FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1971 » No. 212/I-IV
Freie Österreichische Jugend (FÖJ) • Günther Nenning

„offensiv links” oder SPÖ?

Ein Wahlaufruf der FÖJ und ein Antwortbrief von G. N.

Bei der Vollversammlung der Freien Österreichischen Jugend (FÖJ) — Bewegung für Sozialismus am 4. August 1971 wurde der Beschluß gefaßt, unter der Bezeichnung „offensiv links“ zu den Nationalratswahlen am 10. Oktober 1971 zu kandidieren.

Die Nationalratswahlen am 10. Oktober haben in der gegenwärtigen politischen Situation unseres Landes die Funktion, jene definitive Entscheidung der Wähler zu provozieren, welche bei den Nationalratswahlen im März 1970 im überraschenden Wahlergebnis noch nicht voll zum Ausdruck kam, sondern sich vorerst tendentiell angekündigt hatte: das Ende der parlamentarischen Vorherrschaft der ÖVP, die Verschiebung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zugunsten der SPÖ, welcher es damit zum ersten Mal in der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie gelungen ist, eine eigene, wenn auch Minderheitsregierung zu stellen.

Kreiskys Taktik war von Anfang an offensichtlich: einerseits wollte er den Wählern vor Augen führen, daß eine sozialdemokratische Regierung durchaus imstande ist, die Regierungsgeschäfte im bürgerlich-demokratischen Sinn mustergültig zu führen, wodurch auch die letzten Befürchtungen, die durch die jahrzehntelange ÖVP-Propaganda geschürt wurden, beseitigt werden sollten, eine „rote“ Regierung würde im kapitalistischen Österreich zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen führen; andererseits nützte Kreisky mit der ihm eigenen Geschicklichkeit die Verwirrung in den Reihen der ÖVP, deren Konfusion und Krise in dem Augenblick akut geworden sind, da sie ihre Machtpositionen eingebüßt hatte.

Kreiskys Politik, Zeit zu gewinnen, bedurfte einer parlamentarischen Mehrheitsabstützung, die sich in diesem Fall „logischerweise“ an der „Dritten Kraft“ im Parlament, an der FPÖ orientieren mußte. Die rot-braune Packelei ging damit weit über den bisherigen Rahmen finanzieller Zuwendungen hinaus. Sie führte in ihrer Konsequenz dazu, daß die anti-österreichische, die Sehnsüchte ehemaliger Nazis verkörpernde FPÖ in der österreichischen Innenpolitik endgültig „salonfähig“ geworden ist, einschließlich der durchaus realen Möglichkeit, als kleiner Koalitionspartner künftig in der Regierung vertreten zu sein. Die Aufwertung der FPÖ wurde an der Basis mit der Verabschiedung der kleinen Wahlrechtsreform vollzogen und bekräftigt, welche der FPÖ auf längere Zeit Überlebenschancen durch parlamentarische Verankerung bietet, gleichzeitig aber eine absolute Mehrheit für die SPÖ so gut wie sicher ausschließt.

Kreisky hat somit zielstrebig die Kleine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ vorbereitet — nach den Nationalratswahlen am 10. Oktober dürfte sie aller Voraussicht nach Wirklichkeit werden.

Auch sonst hat Kreiskys Bilanz überwiegend nur jene Tendenzen der österreichischen Sozialdemokratie realisiert, die seit der Zeit der Großen Koalition in der Ideologie und Praxis der Sozialpartnerschaft virulent geworden sind und das Abgehen der SPÖ von jedwedem Klassenstandpunkt, ja dessen Verrat bestätigen. Kreisky und Benya, SPÖ und ÖGB sind derzeit die objektiv stärksten Stützen des österreichischen Kapitalismus — wen nimmt es da noch wunder, wenn Kreisky und seinem Team ausgerechnet von der Industriellenvereinigung höchstes Lob gezollt wurde.

Kreisky verstand es während der Zeit der Minderheitsregierung, aus der Not eine Tugend zu machen und sich bei allen Vorwürfen, seine Politik nehme nicht genügend die Interessen seiner eigenen Wähler und des SP-Fußvolks, der überwiegenden Mehrzahl der österreichischen Arbeiter und Angestellten wahr, eben darauf auszureden, woraus er allenthalben politisches Kapital schlug: auf die Schwäche seiner Regierung. So mußte jede Kritik, die statt der politischen Argumentation und Aufklärung zur plumpen und stumpfen Waffe der Entlarvung griff, in den Augen der Massen der Lohnabhängigen unglaubwürdig erscheinen.

Für das wahrscheinliche Scheitern der KPÖ-Strategie, durch die Erlangung von zwei Nationalratsmandaten sich zur parlamentarischen Altersruhe zu setzen, wird mehr noch als die Schwierigkeiten bei der nötigen Stimmaufbringung ihre Politik seit dem 21. Parteitag verantwortlich sein. Der Prozeß der Spaltungen, Säuberungen, Ausschlüsse, welcher ihr an und für sich geringes Potential noch weiter schrumpfen ließ, stellt die Konsequenz einer Politik der entwürdigenden Rückkehr zu stalinistischen Positionen dar.

Das geht heute schon so weit, daß sie in ihrem Zentralorgan und ihrem fallweisen Auftreten in der Öffentlichkeit ungeniert den Eindruck erweckt, wie anno dazumal ausschließlich als Auslandsagentur der Sowjetunion engagiert zu sein. Es begann mit der Rücknahme der Kritik und der Verurteilung des Einmarsches in die CSSR, es fand seine Fortsetzung in der Revision der Beschlüsse des 19. Parteitages, und es gipfelt in jener billigen Apologetik der sowjetischen Innen- und Außenpolitik, welche alle divergierenden Widersprüche in der sozialistischen Weltbewegung einfach ignoriert.

Dementsprechend erweist sich die KPÖ allen Fragen gegenüber als hilflos und ohnmächtig, welche nicht nur die Spaltung des sozialistischen Lagers betreffen, sondern letztlich auch für das jüngste Kommunistenmassaker im Sudan verantwortlich sind. Wie soll einer KPÖ von österreichischen Arbeitern Glaubwürdigkeit bescheinigt werden, die anläßlich der Schüsse auf Arbeiter in Danzig zunächst die offizielle polnische Sprachregelung übernahm, von Rowdies und antisozialistischen Elementen sprach und sich erst zu einer anderen Interpretation der Ereignisse entschloß, als eine neue offizielle Sprachregelung von der neuen polnischen Führung ausgegeben wurde.

An der Politik dieser KPÖ bestätigt sich der Grundsatz, daß in der Arbeiterbewegung nationale und internationale Politik, Wort und Tat eine untrennbare Einheit zu bilden haben, soll nicht beides zu totaler Konfusion und schließlich zum Verrat an allen sozialistischen Prinzipien ausarten.

Dies zu betonen und noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, erscheint uns notwendig, da es noch immer und wieder Stimmen gibt, die zwar unsere Kritik an der KPÖ-Politik teilen, aus rein innenpolitischen Überlegungen jedoch für die KPÖ ihre Stimme abgeben wollen. Eine solche „Taktik“ ist nicht nur bei den Haaren herbeigezogen, sie könnte verhängnisvoll auf jene zurückschlagen, die sie „kurzfristig“ als „Übergangslösung“ propagieren.

Eine andere, diesmal „strategische“ Tendenz, die bei unserer Grundsatzdebatte ebenfalls aufgetaucht ist, votiert für die Stimmabgabe für die SPÖ aus der Überlegung heraus, daß erst eine parlamentarisch voll erstarkte SPÖ den Arbeitern ihre Illusionen rauben könnte, wodurch erst die Linke in Österreich bei den Massen der Lohnabhängigen wachsendes Gehör finden könnte. Aber auch diese Argumentation hinkt, sie macht den entscheidenden Fehler, diese Entwicklung als Automatismus einzuschätzen ohne Rücksicht auf die Erfahrungen in England und Schweden, wo solche Hoffnungen allesamt trogen.

Entgegenzutreten ist auch der Auffassung, die dem Phänomen Wahlen und Parlament von vornherein ablehnend gegenübersteht. Wahlen in der bürgerlichen Demokratie reflektieren in ihrem Ergebnis bis zu einem gewissen Grad den Bewußtseinsstand gesellschaftlicher Klassen und Schichten. Mandatsverschiebungen nach „links“ oder rechts — im Sinne der parlamentarischen Sitzordnung — sind äußerst abgeschwächter, gleichsam durch etliche Filtrierungen durchgedrungener Ausdruck des politischen Willens der Bevölkerung. Sie können ausschlaggebend sein für den künftigen Arbeitsstil einer Regierung, sie können bestimmte Gesetze reformierenden Inhalts ermöglichen. Ob Wahlen in ihrem Ergebnis zu Instrumenten systemverändernder Politik gemacht werden können oder matter Abklatsch kleiner Korrekturentwürfe am gesellschaftlichen Status quo verbleiben — das hängt allemal von den Bewegungen an der Basis ab, vom Grad der Intensität der Klassenauseinandersetzungen.

Das Parlament selbst hat insbesondere in Österreich längst seine dominierende Stellung als gesellschaftspolitische Entscheidungsinstanz eingebüßt. Die echten Entscheidungen fallen demgemäß in Kommissionen, wie die Paritätische eine ist; selbst Gesetzesanträge werden in bestimmten Gremien bis zu ihrer „parlamentarischen Reife“ diskutiert, durch Kompromisse „beschlußfähig“ gemacht. Wo es „Kampfabstimmungen“ gibt — meist mit der Niederlage der Fraktion verknüpft, welche die Kampfabstimmung provoziert hat —, geschieht es vorwiegend, um den gläubigen Wählern den guten Willen der eigenen und den bösen der anderen Fraktion zu dokumentieren.

Dieser Scheincharakter des Parlaments und die Funktion von Wahlen kann weder durch bloße Mandatsverschiebungen noch durch die vollständige Abwendung vom Parlamentarismus und von Wahlen entlarvt oder gar geändert werden. So bringen Wahlzeiten zum Beispiel eine gewisse Empfindlichkeit für die Parteien und politische Empfänglichkeit für die Wähler mit sich. Trotz aller Methoden der Waschmittelwerbung und der Seifenreklame gibt es mehr Bereitschaft für Argumentation und Differenzierung.

All die oben angeführten Gründe scheinen eine eigene Kandidatur einer kleineren politischen Bewegung zu begünstigen. Voraussetzung dafür ist, daß keinerlei herkömmliche Vorstellungen, Hoffnungen und Methoden mit der Kandidatur verknüpft werden, alle Formen der Beteiligung an der großen Balgerei um Stimmen vermieden werden.

Eine Kandidatur der Linken außerhalb der SPÖ und KPÖ unter der Bezeichnung „offensiv links“ ist ein Mittel zum Zweck der Mobilisierung nicht nur der eigenen Reihen, sondern darüber hinaus potentieller Verbündeter sowie zum Zweck der Aktualisierung von politischen Themen und Anliegen, die im „politischen Alltag“ — außer zu bestimmten günstigen Augenblicken — fast vollkommen in Teilnahmslosigkeit untergehen, ignoriert werden.

Es gibt in Wien einige tausend Jugendliche, die längst aus dem Schema des familiär bedingten Parteientrotts herausgefallen sind; des weiteren gibt es einige tausend politisch denkende Erwachsene, die weder dem heillosen Reformismus der SPÖ erlegen sind, noch den Illusionen einer KPÖ aufsitzen. Die so oder ähnlich denken wie wir, die ihre Stimme zwar politisch bewußt abzugeben bereit sind, aber nicht in der Erwartung, daß sie damit dazu beitragen, das große Los in der parlamentarischen Lotterie zu gewinnen. Diese wollen wir durch eine Kandidatur, durch die damit einhergehenden Aktionen und Informationskampagnen erreichen.

Viele werden uns ermahnen, daß wir zu früh daran sind, übereilt handeln. Die Zeit ist noch nicht reif — lautet die Losung, die uns von vielen Seiten laut oder leise zugerufen wird. Erfahrungen der Arbeiterbewegung lehren demgegenüber folgendes: ist die Zeit reif, muß die Bewegung ebenfalls reif sein für die Aufgaben, die sich dann stellen, sie darf sich nicht überraschen lassen, sie muß vorbereitet und gewappnet sein. Daher müssen wir uns schon heute für die Aufgaben von morgen rüsten, es duldet keinen Aufschub!

Mit der Kandidatur soll ein Schritt weiter in Richtung Aufbau einer neuen revolutionären Bewegung in Österreich getan werden.

(Kontaktadresse; 1040 Wien, Belvederegasse 10, Tel.: 65 1952)

An die Freie Österreichische Jugend
Bewegung für Sozialismus

Werte Genossen,

ich unterzeichnete die mir übersandte Unterstützungserklärung für den Wahlkreisvorschlag Wien der von Euch ins Leben gerufenen wahlwerbenden Gruppe „offensiv links“ aus folgenden Gründen:

Ich halte die parlamentarische Demokratie für relativ wenig demokratisch. Immerhin scheint mir eine Vielzahl von wahlwerbenden Gruppen demokratischer zu sein als das Monopol der traditionellen Großparteien. Ich unterschrieb, um einer linken Gruppe die Kandidatur bei den kommenden Wahlen am 10. Oktober 1971 zu ermöglichen.

Ich bin für Experimente, auch wenn ich selbst — wie diesfalls — deren Sinn nicht recht einsehe. Mir scheint ein Wahlsieg der SPÖ wichtiger, denn:

Die SPÖ ist in diesem Land jene politische und gesellschaftliiche Kraft, die von den Massen der arbeitenden Menschen gewählt wird; es gibt kein Anzeichen, daß dies am 10. Oktober anders sein wird, im Gegenteil.

Die SPÖ ist daher am ehesten in der Lage, den materiellen und sozialen Standard der Massen innerhalb des Kapitalismus zu wahren und zu verbessern.

Die SPÖ ist auch am ehesten in der Lage, die Modernisierung des österreichischen Kapitalismus zu bewerkstelligen — was sowohl für jenen materiellen und sozialen Standard der Lohn- und Gehaltsabhängigen nötig ist wie auch für die Entwicklung in Richtung Sozialismus, welcher erst möglich wird, wenn der Kapitalismus seine höchste Entwicklungsstufe erreicht hat.

Die SPÖ scheint schließlich unter Kreisky willens zu sein, für eine „Liberalisierung“ veralteter Normen zu sorgen (Strafrecht, Familienrecht, Jugendrecht, Presserecht, Abtreibung, Pornographie).

Insgesamt schafft dies einen besseren Kampfboden für die Entfaltung einer starken Linken und den Sieg des Sozialismus.

Daher werde ich am 10. Oktober die SPÖ wählen, sie als ihr Funktionär wie auch als Publizist kritisch unterstützen in Anerkenntnis ihrer Unentbehrlichkeit in der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Sozialismus in unserem Land und ohne Illusionen über die begrenzte Rolle der Sozialdemokratie im Rahmen einer sozialistischen Strategie (vgl. meinen Aufsatz „Strategie statt Anklage“ im NF Mai/Juni 1971).

Ich schätze Eure politische Arbeit zugunsten des Sozialismus, und wir sind durch gemeinsame Aktionen im Kampf gegen das Bundesheer gute Freunde geworden. Wir werden’’s auch bleiben. Eben deshalb die obige Erläuterung.

Beste Wünsche

Eures

Günther Nenning

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Erstveröffentlichung im FORVM:
August
1971
, Seite 62
Autor/inn/en:

Günther Nenning:

Geboren 1921 in Wien, gestorben 2006 in Waidring. Studierte Sprachwissenschaften und Religionswissenschaften in Graz. Ab 1958 Mitherausgeber des FORVM, von 1965 bis 1986 dessen Herausgeber bzw. Chefredakteur. Betätigte sich als Kolumnist zahlreicher Tages- und Wochenzeitungen sowie als Moderator der ORF-Diskussionsreihe Club 2.

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