FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 125
Albert Paris Gütersloh

Über Kritik und über mich selbst

Im ersten Dezennium dieses Jahrhunderts wurde ein Junger Mensch von schon einigem literarischen Ansehen — er hatte ein Buch geschrieben, das für die militanten Ungläubigen von damals sofort an die Stelle der bisherigen Korane oder Bibeln getreten war, den ersten expressionistischen Roman — als Kunstkriegsberichterstatter nach Paris geschickt. Und in der Tat: Paris glich einem Schlachtfeld. Allerdings einem bereits so ziemlich eindeutig von den Modernisten beherrschten. Man wußte zwar noch nicht genau, was von den malerisch herumliegenden Artefakten des Freundes oder des Feindes ist, wer tot, verwundet oder heil, wer Vorkämpfer, wer bloß Mitkämpfer, wer Original und wer bereits Nachahmer, aber: dieses genaue Wissen hat man nicht, und hat man auch nicht nötig zu haben, solange da und dort noch einige Gewehre knallen, und die große Gemeinschaft der Marodeure noch nicht wagt, die Erde der Heldengräber in geschäftblühendes Land zu verwandeln. Es war der von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende prüflingshafte Augenblick des Überfragtseins der Kritik. Soferne wir nämlich die kritische Tätigkeit als eine solche betrachten, der als Werkstoff ein Kunstwerk vorausliegen muß, wir aber zugleich nicht umhin können, einzuräumen, daß der notwendige Kunstcharakter des Werkstoffes keineswegs feststeht. Der kritische Geist, der in einer das sichere Erbe allgemein anerkannter Väter weitertradierenden Epoche an die leichtere Aufgabe sich gewöhnt hat, nur bald kleinere, bald größere Abweichungen vom gültigen Maximum zu inkriminieren, sieht sich dem sogenannten Neuen gegenüber — von dem begreiflicherweise weder das Maximum noch das Minimum bereits feststeht — in die höchst peinliche Lage versetzt, zwischen Wert und Unwert entscheiden zu sollen beziehungsweise zu müssen. Woher aber nimmt er nun, der bis dahin mit dem akademischen Lineal die richtige oder falsche Länge eines Maler- oder Bildhauerarmes gemessen hat, einen Maßstab, der nicht nur die übliche Gradeinteilung aufweist, sondern auch jener Zauberstab ist, der jenes der Nachwelt vorbehaltene Urteil in das der Gegenwart verwandelt? Was unmöglich ist, aber immer wieder als möglich vorgetäuscht wird, um die unverläßliche Kinderstube der Zeitungsleser bei Respekt vor dem gedruckten Wort zu erhalten.

Ich gestatte mir, meine trockenen Ausführungen mit einer saftigen Anekdote zu unterbrechen. Es gab damals ein angesehenes Blatt, „Die Neue Freie Presse“, in deren Feuilletonteil die jungen Künstler aufs schmählichste behandelt wurden. Ob zu Recht oder zu Unrecht, kommt nach oben Gesagtem nicht in Frage. Denn: Wert und Unwert des Neuen trennen sich erst dann voneinander, wenn es alt geworden ist; wie ja im Menschen der Mensch erst dann erscheint, wenn Schönheit und Kraft dahingefallen sind, und er ohne die zusätzlichen Hilfsmittel der Natur, ohne Schwert und Schild im Kampfgetümmel steht, und sozusagen nackt an das Gute oder Christliche im Nebenmenschen appellieren muß: spät, aber doch. Ich kehre zur Anekdote zurück: Als den jungen Künstlern das Maß der ihre Hervorbringungen herabsetzende Adjektiva voll zu sein schien, begaben sie sich zum Herausgeber des Blattes, dem Herrenhausmitgliede und Leibmodell des Satirenzeichners Karl Kraus — der aus diesem Ruhme bereits eine legendäre Existenz zu führen begonnen hatte: die höchste Art von Leben, die einer führen kann! — zum Herrn Moritz Benedikt, und verklagten bitter den unseligen Seligmann. „Meine Herren“, sagte mit eiserner Liebenswürdigkeit, die wahrscheinlich auch der Höllenfürst zeigt, soferne ihm jemand von den Rechten Gottes spricht, Herr Moritz Benedikt, „Meine Herren! Urteilen Sie selbst: welchen Glauben noch würden meine Leser dem Börsenteil meines Blattes entgegenbringen, wenn ich unter dem Striche Ihre unsichere Ware anpriese. Möglich, ja gewiß, daß Sie die Raffaels von morgen sind, sowie wahrscheinlich der Jud, den ich eben an seinen Hosenträgern hinausgeworfen habe, der Rothschild von morgen ist. Aber lassen Sie mir Zeit. Denn Sie sind unsterblich. Ich aber bin ebenso vergänglich, wie meine Leser vergänglich sind. Wollen Sie uns armen Würmern nicht diese wenigen Jahre ökonomischer Sicherheit vergönnen? Lassen Sie mir zehn, lassen Sie mir zwanzig, lassen Sie mir fünfzig Jahre Zeit — Sie selbst haben ja unendlich viel Zeit und dann kommen Sie wieder. Und seien Sie versichert, daß ich mich keinen Augenblick lang bedenken werde, dem Kapital zu empfehlen, einen Großteil desselben in Ihre Werke zu investieren!“

Herr Benedikt sah das Problem nur von einer Seite, eben von der Börsenseite, aber er sah eines vorliegen. Er verstand, ohne je vielleicht den horazischen Wortlaut gelesen zu haben, das auch auf eine vorzeitig wertende Kritik sich beziehende: nonum primatur in annum. Er wußte als Mann der Wirtschaft, gewohnt, in den langen Zeiträumen des Amortisierens von Kapitaleinlagen zu denken, daß große Unternehmungen, die von ihrer Natur aus auf Dauer hingeordnet sind, wie politische und künstlerische, nicht von einer einzigen Generation sowohl gewertet wie ausgewertet werden können. Daß weder eine Fabrik noch ein Maleratelier isoliert im soziologischen Ganzen stehen! Daß die Prozesse, die von außen her an ihnen tätig sind, die intensive Langsamkeit des gutta cavat lapidem haben, des stetig auf einen Stein fallenden Tropfens aus einem undichten Wasserhahn!

Den heutigen und hiesigen Verhältnissen uns zuwendend, in der Kritik und Kunst zueinander stehen, müssen wir die Feststellung machen, daß sie weitaus freundlicher sind, als die damaligen gewesen waren. Abgesehen von einigen Käseblättchen, die eine Mischung von Reaktion und Provinz gegen das schmerzliche Gliederreißen des Avantgardismus empfehlen, zeigen die Journale keine prinzipielle Scheu mehr vor dem Neuen. Ja, man kann sogar sagen, daß sie einem skandalösen Vorfalle auf dem Gebiete des Malens oder Bildhauens beinahe den Rang des neuesten Raubmordes oder der jüngsten Kinderschändung zubilligen.

Wie sollen wir eine solche Gunstbezeugung deuten? Sitzen in den Redaktionen vielleicht Leute der fünften Kolonne des allgemein Modernen, nämlich Avantgardisten? Oder Philosophen, die den Begriff der Kritik so sauber aus dem wilden Fleisch seiner Konkretionen zu lösen verstehen wie der gelernte Vorschneider das gebratene Ferkelchen von seinen Knochen? Oder hat vielleicht gar das die Kunstausstellung stürmende Publikum Protest eingelegt, daß die Journale ihr sowohl den Umsatz wie die sogenannte Kultur hebendes, überaus lobenswürdiges Verhalten einfach totschweigen? Nichts von alledem. Die Beweggründe dieser scheinbaren Gesinnungsänderung liegen tiefer, ja liegen ebenso tief wie die des seligen Herrn Benedikt, liegen ebenfalls auf der Börsenseite. Um jetzt das harte Wort zu sagen, das die berufsmäßigen Ästhetiker nicht gerne hören, weil es nicht von einer Stimme aus einem nebulosen Himmel gesprochen wird, nicht aus einem fingierten metaphysischen Hinterkopf tönt, sondern aus der Erde, gleichsam als Solostimme über dem harmonischen Zusammenklang der Dissonanzen, wie ich den soziologischen Befund nennen möchte. Wir sind arm geworden. Nicht so sehr an barem Gelde — sondern an Beziehungen des Geldes zu jedem Tun und Lassen des Einzelnen: — arm an metaphorischen Ausdrucksformen für Geldwert, zu welchen metaphorischen Ausdrucksformen nicht nur eine strenge Moralität innerhalb des egoistischen Familienganzen, ein auf wenige staatlich genehmigte Bekenntnisse eingeschränkter Konfessionalismus, ein kritikloser Patriotismus, der weniger dem Vaterlande als der Erhaltung des Status quo in demselben galt, auch die Förderung der Operetten und der Heurigengesinnung — alles Sicherungen gegen eine Erschütterung der Rente —, zu zählen gewesen sind, sondern auch Kunst und Wissenschaft, die gewissermaßen die Aufgabe hatten, ihren bis nun erreichten Hochstand als den höchstmöglichen, nicht mehr überschreitbaren, zu bekräftigen und somit auch zu perennieren.

Folge dieser Pax austro-hungarica war — wie wir Älteren bezeugen können —, daß Künste und Wissenschaften wahrhaftig blühten. Zwar wie im Glashaus, nämlich fern von ihrem echten Erdboden — deswegen geschützt auch vor jedem Erdbeben — Inzucht treibend mit der Tradition und wegen ihrer etwas anämischen Schönheit das Sonntagsvergnügen der spazierengeführten, wohlerzogenen, gelehrten und kunstbegeisterten Kinder: aber sie blühten, und blühten so lange, als der Gärtner ihnen die nötige warme Luft zublasen konnte, und das heißt, solange es Leute gegeben hat, die eine nur scheinbar überflüssige Dampfheizung bei Betrieb zu erhalten vermocht haben. 1914 erkaltete das unterirdische kapitalistische Röhrensystem zum ersten Male. Und wie zum Beweise für unsere Theorie von den unendlich vielen metaphorischen Ausdrucksformen des in Arbeit angelegten Geldes, welche Formen gleichsam die Rolle der roten Blutkörperchen spielten und Leben selbst bis dorthin trugen, wo ein neues Leben dem alten sich widersetzte, also bis in die revolutionäre Zelle, die den Wirten, den sie hohlfrißt und zerstört, zur Vorbedingung hat wie die Antithese die These, starb in noch jugendlichem Alter der Expressionismus. Jäher hat kaum jemals eine sogenannte Bewegung ihr Ende gefunden. Fast alle anderen Bewegungen — und jede Bewegung, wo gewollte Bewegungslosigkeit herrscht, ist eine Revolution — haben das Mannes-, ja oft das Greisenalter erreicht, wie etwa der Impressionismus, weil die Epoche, wider welche sie sich bewegt haben, sie überdauert hat. Wir haben seit 1914 einen kurzen geschichtlichen Atem. Politische Systeme überstürzen einander. Krieg und Frieden, Monarchie, Demokratie, Totalitarismus und wieder Demokratie traten einander auf die Fersen. Eine Vermögensumschichtung folgte der anderen. Der Altbesitz, gewohnt, jeder ihm eignenden oder zur Aneignung bereitstehenden Sache Dauer zu vindizieren beziehungsweise sie der Zensur des Dauerbegriffs zu unterwerfen, hat selbstverständlich bei der Aneignung bloß materieller Dinge nicht haltgemacht — denn alles, was Habitus geworden ist, die Tugendhaftigkeit oder die Lasterhaftigkeit, das Raffen oder Verzichten, tendiert zu immer weiterer Sublimierung — sondern ist zu den geistigen Gütern fortgeschritten, nicht natürlich um dieser selbst willen, sondern deswegen, weil in einem kapitalistisch durchorganisierten Ganzen auch die geistigen Werte Wertpapiere sind oder zu solchen werden können. Wie Macht sich in Recht verwandelt, so verwandelt sich Kapital, wenn es wenigstens ein langes Lebensalter unter derselben Hand bleibt, notwendig in Kultur, das heißt, die Tendenz zu Sublimierung setzt sich immer mehr durch, erreicht in großzügigem Mäzenatentum seine Akme, um in den Söhnen oder den Enkeln, spätestens in den Urenkeln, die dann weder Kaufleute noch Künstler sein werden — eine lebensuntüchtige Kreuzung aus beiden — ebenso notwendig wieder zu zerfallen. Schon diese recht abgekürzte Geschichte eines normalen Vermögensverlaufs in einer friedlichen Epoche, eine welche zum Beispiel die franzisko-josephinische gewesen ist, zeigt deutlich, wie diese unter abnormalen Umständen aussehen wird. Die neuen Reichen nämlich gelangen gar nicht bis zu jener Stelle, auf der die obenerwähnte Sublimierung stattzufinden pflegt. Sie haben nur Zeit, aber keine Dauer, soferne wir unter Dauer eine bereits unüberblickbar gewordene Zeitmenge verstehen, welcher ex defectu des Wahrnehmungsvermögens eine denkerisch falsche, aber für die Praxis höchst nützliche Unendlichkeit innewohnt.

Es besteht sonach für das Nachkriegs- oder Nachumsturzkapital so gut wie gar keine oder eine nur ganz geringe Möglichkeit, an der Förderung geistiger Güter sich zu beteiligen. Die ägyptische Sorge um die Sicherung auch des Entferntesten, des Geistigsten also, weil auch in diesem Entferntesten und Geistigsten ein Materielles deponiert worden ist, herrscht nicht mehr. Das Vermögen hat nur noch Beziehung zum allernächsten geldschaffenden Wert. Und somit erübrigt sich, es zu warnen, in annoch dubiosen Werten sich festzulegen. Was heute und hierzulande in der bildenden Kunst geschieht, geschieht jenseits der höchst geringräumigen Interessenzone der noch besitzenden Klasse. Dieses Geschehen berührt sie nicht und gefährdet sie nicht. Und so versteht man jetzt das sonst gar nicht so selbstverständliche Erscheinen der Kritik im Schafspelz des abgrundtiefen Verständnisses für die Abirrungen der sogenannt modernen Kunst. Es besteht ja heute nicht die geringste Gefahr, es könnte ein privater Jemand ein Bild oder die Statue eines modernen Künstlers kaufen beziehungsweise von der Kritik zu solch kühner Tat sich bewegen oder von derselben Kritik von einer unvernünftigen sich abhalten lassen. Setzt er diese Tat dennoch, so setzt er sie als eine die Regel bestätigende Ausnahme oder aus einem von Schuldgefühlen ob seiner schwächlichen Reaktion auf geistige Werte beunruhigten Gewissen, das durch den schweren Bußakt des Erwerbens eines Kunstdings Absolution und Befriedigung zu erlangen hofft, oder als eine bald mehr, bald weniger gut getarnte Caritas, als welche die diesbezüglichen Bemühungen des Staates, der Länder und der Gemeinden anzusprechen sind. Aber Mensch und Institution empfangen Anregungen zu ihrem Tun oder Korrekturen desselben nicht von den kritischen Äußerungen, denen der Charakter des berufsmäßig Notwendigen fehlt und der Charakter einer Liebhaberei eignet, durch welchen Charakter — wegen seiner Unnützheit, seiner Ferialität, seiner köstlichen, aber auch kostspieligen Überflüssigkeit — diese Äußerungen fast den Charakter einer Kunstausübung erreichen.

Und damit sind wir auf einem großen, aber notwendigen Umweg wieder bei jenem jungen Manne angelangt, den wir als Kunstberichterstatter in das Paris von vor 1910 haben einziehen sehen. Als der vom Literarischen herkommende junge Mann seine ersten Besuche bei den Futuristen und Kubisten, bei Matisse, Utrillo, Chagall, Kißling, bei Archipenko und Zatkine im Salon des Indépendants, des Salon d’Automne, in den Ateliers und bei den Kunsthändlern, vor allem bei Ambroise Vollard, wo ihm die letzten Cézannes gezeigt worden waren, beendet und in sein kleines Zimmer an der Ecke Rue du Faubourg St. Honoré und der Place des Ternes sich zurückgezogen hatte, um eine sogenannte Kritik zu schreiben, mußte er, ohne die Feder aus dem Tintenfasse ziehen zu können, zuerst das folgende den vier Wänden bekennen: daß die Inhalte der gesehenen Werke ihn zwar sehr verwandt, ja sogar sehr bekannt anmuteten, er aber schließlich nicht nach hier gekommen sei, um von neuen oder neugefaßten Inhalten zu berichten — wie das die niederste Art der Literaturkritik tut — sondern von dem neuen Wie des Gesagten, kurz: von der Sprache, in der diese Inhalte vorgetragen wurden. Noch kürzer: er hätte zu erforschen, ob Inhalt oder Ausdruck einander decken, ob gerade diese Mal- und Figurenbildweise auch die einzige ihren Gegenständen angemessene sei. Denn nicht am Erfinden von kühnen Fabeln erkennt man den Dichter, sondern an der solcher Kühnheit adäquaten oder sie noch übertreffenden Sprache. Denn einer Sprache, die wahrhaft Sprache ist, fällt von außen oder innen nichts zu, was nicht genau ihrem Vokabelschatz und der ihr eigentümlichen Grammatik entspricht. Was den sogenannten Stoff anlangt, gibt es im echten Maler und im echten Dichter eine Vorherbestimmung desselben. Nur diesem Maler da oder diesem Dichter dort kommen nur dieses Modell beziehungsweise nur diese Farben zu. Was also unserem jungen Manne nach dem ersten Blicke auf eine Seite Prosa, ja schon auf den Eingangssatz in Evidenz sich verhärtet hätte, daß da ein Schulaufsatzschreiber an der Feder nagt, dort ein Schriftsteller dieselbe Feder wie einen Griffel gebraucht und in das Papier wie in Erz gräbt — dieses mühelose, weil erstige Urteilen über das Organische oder Unorganische eines auf künstliche Weise Zustandegekommenen, von welchem Ururteile alle ihm folgenden Urteile, wie schön oder häßlich, gekonnt oder ungekonnt, dependieren — so etwa, wie die Wissenschaft der Ontologie von dem aristotelisch-tomistischen Satze ausgeht, primum quod cadit in conceptionem intellectus est ens, was auf deutsch heißt, das erste, was in die Begreifung des Verstandes fällt, ist seiend — wollte nicht und nicht vor den bemalten Leinwanden standhalten. Was war die Ursache dieses Versagens? Der Inhalt konnte es nicht sein. Denn der Inhalt war entweder verständlich oder doch verstehbar, wie etwa die zerlegte Gitarre des Picasso. Da aber der Inhalt eines Bildes nicht nur nicht das ganze Bild ist, vielmehr nur das Gerippe, das der Maler mit Farben bekleidet, so müssen doch wohl zumindest drei Viertel des Bildes von einem unverstehbaren oder zumindest nicht gleich verstehbaren, ja — so paradox das für den Augenblick des Aussprechens klingen mag — gewissermaßen unsichtbaren Element erfüllt sein. Und wenn Sie nun einen beliebigen, Ihnen bekannten Laien an die Zeugenbarriere rufen, so werden Sie hören, daß er gerade das Unsichtbare des deutlich Dargestellten nicht sieht. Er sieht wohl, sozusagen in gröbsten Umrissen, daß da was gemalt ist, aber er sieht nicht und kann nicht sehen — deswegen ist er Laie —, daß gerade dieses Wie des Malens gerade diesem Was des Gemalten entspricht. Denn diese Entsprechung ist ja nur eine dem geistigen Auge wahrnehmbare.

Als unser junger Mann so weit in seinem Nachdenken gekommen war, erinnerte er seinen früher gefundenen Satz, den er jetzt also neu formulierte, daß nur jener Inhalt in die Sprache einginge, der auf die Apperzeptionsfähigkeit des ihn Erlebenden paßt wie der Zapfen in den Spund; und nur soviel des Inhalts, als seine Sprache Vokabeln hat. Somit also diese selbe Sache, je nach Vokabelreichtum oder -armut der Sprache, auf die verschiedenste Weise dargestellt werden kann. Daher kommt, daß eine Felsenzeichnung und ein Bild, sagen wir des Tizian, in bezug auf ein Mehr oder Weniger der Vollkommenheit gar nicht miteinander verglichen werden können. Sowohl jenes wie dieses, dürfen wir mit vielem Rechte annehmen, entspricht hinsichtlich des von beiden Künstlern Ausgedrückten dem Bestande an vorhanden gewesenen Sprachmitteln. Da also nunmehr feststeht, daß primär die Sprache ist, sekundär — das heißt von ihr bedingt — das sogenannte Erlebnis, so sei es unabdingbar notwendig, meinte unser gewissenhafter Kritiker, die Sprache des Malers zu erlernen und zum Erlebnis des Malers vorzudringen. Ein gewissenhafter Kritiker also habe nicht dieses Bild schön, jenes häßlich zu finden, dieses verständlich, jenes unverständlich, als ob irgend jemandem, dem Künstler oder dem Kunstfreund, mit solchen Findungen gedient wäre, sondern er hätte in seiner kritischen Schrift vor allen Dingen die Frage zu erheben, warum dieses so und warum dieses anders sei, und zwar, unter vorläufiger Zurücksetzung seiner Subjektivität, die Frage aus den objektiven Gegebenheiten zu beantworten. Und um dies zu können, muß oder soll er eine längere Weile oder auch ein Leben lang den Gegebenheiten, die nicht einen Dichter, sondern gerade einen Maler hervorbringen und durch diesen Maler gerade dieses Bild, sich ausliefern. Er muß demnach als Experiment ausführen, was jener von Natur aus tut.

Lassen Sie mich Ihnen jetzt ein Beispiel geben. Sokrates war ein Bildhauer zu Athen, kein Philosoph. Wann schon sind Bildhauer Philosophen? Man weiß auch nicht, ob er ein großer oder ein schlechter Bildhauer gewesen ist. Ich nehme an, und nicht ohne Grund, daß er eine Art von Kunstgewerbler gewesen ist, der kleine Götterfiguren zum Hausgebrauch für fromme Leute verfertigt hat. Er muß aber eine gewisse schöpferische Unzufriedenheit mit dieser wenig schöpferischen Beschäftigung gezeigt haben. Er muß den Eindruck eines Grüblers gemacht haben, der erst sucht, worüber er grübeln könnte. Er muß jenen gerade nicht seltenen Leuten geglichen haben, denen man anzusehen glaubt, daß sie keinen Schritt zu tun vermögen, ohne auf eine krachende Problemnuß zu treten, die aber, wenn man sie dazu bringt, den Mund zu Öffnen, eine Banalität aus demselben schlüpfen lassen. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten, die in Ansehung eines wie beschriebenen Menschen in Betracht kommen: Entweder liegt eine Scheinschwangerschaft des Gehirns vor, die früher oder später mit der Entladung einiger leerer Winde enden wird, oder es handelt sich wirklich um ein Gedankenkind, das nicht und nicht den Schoß verlassen will, und also des Geburtshelfers bedarf. Die Freunde des Sokrates, zwischen diesen zwei Möglichkeiten stehend, vermochten einerseits für keine sich zu entscheiden, anderseits aber auch nicht mehr länger die traurigen Blicke eines Wesens, das nicht weiß, ob es noch Jungfrau oder bereits Mutter ist, zu ertragen. So wandten sie sich denn an die oberste Autorität in einer solch kitzligen Sache, an den delphischen Gott, um aus seinem Orakelmunde zu erfahren, wer denn nun eigentlich dieser Sokrates sei, und erhielten zur Antwort den verblüffenden Satz: Der Weiseste aller Menschen. Stellen Sie sich nun lebhaft die blitzneue Situation vor, in der sich ein sozusagen gewöhnlicher Mensch befindet, von dem jedoch der Gott, der nicht lügen kann, der nur des öftern recht zweideutig redet, um uns nämlich erstens nicht um den freien Willensentscheid zu bringen, zweitens, um unserem Hirn auch noch was zu tun übrigzulassen, behauptet, er, dieser gewöhnliche Mensch, sei nicht nur ein recht gescheiter oder immerhin weiser, nein, er sei der gescheiteste und weiseste aller Menschen. Sagen Sie nun, was würden Sie machen, wenn der Gott, an den Sie glauben, solches von Ihnen behauptet? Werden Sie nicht alles daransetzen, ja als religiöse Menschen daransetzen müssen, daß der Gott nicht lügt, ja gar nicht lügen kann? Werden Sie nun nicht stante pede und auf Teufel-komm-raus gescheit, weise, genial werden, gegen Ihr Besserwissen von Ihrer eigenen Dummheit und Ihrer eigenen Unwissenheit und Ihrer Ihnen nur zu bekannten Ungenialität? Werden Sie nicht ab diesem schrecklichen Orakelspruche sich unentwegt auf allen Gassen, auf allen Märkten, in allen Gesellschaften unter Hoch und Nieder herumtreiben, jeden Athener beim Mantelknopf fassen, jeden in eine Diskussion verwickeln, und jeden dahin bringen müssen, zuzugeben, daß er nichts wisse, Sie hingegen es besser wüßten? Das also ist der seltsame Fall des Sokrates, der, wie oben gesagt, kein Philosoph gewesen ist, sondern gezwungen worden ist, ein Philosoph zu werden. Wenn nun einer, der kein Maler ist, Maler wird, das heißt, ein gezwungener Maler wird, wie Sokrates ein gezwungener Philosoph — der eigentlich berufsmäßig angelegte Philosoph war Platon —, also Maler wird, nicht um Maler zu werden oder Maler zu bleiben, sondern um die Malerei zu erkennen, wie Sokrates das Erkennen erkannt, das Denken gedacht hat, so haben Sie in einem solchen Menschen auch das Urbild des Kritikers gesehen.

„Es hat nie ein schöpferisches Zeitalter gegeben, das nicht auch kritisch war. Denn es ist der kritische Geist, der neue Formen findet.“ Nach diesen verpflichtenden Worten Oscar Wildes ist der Kritiker geradezu verantwortlich für Stand und Niveau der Literatur. Daß der Maler, Schriftsteller und Essayist A. P. Gütersloh zu den wenigen gehört, die heute diesem Anspruch gerecht werden — davon zeugen unter anderem obenstehende Ausführungen; sie erscheinen uns überdies wichtig als Beitrag zur allerorten im Gange befindlichen Diskussion über Kritik; Gütersloh verliert sich nicht in Sekundär- und Tertiär-Problemen, sondern stellt die Voraussetzungen jeglicher kritischen Einsicht wieder ins Zentrum der Betrachtung.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1964
, Seite 258
Autor/inn/en:

Albert Paris Gütersloh:

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