FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1955 » No. 23
Adam Wandruszka

Seit wann besteht Österreich?

Der jetzige Zeitpunkt scheint uns besonders geeignet, das Geschichtsbewußtsein des Österreichers von heute zur Diskussion zu stellen und zu untersuchen, ob und wie weit es in die Vergangenheit zurückreicht (oder zurückreichen soll). Dr. Adam Wandruszka, der das Thema im folgenden von einem sehr dezidierten Standpunkt aus aufrollt, ist im FORVM schon mehrfach zu Wort gekommen, zuletzt im Heft 17 mit seinem Beitrag „Marxismus: Religion oder Wissenschaft ?“ 1914 geboren, ist Wandruszka eines der jüngsten Mitglieder des „Instituts für Österreichische Geschichtsforschung“; auf Grund seiner hervorragenden Mitarbeit an der von Heinrich Benedikt herausgegebenen „Geschichte der Republik Österreich 1918-1945“ erhielt er von der Wiener Universität eine Dozentur für Neuere Geschichte.

Die Republik Österreich feiert die wiedererlangte Freiheit mit der Eröffnung der unter Kaiser Franz Joseph errichteten Prachtbauten der Hoftheater an der Ringstraße und mit der Heimkehr der Spanischen Hofreitschule in das unter Karl VI. errichtete Gebäude. Zugleich werden, nach Behebung der Schäden an den Schlössern Schönbrunn und Belvedere, die Fassaden der Hofbibliothek am Josefsplatz und jene der „Böhmischen Hofkanzlei“ am Judenplatz renoviert. Nach der Heimkehr der Schätze des Kunsthistorischen Museums vor zwei Jahren und der Wiedereröffnung der Schatzkammer im Vorjahr hat in diesem Sommer Wiens „dritte Schatzkammer“, das Heeresgeschichtliche Museum im Arsenal, einen Großteil seiner einzigartigen Sammlung in neuer Aufstellung wieder dem Publikum zugänglich gemacht. In den Auslagen der Buchhandlungen stehen an bevorzugten Plätzen jene österreichischen Neuerscheinungen, von denen der Buchhandel das beste Weihnachtsgeschäft erwartet: Bücher über den „alten Kaiser“, über Feldmarschall Conrad, über Maximilian I. In den Kinos läuft der „Sarajewo“-Film, der (was immer man an berechtigter oder unberechtigter Kritik gegen ihn vorbringen mag) jedenfalls der erste österreichische Film ist, der sich ernsthaft um die Gestaltung eines großen Themas aus der österreichischen Vergangenheit bemüht. Und schließlich eröffnet der Abzug der Besatzungstruppen die Aussicht, daß sich in nicht allzu ferner Zukunft auch die großen barocken Adelssitze, vor allem die niederösterreichischen, zwar nicht im alten Glanz, so doch wieder in einigermaßen würdigem Zustand präsentieren werden.

Der Österreicher, dem seit Wochen und Monaten nahezu täglich von Berufenen und Unberufenen versichert wird, daß eben jetzt eine neue Epoche des österreichischen Schicksals beginnt, findet sich so zugleich mit nicht zu übersehender Eindringlichkeit erneut mit dem großen Erbe der Vergangenheit konfrontiert. Was ist seine Reaktion daräuf? Welche Möglichkeiten und welche Gefahren eröffnen sich ihm bei dieser Auseinandersetzung mit seiner Geschichte?

Historische Bewußtseins-Spaltung

Schon der erste Eindruck zeigt eine höchst unausgeglichene, zwiespältige Haltung. Die wenigen Tage rund um die Burgtheatereröffnung förderten selbst in Zeitungen, deren Bekenntnis zu Österreich über jeden Zweifel erhaben ist, die ältesten Ladenhüter aus der Mottenkiste eines geschichtsfeindlichen Ressentiments zutage, das sich noch heute in Schlagworten wie „Völkerkerker der Monarchie“ und „Morsches Habsburgerreich‘‘ abreagiert. In einem geradezu hymnischen Begrüßunsgsartikel für den „Ottokar“, in dem mit den Wörtern „österreichisch“, „vaterländisch“, „patriotisch“ nicht gespart wurde, fand man die erstaunliche Wendung: „Rudolf, befreit von allem dynastischen Klimbim ...“. Zeigen dergleichen Äußerungen, daß man links und halblinks von einer unbefangenen Haltung gegenüber der eigenen Vergangenheit noch ziemlich weit entfernt ist, so darf anderseits auch nicht übersehen werden, daß in weiten Kreisen des konservativen Bevölkerungsteils die Einstellung zur österreichischen Republik, ihren Einrichtungen und Symbolen im besten Fall noch immer nüchtern-zweckbestimmt und bar jeder gefühlsmäßigen Wärme ist. Die Teilung des Landes in zwei annähernd gleich starke politische Gruppen erscheint — ungeachtet der tatsächlichen Zusammenarbeit in Dingen der praktischen Gegenwartspolitik — bis in die fernste Vergangenheit zurückprojiziert; ein nicht unbedenkliches Phänomen, wenn man erwägt, welche wichtige Funktion bei den großen demokratischen Nationen des Westens, aber auch bei den Schweizern, ein gemeinsames, die Anhänger aller Parteien verpflichtendes Geschichtsbild hat: als Regulativ der unerläßlichen und durchaus zu bejahenden Parteientrennung in der Gegenwart.

Um dem Dilemma zu entgehen, wird manchmal von linker Seite vorgeschlagen, man solle das österreichische Geschichtsbewußtsein unter Weglassung der politischen Geschichte nur auf die kulturellen Großleistungen der Vergangenheit konzentrieren, denn im Lobe Mozarts und Nestroys seien sich schließlich beide Lager einig. Diese wohlgemeinte Diskretion ist aber gerade der österreichischen Vergangenheit gegenüber ebenso unangebracht wie undurchführbar, weil es gerade die spezifisch österreichischen Großleistungen auf organisatorisch-politischem Gebiet unter den Tisch fallen ließe und weil auch die kulturellen Leistungen ihre spezifisch österreichische Note vom Organisatorisch-Politischen her empfangen haben. Wie ja überhaupt „der Österreicher“, wenn anders man ihn nicht bloß als einen unter vielen deutschen Stämmen verstehen will, nur als Produkt der Habsburgischen Politik verstanden werden kann.

Daß die Angehörigen des einen Lagers bestimmten Gestalten der Vergangenheit ihre Sympathie zuwenden, die des andern aber deren Gegnern, ist nur natürlich und sollte keine Schwierigkeit bieten, nicht einmal beim Unterricht in den Schulen oder in der Volksbildung. Das tragische Element in der Geschichte, auf dem wesentlich ihre Größe beruht, kann immer unter beiderlei Gesichtspunkten herausgearbeitet werden. Man müßte nur, um ein Beispiel zu geben, bei der Behandlung der Revolution von 1848 sowohl den Idealismus und Freiheitswillen der Revolutionäre zur Geltung bringen, wie anderseits die ernste Besorgnis konservativer Kreise über die Folgen der entfesselten nationalen Leidenschaften. Und man müßte die leidige Angewohnheit aufgeben, den Streit des Tages in die Vergangenheit zurückzuprojizieren. Die Herausarbeitung des tragischen Elements, der Unvermeidbarkeit des Kampfes von Gruppen, die dem Gesetz, nach dem sie angetreten, treu bleiben wollen, schließt die Kritik an begangenen Fehlern auf beiden Seiten nicht aus und wird die eigene Geschichte in jener tragischen Größe erstehen lassen, die zugleich erzieherisch und gemeinschaftsbildend wirkt.

Der Bruch von 1918

Gewiß sind auch erfreuliche Anzeichen dafür vorhanden, daß die antimonarchistische Neurose auf der Linken ebenso im Abklingen begriffen ist wie die antirepublikanische auf der Rechten, und man könnte somit die Ausformung eines gemeinsamen Geschichtsbildes der heilenden, klärenden Zeit überlassen — wäre der Heilungsprozeß nicht dadurch kompliziert, daß jenem Zwiespalt ein echtes, schwer zu lösendes Problem zugrunde liegt: der Zwiespalt zwischen dem Großreich der Vergangenheit und dem Kleinstaat der Gegenwart und Zukunft. Der entscheidende Bruch der österreichischen Geschichte ist also jener von 1918, ein Bruch, der eben jetzt, mit der Annahme des Status der Neutralität, erst endgültig sanktioniert wurde. Die ganze bewegte und leiderfüllte Geschichte der Republik Österreich von 1918 bis 1955 erscheint unter diesem Gesichtspunkt als eine große Anpassungskrise, als ein einziger Versuch, die unübersehbare Diskrepanz zwischen den Dimensionen Altösterreichs und Neuösterreichs zu überwinden.

Drei Auswege scheinen sich hier anzubieten, die sich jedoch alle drei bei näherer Betrachtung als Irrwege erweisen.

Der erste Ausweg, der von einer verhältnismäßig kleinen Gruppe befürwortet wird, besteht darin, in der österreichischen Vergangenheit krampfhaft nach Parallelen und Vorläufern zur Gegenwart zu suchen. Das geht natürlich nicht ohne gewaltsame Verdrehung historischer Tatbestände ab, eine Verdrehung, die aber von den Befürwortern um des patriotischen Zieles willen in Kauf genommen wird: so etwa, wenn man für das seit 1918 bestehende Österreich einen Vorläufer in einem angeblichen „spätmittelalterlichen Territorialstaat“ konstruieren will, den es in Wahrheit nie gegeben hat. Auch die (sehr entfernte) Ähnlichkeit des Bildes, das die Habsburgischen Besitzungen jener Zeit, wenn man sie auf einem historischen Atlas einzeichnet, mit den Grenzen des heutigen Österreich aufweisen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Innviertel erst im 18., Salzburg erst im 19. und das Burgenland erst im 20. Jahrhundert zu Österreich kamen — wenn man schon über den seit dem Mittelalter eingetretenen Verlust der schweizerischen, südwestdeutschen und italienischen Besitzungen großzügig hinwegsieht. (Glücklicherweise ist es bisher noch niemandem eingefallen, für die Staatsmänner der österreichischen Gegenwart nach Vorläufern und Parallelen in der Galerie der großen österreichischen Staatsmänner der Vergangenheit zu forschen.)

Für den zweiten Weg plädieren jene, die aus dem Dimensionsunterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart die Folgerung ziehen, daß das heutige Österreich mit seiner Vergangenheit überhaupt nichts anfangen könne und daß es am besten sei, sich um ein österreichisches Geschichtsbild erst gar nicht zu bemühen. Die Vergangenheit sei einfach zu groß für die Gegenwart und man müsse die Last der Tradition entschlossen abwerfen, um unbeschwert von historischen Hypotheken den Anforderungen von Gegenwart und Zukunft zu entsprechen.

Der dritte Weg stellt das spiegelgleiche Gegenstück zum zweiten dar: aus der Diskrepanz zwischen Einst und Jetzt wird die (nur ungern offen einbekannte) Konsequenz einer völligen Verwerfung der Gegenwart gezogen, einer zumindest gefühlsmäßigen Flucht in die Vergangenheit. Hier liegt — zum Unterschied vom zweiten, vorwiegend linksgerichteten Weg — eine ständige Versuchung für die konservativen Menschen dieses Landes.

Tradition und Traditionalismus

Es soll nun keineswegs versucht werden, einen neuen „Ismus“ zu begründen oder eine neue Terminologie zu schaffen. Aber ganz ähnlich, wie gegenwärtig zur Klärung der Geister „Neutralität“ und „Neutralismus“ einander gegenübergestellt werden, könnte man einem positiven Traditions-Begriff seine negative Verzerrung als „Traditionalismus“ entgegenhalten. Tradition wäre dann die lebendige Verpflichtung gegenüber den Leistungen und Werten der Vergangenheit, „Traditionalismus“ hingegen das starre Festhalten an überlieferten Formen, die epigonenhaft nachgeahmt und dadurch entwertet werden, eine Gefahr, für die das österreichische Wesen sehr anfällig ist und die von den Besten dieses Landes immer leidenschaftlich bekämpft wurde („Tradition ist Schlamperei“). Um es mit einem Beispiel aus der Architektur zu erläutern: wenn ein Baukünstler aus der Konfrontierung mit den großen geschichtlichen Bauwerken Wiens für sich die Verpflichtung ableitet, nun seinerseits ein Werk zu schaffen, das dem Vergleich mit den besten Schöpfungen unserer Zeit ebenso standzuhalten vermag, wie jene Werke dem Vergleich mit den besten Schöpfungen der ihren standzuhalten vermochten, so handelt er im echten Sinne traditionsbewußt; ein anderer jedoch, der sich verpflichtet fühlt, die großen Formen des österreichischen Barock in einem schwachmütigen, epigonenhaften Neobarock nachzuahmen, macht sich eines verzerrenden Traditionalismus schuldig und wird die große Tradition in Wahrheit nicht fortgeführt, sondern verraten haben. So verstanden, waren die baulichen Leistungen auch der sozialdemokratischen Wiener Gemeindeverwaltung nach 1918 in viel höherem Maß, als ihre Initiatoren es wußten, Schöpfungen aus der großen Tradition einer kaiserlichen Residenzstadt.

Der Österreicher kann seiner neu geschaffenen politischen Wirklichkeit inmitten einer unruhigen Welt nur unter Mobilisierung all seiner ideellen und materiellen Kräfte gerecht werden. Und es wäre ein leichtfertiger Verzicht auf eine entscheidende Kraftquelle, das Erbe der Vergangenheit zu mißachten oder zu vernachlässigen. Doch würde sich auch das andere Extrem, das einer sentimentalweinerlichen Verklärung der „guten alten Zeit“, als Hemmschuh für die Bewältigung der Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben erweisen. Die Geschichte ist keine Rezeptsammlung für die Lösung konkreter Aufgaben. Sie kann, nach einem tiefen Wort Jakob Burckhardts, nicht klug machen für den Einzelfall, sondern weise für das Ganze. Ehrfurcht vor der Vergangenheit trägt dazu bei, daß dem Nachfahren, auch wenn er in engeren und kleineren Verhältnissen lebt, dennoch der Maßstab für die Größe und die Leistung derer, die ihm vorangegangen sind, nicht abhanden kommt. In diesem Sinne kann und muß die Geschichte ein ständiger Ansporn und Stachel sein, den Kontakt mit der übrigen Welt noch inniger zu gestalten, ein ständiger Mahnruf, das einstige hohe Niveau nicht einzubüßen und es dort, wo es im Lauf der letzten Jahre und Jahrzehnte schon eingebüßt wurde, wieder zu erreichen. Es wäre lächerlich und vermessen, die ganze große österreichische Geschichte nur auf das gegenwärtige Österreich zulaufen zu lassen, also das Habsburgische Weltreich der „Casa d’Austria“, den Staat Maria Theresias und schließlich das Vielvölkerreich der Doppelmonarchie nur als Vorstufen und Wegbereiter des heutigen Österreich aufzufassen. Umgekehrt hat aber auch dieses heutige Österreich seine eigenen Aufgaben und Verpflichtungen und darf nicht nur als schwächlicher Nachhall vergangener Größe aufgefaßt werden.

Wer zwischen diesen beiden Extremen das richtige Maß finden will, der halte sich an das Wort des großen Geschichtsschreibers Leopold von Ranke, daß jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ ist.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1955
, Seite 383
Autor/inn/en:

Adam Wandruszka:

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