner überlassen müssen. Wer ganz unten ist wird an den Rand gedrängt, wer nicht mithalten, sich den Normen nicht anpassen kann wird ausgestoßen. Das war mit Sicherheit auch im Matriarchat schon so.“

Slobo: „Der Egoismus der Gene! Eine zweifelhafte Erbschaft. Aber kann Kultur diese destruktive Konkurrenz der Gene nicht vielleicht doch überwinden? Immerhin versucht Kultur doch schon seit Jahrtausenden, die Natur uns Menschen anzupassen! Warum nicht auch unsere eigene? Immerhin leben wir seit geraumer Zeit in einer Welt, die uns kein Jagdrevier mehr sein sollte, sondern ein Garten. Was meinst du, Alfred?“

Alfred: „Ich bin skeptisch, was die Potenz der Kultur betrifft, irgendetwas zu verändern. Ich neige mehr zur Ansicht, dass die kulturellen Schöpfungen mehr dazu dienen, unser Barbarentum aufzuhübschen. – Nein, ich glaube nicht, dass Kultur die Natur verbessern kann. Die aus meiner Sicht interessantere Frage in diesem Zusammenhang ist, wie es dazu kam, dass die Männer die Herrschaft übernahmen bis hin zur totalen Unterdrückung und Enteignung der Frau.“

Slobo: „Vielleicht haben sich in einem Stamm die Männer zusammengeschlossen und gegen die Mütter revoltiert? Und dann hat dieses Beispiel eben Schule gemacht.“

Alfred: „Unsinn, Slobo! So finden wahre Revolutionen, Kulturrevolutionen (und andere wahre Revolutionen gibt es nicht!) nicht statt. Wahre Revolutionen sind langwierige, mehrere Generationen überdauernde Prozesse. Vor allem aber resultieren sie nicht aus Beschlüssen, sind nicht Akte eines freien Willens, sondern das Ergebnis veränderter Reproduktionsbedingungen einer Gesellschaft.“

Slobo: „Zum Beispiel?“

Alfred: „Zum Beispiel hat sehr wahrscheinlich die Zunahme der menschlichen Populationen, ein Ergebnis ihres Erfolges also, dazu geführt, dass zwischen den Stämmen in bestimmten Regionen die Kämpfe um die überlebensnotwendigen Stammesgebiete so sehr zugenommen haben, dass der Krieg zu einem Dauerzustand geworden ist. Auch der Kampf zwischen den Nomaden und den ersten sesshaften Stämmen hat mit Sicherheit zu solchen permanenten Kriegszuständen geführt. Die Folge davon war die Aufwertung der Krieger und die Priorität der Kriegserfordernisse für das Überleben der beteiligten Stämme. Im Zuge dessen könnten in solchen Stämmen allmählich die Männer die Oberhand über die Frauen gewonnen haben, die immer mehr zu Schutzbedürftigen wurden, bis sie schließlich de facto von den Männern in Schutzhaft genommen und ihnen die freie Wahl ihrer Sexualpartner untersagt wurde.“

Slobo: „Um Rivalitäten unter den Männern zu vermeiden!“

Alfred: „Das auch. Aber in erster Linie vermutlich als eine der Folgen der guten, alten ‚Konkurrenz der Gene‘: Der stärkste Affe eignet sich die Gebärmütter an.“

Slobo: „Klingt plausibel.“

Alfred: „Die Forschung geht davon aus.“

Pause. Erschöpft von diesem überraschenden Ausflug in die sagenumwobene Frühzeit des Menschengeschlechts lehnen sich unsere Freunde in ihren Stühlen zurück und besinnen sich ihrer Gegenwart.

Slobodan leert sein Bier und schaut sich nach dem Kellner um. Der steht gerade auf einem Stuhl und versucht, den über der Theke angebrachten Fernsehapparat in Gang zu bringen. Irgendetwas scheint mit den Kabeln nicht in Ordnung zu sein. Slobo steht auf.

Alfred: „Was ist? Willst du etwa schon gehen?“

Slobo: „Nein, nein. Ich muss nur mal; die Blase ...“

Alfred: „Ja, die Prostata! Auch so eine Glanzleistung der Evolution!
Dann, gute Verrichtung! Und bestell uns noch zwei Bier, ja?“

Während Slobo aufs Örtchen verschwindet sieht sich Alfred im Lokal um und entdeckt an einem Nebentisch eine kleinformatige, zerlesene Zeitung, die ein Gast zurückgelassen hat. Er holt sie. Da er ohne seine Lesebrille nur die Schlagzeilen entziffern kann überfliegt er die Seiten des Blättchens nur: ‚Koalitionspoker in Wien‘; ‚Raketen auf TelAviv‘; ‚Hongkong kommt nicht zur Ruhe‘; ‚Handelsstreit eskaliert‘; ‚Konjunktur trübt sich ein‘; ‚Verheerende Waldbrände in Portugal: Brandstiftung vermutet‘; ‚Vergewaltigungsopfer klagen an‘; ‚Sozialdrama gewinnt in Cannes‘; ‚Trainer muss gehen‘. Resigniert legt er die Zeitung auf den Tisch. Schaut sich um. Zu sich:

Alfred: „Lauter traurige Gestalten hier. Die Alte dort drüben zum Beispiel: redet mit sich selber, gestikuliert; ein armes, altes Weib vor ihrem Glas Rotwein, an dem sie von Zeit zu Zeit nuckelt.

Oder der dort: Ein Greis mit dünnem, ungewaschenem Haar, umklammert seine Flasche mit beiden knochigen alten Händen und schaut in die Nacht hinaus mit trüben, alten Augen. Beiden ist die Einsamkeit, die verfluchte, unentrinnbare Einsamkeit alter, verbrauchter Menschen mehr noch als ihre Armut in ihren hinfälligen alten Leib geschrieben.

Ja, so sieht das Ende aus nach einem erbärmlichen, an die Arbeit verschwendeten Leben! Das ist die ganze, erbärmliche Wahrheit! Alles landet am Ende auf dem Müll. Kaum produziert, ist es schon Abfall, Ramsch. Alles veraltet, wird niedergerissen, auf die Müllhalde geworfen. Nichts bleibt, und nichts ist je getan. Wie die Ameisen, Millionen, Milliarden, emsige, fleißige, hurtige Ameisenschuften sie ein Leben lang, und jede Generation aufs Neue müht sich, plagt sich, fügt sich. Und stirbt doch am Ende unbedankt, namenlos, vergessen: das ewig beschissene Proletariat! Ach, hol’s der Teufel...“

Er steht auf und verlässt das Lokal, um vor der Türe seine Zigarette zu rauchen.

4. Dialog

Neandertaler

Als Alfred wieder kommt hat sich die Stimmung im Lokal verändert.
Der Kellner hat den Fernsehapparat schließlich doch zum Laufen gebracht; die Kerle vom langen Tisch haben sich um den Fernseher versammelt und verfolgen die Übertragung eines Fußballspieles.

Am langen Tisch sind nur die beiden Frauen übriggeblieben. Sie sind in ein Würfelspiel vertieft.

Slobo sitzt am Tisch, vor ihm stehen zwei neue Flaschen Bier, er liest in der Zeitung.

Alfred, mit Blick auf den Fernsehapparat: „Die Bayern gegen den BVB; das ist mir entgangen. Schade. Hätt ich mir gern in Ruhe angeschaut.“

Slobo: „Sag bloß, du bist auch so ein Fußballverrückter! Ich hasse Fußball! Diese stupiden Schlachtgesänge treiben mich zum Wahnsinn!“

Alfred: „Ja. Besonders die der Bayernfans sind echt penetrant. Aber was erwartest du? Sie sind Bayern.“

Slobo: „Und du? Immer noch BVB-Fan?“

Alfred: „Fan wäre übertrieben, aber ich leide mit der Borussia; der richtige Klub für einen Masochisten.“

Slobo: „Mir können sie alle gestohlen bleiben.“

Alfred: „Und ich dachte, für Serben wäre ‚Roter Stern‘ patriotische Pflicht?“

Slobo: „Fußballfans und Patrioten; ein und derselbe irrationale Mob!“

Alfred: „Das stimmt allerdings!“

Slobo: „Keulenschwingende Neandertaler.“

Alfred: „Nichts gegen die Neandertaler! Wissenschaftler haben kürzlich herausgefunden, dass sie gar nicht ausgestorben sind. Ein paar Tausend von ihnen haben demnach die Eiszeit überlebt. Sie seien, so heißt es, die Vorfahren der heutigen Bayern – ist wahr, hab ich gelesen!“

Slobo: „Was du nicht sagst!“

Alfred: „Stimmt aber. Noch heute, heißt es, könne niemand der CSU beitreten, der nicht nachweisen könne, dass er zu wenigstens fünfzig Prozent vom Homo Neanderthalensis abstamme! – Doch, glaub’ mir! Hab ich gelesen!“

Slobo: „Witzig.“

Alfred: „Das ist Fanhumor, Slobo. Das verstehst du nicht.“

Slobo: „Stimmt. Vor allem versteh ich nicht, warum ausgerechnet du dich herablässt, der Proletenkultur zu huldigen? Wo ist deine ‚aristokratische Verachtung des Massengeschmacks‘, auf die du dich sonst so gerne berufst, wenn es darum geht, Kunst von ‚populistischem Machwerk‘ zu unterscheiden?“

Alfred: „Ach, halt doch den Rand! Selbst der große Nietzsche hat hin und wieder gekichert! Wo kämen wir hin, wenn wir nicht die Freiheit hätten, kindisch zu sein, wenn die Situation es erlaubt?“

Slobo: „Nietzsche hat gekichert? Ist das belegt?“

Alfred: „Aber sicher! Lies seine ‚Fröhliche Wissenschaft‘ und lerne dabei, wie man ‚mit dem Hammer philosophiert‘ – ich wette, das hat er mit einem Grinsen geschrieben!“

Slobo: „Es heißt, er hat gekifft.“

Alfred: „Das haben sie damals alle. Gekifft, gekokst, Wein mit Laudanum gesoffen. Die waren damals mehr drauf als wir.“

Slobo: „Na, ich weiß nicht!“

Alfred: „Die Proletarier natürlich nicht! Die hatten bestenfalls den Absinth. Was Anderes konnten die sich nicht leisten.“

Slobo: „Absinth! Van Gogh hat sich damit umgebracht.“

Alfred: „Sicher. Aber das war es wert!“

Slobo: „Also, Absinth würde ich gern einmal probieren. Nur, um zu wissen, wie das Zeug wirkt.“

Alfred: „Wirklich? Ich weiß, wo wir den Stoff kriegen. Wenn du willst…?“

Slobo: „Aber Absinth ist doch verboten, nicht?“

Alfred: „Nicht in der Slowakei!“

Pause. Alfred dreht sich eine Zigarette. Slobo wendet sich wieder dem Kleinformat zu.

Slobo: „Hast du das gelesen?“

Alfred: „Was denn? Ach, das? Ja, die Wälder brennen. Überall brennen sie die Wälder ab. Die Idioten. Als wüssten sie nicht, was die Stunde geschlagen hat!“

Slobo: „Soll Brandstiftung gewesen sein.“

Alfred: „Glaub ich sofort.“

Slobo: „Ich versteh das nicht. Was geht in diesen Leuten vor? Haben die kein Gewissen? Ist ihnen die Zukunft egal?“

Alfred: „Wen meinst du jetzt? Die Brandstifter, oder ihre Auftraggeber? Die Brandstifter sind nur kleine Ganoven. Die haben kein Selbstwertgefühl. Sie sind die trotzigen Gekränkten, die, wie man früher gesagt hätte, ihre Seele dem Teufel übergeben haben. Sie zahlen ‚ES‘ der Menschheit heim, was immer ‚ES‘ auch ist.“

Slobo: „Dem mag sein, wie es will; ich würde diese Leute, wie im Mittelalter die Brunnenvergifter, erst einmal an den Pranger stellen.“

Alfred: „Und dann, wenn die empörte Bürgerschaft sie nicht gelyncht hat, hinrichten.“

Slobo: „Das natürlich nicht! Ich bringe keine Menschen um!“

Alfred: „Sondern?“

Slobo: „Bäume pflanzen. Hunderttausend überlebensfähige Bäume, dann ist er frei.“

Alfred: „Na, schön! Dem Handlanger seine zweite Chance. Aber was tun wir mit den Bossen?“

Slobo: „Die sind schwer zu kriegen.“

Alfred: „Mit legalen Mitteln, ja.“

Slobo: „Was meinst du?“

Alfred: „Na, was schon! Umlegen! Das sind doch Kardinalverbrecher, die scheren sich weder um die Menschheit, noch um die Moral. Die kennen nur Eins: Ich will! Sie haben Geld, sie erpressen, sie nötigen, sie bestechen, sie lassen töten. Mit legalen Mitteln kommst du denen nicht bei. Da musst du klotzen.“

Slobo: „Du meinst: umlegen? Der Rechtsstaat, dessen Legitimität sich darauf gründet, dass er seine eigenen Gesetze einhält, soll Killer losschicken? Weißt du, was das heißt?!“

Alfred: „Na, komm! Bist du wirklich so naiv? Das ist doch Gang und Gäbe! — Zeig mir den Staat, der keine Leichen im Keller hat! Selbst der tadellose Häuptling Silberzunge kannte gegenüber dem saudischen Terrorpaten keine Skrupel. Und er hatte recht: diese Leute kannst du nicht umerziehen, die musst du, Gesetz hin oder her, töten.“

Slobo: „ Das meinst du nicht ernst.“

Alfred: „Und ob! – Lass mich dir eine kleine Geschichte erzählen; es ist eine alte persische Fabel. Die bringt das Problem auf den Punkt:

Ein reisefreudiger Skorpion gelangte auf einer seiner Wanderungen an das Ufer eines Flusses. Da Skorpione bekanntlich nicht schwimmen können hatte unser kleiner Reisender nun ein unlösbar scheinende Problem. Wie sollte er ans andere Ufer kommen? Zu seinem Glück kam just in diesem Moment ein Frosch daher geschwommen. Der Skorpion erkannte die Gelegenheit und rief den Frosch an:

‚Guten Tag, Herr Frosch! Würdest du mir wohl einen großen Gefallen tun? Ich muss unbedingt dort hinüber, um meine Reise fortzusetzen. Ich kann aber nicht schwimmen! Würdest du mich, freundlicherweise, auf deinem breiten Rücken hinübertragen? Das Universum würde dich gewiss für deine Güte belohnen!‘

Der Frosch freilich hatte schon von Skorpionen gehört und wusste um die Gefährlichkeit ihres Stachels. Vorsichtig Abstand haltend antwortete er:

,Tag dir auch, Herr Skorpion. Ich verstehe dein Problem. Und ich würde dir den Gefallen gern tun, dich ans andere Ufer zu tragen, aber, verzeih mir, du bist nun einmal ein Skorpion!‘

,Ich verstehe deine Vorsicht‘, antwortete der Skorpion. ‚Aber überleg doch: ich würde doch mit dir untergehen und ersaufen, sollte ich dich stechen! Das wäre doch sehr unvernünftig von mir, meinst du nicht?‘

Das Argument leuchtete dem Frosch ein. Da er ein von Natur aus gutmütiger, freundlicher Bursche war überwand er seine Furcht und erlaubte dem Skorpion, auf seinen Rücken zu klettern und schwamm los. Als aber die Beiden die Mitte des Flusses erreicht hatten, da stach der Skorpion den Frosch. — Der Frosch, der die lähmende Wirkung des Giftes in seinem Körper sich ausbreiten fühlte, stellte unter Schmerzen und bereits ermattend die einzige Frage, die ihn, den so heimtückisch Getäuschten, in seinem Todeskampf noch bewegte: ‚WARUM??‘

Der Skorpion, selbst mit dem Frosch langsam im Wasser versinkend, antwortete: ,Was sollte ich tun? Es ist meine Natur!‘ “

Slobo: „Und die Moral von der Geschicht; trau keinem Skorpionen nicht!“

Alfred: „Lustig! Sonst fällt dir nichts dazu ein?“

Slobo: „Was noch? Vielleicht: Shit happens?“

Alfred: „Ein Name vielleicht, oder eine Beziehung, auf die dieses Gleichnis passt?“

Slobo, überlegt, dann ernsthaft: „Ich finde, die Geschichte passt auf die Beziehung Hitler und ‚sein‘ deutsches Volk:

Ein überspannter, geltungssüchtiger Egomane kommt in einem Schlüsselmoment der deutschen Geschichte, da das Volk tief gedemütigt, seine Eliten gekränkt sind an die Macht und verspricht, dem ‚deutschen Volk‘ Genugtuung zu verschaffen, so es nur ihm folgt. Was die Leute nicht wissen ist, dass auch ihr sogenannter ‚Führer‘ keine echte Identität hat. Er spielt die Rolle eines mythischen Helden und versucht, sich selbst wider besseres Wissen davon zu überzeugen, dass er tatsächlich der Mann sei, den die Vorsehung auserkoren habe, das deutsche Volk zur Weltherrschaft zu führen. Insgeheim ahnt er, dass er ein Hochstapler ist, aber nach den ersten großen Erfolgen, da seine Pläne einer nach dem anderen aufgegangen sind, kann er nicht mehr zurück. Er füttert sich mit Stärkungsmitteln, sucht die Nähe zu esoterischen Obskuranten und klammert sich an die Hoffnung, dass schon alles irgendwie gut gehen werde. Er spielt Vabanque, überrumpelt seine Gegner durch Brutalität und Chuzpe und setzt, als der Wahnsinn seines Vorhabens offensichtlich wird, auf die in Wahrheit gar nicht vorhandene Chance, ,seinen‘ Krieg um die Weltherrschaft trotz mangelnder Ressourcen, nur Kraft (seines) Willens, zu gewinnen.

Aber die Realität setzt sich durch. Seine Soldaten verbluten zu Hunderttausenden, seine Kriegsmaschinen bleiben in Folge des Treibstoffmangels stehen und werden vernichtet, seine Städte werden zerbombt, und jeder vernünftige Mensch weiß, der Krieg ist verloren. Aus dem ‚größten Feldherrn aller Zeiten‘ ist der ‚größte Verlierer aller Zeiten‘ geworden.

Statt nun aber sich zu ergeben und sein Volk vor dem Schlimmsten zu bewahren besteht der ‚GröVerlaZ‘ darauf, dass es mit ihm untergehen soll. Denn das ist seine Natur: Er ist ein kleiner, gekränkter Mann, der sich über den Umweg eines Weltkriegs am Leben rächt.“

Alfred: „Bravo! Eine hellsichtige psychologische Analyse, bin beeindruckt! Aber was folgt daraus?“

Slobo: „Dass Hitler ein Mensch war?“

Alfred: „Slobo, markier jetzt bitte nicht den Blöden! Hätte jemand, etwa die Kommunisten, Hitler und Göbbels frühzeitig abgeknallt, statt den Reichstag in Brand zu setzen, sie hätten der Welt einen furchtbaren Krieg und den Juden den Holocaust erspart.“

Slobo: „Na, schön! In manchen Situationen muss selbst ein Pazifist… “

Alfred: „Bravo! Ich wusste es doch: ein Körnchen Vernunft steckt sogar in deinem verwirrten Kopf!“

Slobo: „…aber wer weiß das schon im Vorhinein!“

Alfred: „Manches kann man sehr wohl schon vorher wissen! Zum Beispiel Stalin: den hätten die Trotzkisten spätestens nach der Ermordung Kirows und den darauf folgenden ‚Moskauer Prozessen‘ umbringen müssen. Aber was haben sie statt dessen getan? Reden! Den so genannten ,Gegenprozess‘ veranstaltet! Was darauf folgte, war selbst für Trotzki keine Überraschung. Aber er verhielt sich gerade so, als wollte er sich zum Märtyrer machen. Dabei war er durchaus kein Pazifist und hatte gegen Lenins rigorose Machtpolitik nichts einzuwenden gehabt –“

Slobo: „Ist ja gut! Können wir jetzt das Thema wechseln, bitte? Diese ganze Umbringerei verdirbt mir die Stimmung.“

Alfred: „Weichei!“

Slobo: „Mir ist einfach nicht wohl bei der Vorstellung, Leute umzubringen.“

Alfred: „Ach, was! Das ist nur dein Über-Ich, das dir verbietet, deinen Aggressionen nachzugeben. Ich möchte wetten, auch du hast schon einmal jemanden in Gedanken umgebracht.“

Slobo: „Das ist es ja, Alfred – nicht nur in Gedanken!“

Alfred: „Was! Du meinst, du hast in echt –??“

Slobo: „Ich war in der jugoslawischen Armee, damals, 1991. Ich war in Kroatien dabei. Da sind Sachen passiert, an die ich mich lieber nicht mehr erinnern will.“

Alfred: „Verstehe. Tut mir leid.“

Slobo: „Schon gut.“

Pause. Schweigend trinken beide einen großen Schluck aus ihren Flaschen. Inzwischen ist es vollends dunkel geworden. Vor dem Fenster, im Schein einer Straßenlaterne, glitzert ein Geriesel feiner, körniger Schneekristalle, die aus dem schwarzen Himmel fallen – der erste Schnee dieses Winters.

Slobo: „Schau! Es schneit!“

Alfred: „WOW! Und das mitten im Winter!“

Slobo: „Es sieht aus, als ob die Flocken einander jagen. Wie übermütige Spatzen.“

Alfred: „Oder Heringe, die in Panik vor fressgierigen Delfinen fliehen.“

Slobo: „Natürlich! Bei dir endet alles in einem Blutbad! Hast du denn gar keinen Sinn für Poesie?“

Alfred: „Poesie? Mir ist, als hätte ich dieses Wort schon einmal gehört – weiß aber nicht mehr, in welchem Zusammenhang? Irgendwas mit kleinen Mädchen und rosaroten Tütüs.“

Slobo: „Kein Wunder, dass du keine Frau abgekriegt hast; du bist und bleibst ein Macho.“

Alfred: „Jedenfalls kein Pantoffelheld – was denn!?“

Slobo hat Alfred den Hut vom Kopf gerissen, droht, scherzhaft, ihm den Rest seines Bieres über die Altmännerglatze zu gießen –

Slobo: „Das nimmst du zurück!“

Alfred: „Was denn! Das war doch nicht auf dich gemünzt! Du doch nicht, niemals!“

Slobo, lachend, setzt ihm den Hut wieder auf: „Dein Glück! In dieser Sache verstehen wir nämlich keinen Spaß, meine Jovanka und ich! Wir sind ein glückliches, absolut gleichberechtigtes Paar!“

Alfred: „Natürlich! weiß ich doch – auf Jovanka! Prost!“

Sie stoßen an, trinken. Pause. Nachdenklich beobachten die Beiden das Schneetreiben vor dem Fenster. Erinnerungen an andere Orte, andere Winter, andere Zeiten…

Slobo: „Das erinnert mich an einen Winter, es muss Mitte der Neunzigerjahre gewesen sein. Ich lebte damals mit ein paar übriggebliebenen Punks draußen in Simmering in einer Industrieruine, wo ich mit zwei anderen eine illegale Autoreparaturwerkstätte betrieben habe. Damals lagen in unserem Hof zwei Meter Schnee. Wir mussten die Autowracks, die wir da draußen abgestellt hatten, zum Ausschlachten, Ersatzteile, verstehst du, die mussten wir freischaufeln, von denen hast du nicht einmal die Dächer mehr gesehen.“

Alfred: „Ein Punk? Du?“

Slobo: „Ich? Nein. Ich war kein Punk. Ich war nur abgebrannt, hatte keine Wohnung, keinen Job, keine Papiere.“

Alfred: „Du??“

Slobo: „Ja, sicher! Deserteur, verstehst du? Ich hatte genug von der Armee, da bin ich weg, getürmt – Zbogom Srbija!“

Alfred: „Ist nicht wahr!“

Slobo: „Und ob das wahr ist!“

Alfred: „WOW! Da glaubt man, dass man Einen kennt…!“

Slobo: „Du weißt gar nichts, John Schnee!“

Pause. Alfred schaut gedankenverloren dem Treiben der Schneeflocken vor dem Fenster zu, Slobo reckt den Hals nach einer Uhr, ruft den Kellner, winkt –

Slobo: „Herr Ober! Hallo!“

Der Kellner reißt sich unwillig vom Fernsehapparat los, wo das Fußballspiel, der Geräuschkulisse nach zu urteilen, eben einen dramatischen Höhepunkt erreicht hat: die Männer vor dem Apparat lachen, der Kommentator brüllt, die Zuschauer auf dem Rängen pfeifen, johlen, selbst die beiden jungen Frauen am Tisch im Hintergrund merken auf – Das Folgende untermalt durch entsprechende Hintergrundgeräusche.

Der Kellner: „Wos woits denn?“

Slobo: „Ich möchte zahlen.“

Der Kellner, nach dem Fernsehapparat schielend: „Wos?!“

Slobo: „Zahlen! Ich möchte zahlen!“

Der Kellner: „Brauchst ned aso schrein, i bin ned derisch!“

Alfred: „Was ist denn da los? Was ist passiert?“

Der Kellner: „A Schlägerei. Da Leiwandowsky liegt am Bodn, da Sakrates hod eam niedaghaut – jöh! Jetzt homs den Schiri niedagstessn! No, des wiad wos wern, habedieehre!“

Slobo: „Es lebe der Sport!“

Alfred, ist aufgestanden, um besser zu sehen –

Alfred: „Ich seh nix ohne meine Brille!“

Der Kellner: „Do fliagt wos – wumm! Und no ana!“

Alfred: „Rauchbomben!“

Der Kellner: „Se hom den Zaun nidagrissn, de Bayern sans, se kumman!“

Alfred: „Sie rennen die Ordner einfach nieder! Brutal!“

Der Kellner: „Jetzt kumman a de Göbn!“

Slobo: „Ich möchte zahlen!“

Alfred: „Wow! Schau dir das an, Slobo! Die geh’n aufeinander los wie die Tiere!“

Der Kellner: „Jetzt kummt a no die Heh – heast, is des a Hetz!“

Slobo: „Ich möchte zahlen!!“

Der Kellner: „Bist du deppat!! Des haass i a Begeisterung – a echt krasse Keilerei!“

Alfred: „Hör dir den Kommentator an, der dreht echt durch – die reinste Testosteronorgie!“

Slobo: „Alfred, ich geh jetzt. Zahl du für mich –“

Der Kellner: „Wos is denn des jetzt!?“

Alfred: „Sie brechen die Übertragung ab. Natürlich.“

Der Kellner: „San de deppat?! Scheißn se oh, de Trottln!“

Alfred: „Keine Gewalt im Fernsehn! Hehehe –“

Slobo: „Hast du gehört?!“

Der Kellner: „Na geh, heast! Des is a Witz!“

Slobo: „Alfred!!“

Alfred, zum Kellner: „Heast, Peppi, sei so guad, bring uns no zwa Bier! Und zwa doppelte Slibo, oba vom guadn!“

Der Kellner: „Wos haasst vom guadn! Bei uns gibts’ nua an guadn!“

Slobo, steht auf, greift nach seiner Jacke –

Slobo: „Nicht für mich! Ich geh!“

Alfred: „Du gehst? Jetzt schon?“

Slobo: „Ich hab dir schon vor einer halben Stunde gesagt, dass ich heim muss!“

Alfred: „Aber so früh? Es ist doch noch kaum –“

Slobo: „Sie ist eh schon sauer, dass ich zum Essen nicht daheim war!“

Alfred: „Na, dann kommt es auf eine halbe Stunde auch nicht mehr an. Ich hab grad noch zwei Bier bestellt!“

Slobo: „Tut mir leid. Ich geh noch zahlen, dann bin ich weg.“

Alfred: „Ach was, zahlen! Ich lad’ dich ein.“

Slobo: „Danke, das ist nett.“

Alfred: „Nett! Nett! Du Weichei!“

Slobo, zieht den Parka an, schlingt sich einen Schal um den Hals –

Slobo: „Säufer!“

Alfred: „Was hast du gesagt?“

Slobo: „Du hast schon verstanden.“

Alfred: „Ah, so denkst du also über mich! Gut zu wissen!“

Slobo, zieht eine Wollhaube aus einer Tasche seines Parka, setzt sie auf –

Slobo: „Schau dich doch an! Übergewichtig, aufgeschwemmt, blutunterlaufene Augen, kirschrot im Gesicht – demnächst trifft dich der Schlag, wenn du so weitermachst.“

Alfred: „Ich bin pumperlgsund!“

Slobo, schließt den Parka, zieht sich Handschuhe an –

Slobo: „Ja, so schaust du aus!“

Alfred: „Ach, hau doch ab, kriech deiner langweiligen Alten unter den Rock , du, du –“

Slobo: „Na, dann! Einen schönen Abend wünsch ich noch – Zbogom, Towarischtsch!

Geht ab.

Alfred: „Towarischtsch am Arsch! Dabei hätt ich noch ein Beispiel für eine Frosch-Skorpion-Beziehung auf Lager gehabt: Das Kapital und seine Reproduktionsmittel. Seine was? hätte er gefragt. Und ich hätte es ihm erklärt, die ganze Sache mit den natürlichen Ressourcen, der Ausbeutung der Arbeitskräfte, den Fall der Profitrate, die aus all dem folgende Verelendung des Proletariats, den ganzen verdammten Marx.

Natürlich hätte er protestiert: Von Marx habe er seit seiner Zeit als Student der Betriebswirtschaft und rechtschaffener Staatsbürger der Volksrepublik Jugoslawien die Nase gestrichen voll, undsoweiter. Und ich, ich hätte ihm erwidert, dass, wer Marx nicht verstanden habe, keine Ahnung habe von der Welt, in der er lebe – aber da geht er hin, der vernünftige Mensch. Stapft hinaus in die Nacht, in Schnee und Regen, gibt seiner selbst nicht acht. Und ich, verlassen, verbittert und allein, zieh mir noch zwei Schnäpse rein. Und geh dann, damit es sich reimt, auch heim.“

Zum Kellner, der eben das Bestellte gebracht hat:

„Danke, Peppi. Was bin ich schuldig? Zweiunddreißig?! Von zweiunddreißig Euro lebt eine indische Großfamilie eine Woche lang! Und unsereins versäuft das an einem Abend. Und ist noch nicht einmal besoffen – behalt den Rest, Peppi. Kannst ja auch nix dafür – Ehre sei dem Proletariat – zum Wohl!“

Alfred leert das erste Glas Schnaps, schüttelt sich, schüttet gleich den zweiten nach lehnt sich zufrieden zurück. – Zu sich selbst:

Alfred: „Wo er recht hat, hat er recht: das ist erstklassiger Stoff! Na, dann! Was jetzt? Also, da bleib ich nicht, soviel steht fest! Lauter Dillos. Außerdem kann mich das Pack sowieso nicht leiden; die bleiben lieber unter sich. – Zum Tschechen auf einen Absinth? Wie spät? Kaum Neun. Die Straßenbahnen fahren noch. Und danach, wenn ich eh schon drin bin, auf einen Sprung zu Ossi. Hab eh fast nix zum Kiffen mehr daheim.“

Er steht auf, im Anziehen:

Alfred:

„Trinkst du zerscht zwei Biere, / haut ein Joint / dich massiv fiere!

Also dann, auf zu Ossi!“

Mit einem bedauernden Blick auf die zwei vollen Flaschen Bier auf dem Tisch steht Alfred auf, zieht sich an und verlässt grußlos das Lokal

Zugabe

Ollas a Fars

Am selben Abend gegen Mitternacht in einer Studentenwohnung in der Josefstadt.

Alfred tritt in ein abgedunkeltes, verrauchtes Zimmer, wo eine kleine Gruppe nicht mehr ganzjunger Leute um einen niedrigen Tisch versammelt ist. Auf dem Tisch stehen einige Wein- und Bierflaschen, Gläser, überfüllte Aschenbecher, usw. Im Hintergrund gedämpfte Reggaemusik.

Alfred: „Hallo zusammen!“

Egon, deutlich angeheitert: „Jöh! Da Alfred! Homs da Ausgang gebn ausm Oitasheim?“

Gelächter.

Leo: „Dass der noch lebt! Ich hab geglaubt, den hod scho s’Schlagerl derwischt! Aber Unkraut, scheints, vergeht ned!“

Egon: „Oba ausschaun duat ahr wiara Zombie. San des Spinnwebn unta seina Nosn? – Na, i glaub, des is Rotz!“

Siri: „Pfui Deibl, Egon! Du bist echt eine Sau!“

Gelächter.

Ossi: „Alfred! So spät noch unterwegs?“

Alfred: „Servus Ossi. Da ist ja was los bei euch! Darf ich mich dazu setzen?“

Ossi, generös, lädt ihn ein, sich zu setzen.

Alfred zieht seine Jacke aus und sucht nach einem Ort, wo er sie ablegen könnte. In eine Ecke des Zimmers liegt ein Haufe Winterjacken und Mäntel am Boden. Alfred zögert kurz, hängt seinen Parka dann über die Lehne eines freien Stuhls und setzt sich.

Siri: „Da ist besetzt! Da sitzt die Julia!“

Alfred, will aufstehen und den Platz wechseln: „Tschuldigung! Sitzt da auch –“

Ossi: „Ach was! Setzt dich hin, wo Platz ist!“

Siri, wirft Oskar einen giftigen Blick zu: „Aber wenn die Julia zurückkommt –“

Ossi: „Passt schon, Alfred. Sag, was führt dich zu uns? Willst was trinken?“

Alfred: „Kann ich dich kurz sprechen, Ossi?“

Ossi: „Sicher. Was gibt’s?“

Alfred: „Können wir vielleicht —?“

Deutet an, dass er Ossi allein sprechen will, draußen. Ossi, mit theatralischem Seufzen, erhebt sich —

„Da glaubt man, man hat einmal seine Ruh –!“

Sie gehen nach Draußen. Vor der Tür

Ossi: „Was gibt’s?“

Alfred, verschwörerisch: „Ossi. Ich brauch was zum Kiffen. Hast du was?“

Ossi: „Hör mal, was glaubst du! Ich bin doch kein Dealer!“

Alfred: „Das weiß ich doch! Aber du hast doch meistens –“

Ossi: „He! Ich bin selber knapp!“

Alfred: „Ich brauch nicht viel, Ossi! Nur für einen Joint, oder zwei!“

Ossi: „Also, echt, Alfred! Aber gratis ist das nicht!“

Alfred: „Natürlich, Ossi! Ich hab Geld!“

Ossi kramt, indem er sich von Alfred abwendet, in der kleinen Tasche, die er an seinem Gürtel hängen hat –

Ossi: „Da. Das ist ein gutes Gramm, mehr kann ich dir nicht geben.“

Alfred befühlt das kleine, in Zellophan gewickelte Kügelchen. Gras. Nicht viel, aber für einen kräftigen Joint vor dem Schlafengehen zuhause sollte es reichen.

Alfred: „Was willst du dafür?“

Ossi: „Zehn.“

Alfred: „Zehn!“

Betastet zweifelnd das kleine Päckchen, zögert, schließlich

Alfred: „Da hast. Zehn!“

Er verstaut das kleine Päckchen sorgsam in seiner Hosentasche, bevor er hinter Ossi das Zimmer wieder betritt.

Siri hat sich inzwischen auf den für Julia reklamierten Platz gesetzt und Alfreds Jacke auf den Boden geworfen. Alfred nimmt es wortlos zur Kenntnis, hebt die Jacke auf und sieht sich nach einemanderen Platz um. Findet einen auf dem Sofa neben dem Dicken.

Alfred: „Ist da noch frei?“

Der Dicke: „Wenn du neben mir Platz hast?“

Alfred: „Aber sicher. Ich brauch nicht viel.“

Der Dicke: „Ich schon.“

Alfred: „Ich bin Alfred.“

Der Dicke: „Ich bin ‚der Blade‘.“

Alfred: „Dann bin ich ‚der Gstauchte‘. Angenehm.“

Beide lachen. Sie geben sich die Hand. Alfred setzt sich. Pause. Alfred dreht sich eine Zigarette.

Der Dicke: „Du bist also Maler.“

Alfred: „Maler? Ich? Nein! Ich hab mal gemalt, früher.“

Der Dicke: „Ja, Ossi hat’s erzählt. Das Bild dort sei von dir.“

Alfred, mit Blick auf das Porträt einer jungen Frau über Ossis Fauteuil an der Wand –

Alfred: „Ja, das ist von mir. Hab ich ganz vergessen, dass er das hat.“

Der Dicke: „Es ist gut. Warum hast du aufgehört?“

Alfred: „Eine lange Geschichte schnell erzählt: kleine Wohnung, anstrengende Jobs, keine Begabung für Erfolg.“

Der Dicke: „Ja, so geht’s. Das Leben ist nicht fair, wie die Amerikaner sagen.“

Alfred: „Ist besser so. Außerdem: Es gibt in Zeiten wie diesen Wichtigeres, als Farben auf eine Leinwand zu schmieren!“

Der Dicke: „Kann schon sein. Aber...“

Alfred: „Ich meine, wer begriffen hat, was uns bevorsteht…!“

Der Dicke: „Du redest vom Klimawandel. Aber auch da hat die Kunst doch eine wichtige...“

Alfred: „Wovon ich rede? Wovon ich rede?! Ich rede davon, dass die Menschheit einer existenziellen Herausforderung gegenübersteht, für die sie in keiner Weise bereit ist. Uns erwartet das, was ich einmal als ‚Das Bottleneck-Desaster‘ bezeichnet habe. — Tatsächlich arbeite ich gerade an einem Essay zu diesem Thema.“

Der Dicke: „Wirklich? Interessant!“

Alfred: „Titel: Die Reifeprüfung; werden wir bestehen? Ich spiele dabei den Advocatus Diavoli und behaupte: wir werden nicht.“

Der Dicke: „Werden wir nicht?“

Alfred: „Nein. Wenig wahrscheinlich. Es wäre ein Wunder, wenn – hör zu!

Erstens: Es gibt viel zu viele Menschen auf der Welt.

Zweitens: Diese Milliarden Menschen produzieren, gezwungen durch ein anachronistisches System, viel zu viele vollkommen unnütze Dinge.

Drittens: Dieses System, der Kapitalismus, ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern das Machtinstrument, mit dessen Hilfe sich die winzige Elite des Planeten an der Macht hält. Es aufzugeben würde nicht nur bedeuten, auf die Macht zu verzichten, sondern auch, die soziale Ordnung zu zerstören. Anarchie und Chaos wären die Folge. Darum glauben sich die Herrschenden subjektiv im Recht, wenn sie alles tun, um ihr System zu schützen. Ein System, das die Menschheit allerdings gnadenlos in den Abgrund treibt.

Und Viertens: Obwohl viele Menschen das sehen, sind sie doch unfähig, eine wirksame Gegenwehr zu organisieren. Weil

a: Wir befinden uns schon im Sog des Mahlstroms. Viel zu viele Menschen kämpfen schon jetzt ums nackte Überleben. Und jeder versucht, sich über Wasser zu halten in der Hoffnung, dass die Regierenden es schon irgendwie schaffen. Denn die Alternative, der Zusammenbruch der Ordnung, wie prekär sie auch immer sein mag, würde für sie keineswegs die Rettung bedeuten. Im Gegenteil!

Und b: Die kollektive Intelligenz der Menschheit, ohnehin stark behindert durch einen tief in unserer Psyche verankerten Irrationalismus, wird durch die aufkommende Panik keineswegs gefördert. Wir neigen ja ohnehin zur Hysterie, nicht wahr? Selbst in unseren besten Zeiten waren wir nicht viel mehr, als eine Milliardenhorde zänkischer Affen. Wer dürfte von uns erwarten, dass wir in Zeiten wie diesen vernünftig handeln?

Nein, Freund! Wir werden diese Prüfung nicht bestehen! Die Menschheit, das wette ich, fällt durch!“

Der Dicke: „Da ist was dran. Aber trotzdem: ist deine Sicht auf die Menschheit nicht ein wenig zu pessimistisch? Ich meine, du tust ja grad so, als stünden wir vor dem Weltuntergang —“

Alfred: „Das wohl nicht. Sicher aber wird diese unsere Zivilisation untergehen. Ja, das ist meine These. Überleben werden wir nur, wenn wir dieses System, diese Kultur, diese Form der Zivilisation überwinden. Und dafür stehen die Chancen erdenklich schlecht. Ich fürchte, wir werden die Transformation nicht herbeiführen, wir werden sie erleiden.“

Der Dicke: „Verstehe. Echt deprimierend, wenn man es sich überlegt…“

Ossi, der die letzten Sätze gehört hat, mischt sich ein –

Ossi: „Dumm ist nur, lieber Alfred, dass deinen Essay vermutlich nie jemand zu lesen bekommen wird.“

Alfred: „Wie? Warum?“

Ossi: „Vorausgesetzt, du kriegst diesen Aufsatz wirklich irgendwann fertig, wer wird ihn drucken?“

Der Dicke: „Genau! Wer will so etwas Deprimierendes schon lesen?!“

Alfred: „Stimmt schon. Aber ich hab einen Verleger gefunden, der veröffentlicht alles, was ich schreibe!“

Der Dicke: „Na, dann: gratuliere! Und wie heißt der Verlag?“

Alfred: „Epikur.“

Ossi: „Epikur? Nie gehört. Du?“

Der Dicke verneint.

Ossi: „Na, ja, das Risiko für den Verlag ist ja nicht allzu groß! Seit ich den Alfred kenne redet er vom Schreiben, aber eine Zeile zu lesen bekommen hab ich bis heute nicht!“

Egon, der den letzten Satz mitgehört hat: „Dea Alfi is hoit ana, dem wos nix eifoit, waun eam wos eifoin soi. Ged mia ah aso, waun i nix sauf!“

Siri, verächtlich: „Dem kommt auch nix aus, wenn er auf dem Scheißhaus sitzt. Da kann er drücken, soviel er will!“

Gelächter

Alfred: „Ihr seid alle Ignoranten. Wetten, dass ich euch eine Geschichte aus dem Stehgreif erzähl, die ihr so, wie sie aus meinem Mund kommt, drucken und in den Buchhandel bringen könnt!“

Ossi: „Die Wette nehm’ ich an!“

Alfred: „Und um was wetten wir?“

Ossi: „Ich setz einen dicken, fetten Joint!“

Alfred: „Eine Runde Bier dagegen!“

Ossi: „Abgemacht! Seid ruhig Leute, es geht los: unser Dichter erzählt uns eine Geschichte!“

Alfred: „Also gut! Los geht’s:

Es war zu jener Zeit, da ich in Wien umherging und hungerte.“

Ossi: „Wie bitte?“

Alfred: „Was ist?“

Ossi: „Du hast doch dein Leben lang nicht gehungert! So lang ich den kleinen Scheißkerl kenne, hat der gefressen wie ein Eisenbieger. Stimmts nicht, Egon?“

Egon, der sich eben ein Stück Pizza in den Mund geschoben hat kauend: „Wos haasst!“

Alfred: „Es ist eine Geschichte, Literatur, Mann!

‚Ihr wilden Hirten, schändliches Übel, bloße Bäuche! Wir verstehen viel Unwahres zu sagen, das dem Wahren ähnlich ist, wir verstehen aber auch, wenn wir wollen, Wahrheit zu verkünden.‘ Hesiod, Auftritt der Musen – schon davon gehört?“

Leo, der sich wieder einmal an seinem Joint verhustet hat, keuchend:

„Scheunendrescher – es heißt ,Scheunendrescher‘.“

Alfred: „Es geht beides. Auch die Eisenbieger waren…“

Leo: „Es heißt: ,Gefressen wie ein Scheunendrescher‘!“

Der Dicke: „Eisenbieger, Scheunendrescher! Was solls!“

Alfred: „Eisenbieger ist auch richtig. Auch die Eisenbieger waren …“

Leo: „Es heißt Scheunendrescher, das weiß sogar ich! Du als Schriftsteller solltest –“

Alfred: „Ich bin kein Schriftsteller! Ich schreibe gelegentlich einen Text, wenn mir danach ist. Das ist alles.“

Der Dicke: „Du schreibst, also bist du Schriftsteller!“

Alfred: „Ich war und bin immer Arbeiter, sonst nichts. Kann ein Proletarier nicht auch ein oder zwei Talente haben?“

Ossi: „Ich dachte, du bist in Pension?“

Alfred: „Seit drei Jahren, stimmt. Da kommen mir meine Talente zu Gute. Ich wüsste nicht, wie ich meine Zeit sonst totschlagen sollte. Im Fernseh’n spielen sie ja nur Wiederholungen, stimmt’s?“

Siri, die neben Ossi gelangweilt in einer Illustrierten geblättert hat stößt diesen in die Seite: „Was ist? Willst du das Gerät ganz allein rauchen?“

Egon lauthals: „Genau! Ossi, du gieriges altes Schwein!“

Lacht, wischt sich mit dem Hemdsärmel Tomatensauce aus dem Gesicht.

Ossi, verärgert: „Du alter Schnorrer hast überhaupt nichts zu melden, klar? Das ist mein Dope, und wenn mir danach ist, dann rauch ich den ganzen Joint allein! Merkt euch das!“

Siri, begütigend: „War doch nicht so gemeint, Hasi! Du kennst doch den Egon! Der hat sie doch nicht alle.“

Alfred: „Apropos Bier: gibt’s noch ein Bier im Haus? Ich brauch jetzt was zum Saufen; nüchtern halt ich euch Ignoranten nicht aus!“

Grinst, als habe er einen guten Witz gemacht. Aber niemand lacht.

Ossi, gnädig: „Im Kühlschrank. Und bring gleich mehr!“

Alfred verlässt den Raum.

Leo, der von der ganzen Unterhaltung inzwischen nichts mitbekommen hat: „Ist doch wahr! Auch die künstlerische Freiheit hat ihre Grenzen!“

Egon, lacht: „Genau!“

Der Dicke: „Glaubt ihr die Sache mit dem Verlag?“

Egon: „Ach, was! Kein Wort!“

Siri: „Gibt es diesen Verlag überhaupt? Kennt den wer?“

Leo: „Quatsch! Es gibt keinen Verlag.“

Siri: „Genau! Das glaub ich auch! Der macht sich doch immer wichtig, der ist doch verrückt!“

Ossi: „Den Verlag gibt es vielleicht. Aber den Verleger, der alles von ihm drucken will, den gibt es sicher nicht. Wenn unser kleiner ‚Proletarier‘ eins nicht ist, dann ein kreatives Genie!“

Der Dicke: „Er kompensiert halt. Entschädigt sich für seine bescheidene Existenz mit Geschichten, die er womöglich selber glaubt.“

Leo: „Alfred Supermann macht alle zur Schnecke!“

Egon: „Alfred Superschneck! – Heast, des is a klasse Idee: Alfred Superschneck jagt John Grille, das teuflische Genie!“

Siri, kichernd: „Egon, du bist ein Idiot. Aber ein lieber – Egon, ich glaub, ich hab mich in dich verliebt –“

Egon: „I glaub, mir wird schlecht!“

Siri, wirft Egon eine Kusshand zu: „Vielleicht lass ich dich einmal an meiner Pussi lecken. Würde dir das gefallen? – Träum weiter, alter Wixer!“

Ossi, der seinen Joint eben an Siri weitergegeben hat: „Dreht hier vielleicht einer einen Joint? Oder muss ich alles selber machen?“

Alfred kommt mit einem Arm voller Bierflaschen aus der Küche zurück.

Alfred: „Wo sind eigentlich Julia und -“ sucht den Namen des anderen Mädchens — „mein verdammtes Gedächtnis! - na, die andere, die Russin!?“

Siri, betont: „Pelagia. PE-LA-GI-A! Und sie ist Polin! Du solltest einmal zum Arzt geh‘n und dein Gehirn untersuchen lassen. Du bist ja schon total verkalkt!“

Sie lacht lauthals und entblößt dabei ihre kariösen Zähne. Alfred zeigt ihr den Vogel.

Siri laut, merkwürdig erregt: „Ja, du! Du spinnst! Sagt doch ein jeder! Du und deine bescheuerten Geschichten!“

Alfred, zu Ossi: „He, wie hältst du diese Tussi nur aus? Die ist doch nicht dicht!“

Ossi, mit anzüglicher Geste: „Sie ist gut im Bett.“

Siri, empört: „Er hat mich eine Tussi genannt!“

Der Dicke: „Also, ich finde, der Umgangston hier lässt generell zu wünschen übrig.“

Siri: „Stimmt genau! Wie bei den Proleten! Und genau das bist du, Alfred: ein ordinärer Prolet!“

Sie schüttet Alfred über den Tisch hinweg den Inhalt ihres Bierglases ins Gesicht.

Siri: „Da hast du deine Tussi, du Arsch!“

Egon lacht grölend: „Suupa! Endlich gibt’s a Äktschn!“

Leo mischt sich begütigend ein, versucht, Siri aufs Sofa zu drücken.

Leo: „Bitte, Siri, setz dich wieder hin. Ja, du hast ja recht, aber jetzt ist wieder genug. Und er wird sich bei dir entschuldigen. Stimmt’s?“

Siri lässt es sich gefallen, setzt sich, schlägt trotzig die Beine übereinander, starrt dem Alfred ins Gesicht.

Siri: „Ich warte!“

Alfred ist aufgestanden, ruhig trocknet er sich mit einem Papiertaschentuch das Gesicht.

Alfred: „Tut mir leid. Ich hätte die Tussi nicht Tussi nennen sollen.“

Ein Bierglas fliegt durch die Luft, verfehlt Alfred knapp und klatscht zersplitternd genau in dem Moment an die Tür, als zwei jungen Frauen eintreten. Erschrocken bleiben sie im Türrahmen stehen, versuchen, die Szene in dem verrauchten, halbdunklen Raum zu erfassen. — Alfred dreht sich zu den beiden um und sagt, indem er seine Jacke überzieht:

Alfred: „Keine Sorge, Ladies! In der Küche gibts noch jede Menge Gläser.“

Drängt sich an ihnen vorbei und geht türeknallend ab. – Gelächter. – Kleine Pause, während Ossi die beiden eben Dazugekommenen sich aus den Mänteln pellen.

Julia: „Was war denn los hier?“

Ossi: „Was schon! Unser Genie hat wieder einmal die Siri beleidigt.“

Julia: „Ist das wahr? Ich frag mich, warum er immer wieder herkommt, wo ihn doch keiner mag?“

Ossi: „Na, warum wohl? Er hofft, er kriegt was zum Kiffen!“

Julia: „Du hast ihm doch nichts verkauft?“

Ossi, klopft sich auf die Schenkel, lacht: „Doch, hab ich! Ein halbes Gramm. Zum doppelten Preis!“

Alle lachen hellauf.

Pelagia: „Ihr seid gemein! Das ist nicht mehr Spaß!“

Ossi: „Stimmt. Das hat schon mehr von einer Tragödie.“

Leo, theatralisch: „Ist es eine Komödie, ist es eine Tragödie?“

Egon: „Waast wos? Waunst mi frogst: es is ollas a Fars! Ossi, kumm Oida, bau no wos oh —“

ENDE

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
2022
Autor/inn/en:

Peter Gutjahr:

Foto: Selbstportrait, 2016
Geboren 1954 in Hard, Vorarlberg, Österreich. Lebt seit seiner Pensionierung in einem Gemeindebau in Ottakring / Wien. Vertreibt sich die Zeit mit Malen und Schreiben. Arbeitet gelegentlich an einer „AdFinitum" betitelten Sammlung von Meinungen, Kommentaren, Beobachtungen, die, da er seinen Tod wohl nicht wird dokumentieren können, irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft als vollendet der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden darf.

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