FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1992 » No. 465-467
Alfred J. Noll

Gleichheitsrecht und Höchstgericht

Traktat übers gegenwärtige Legiferieren abseits des Normenmaterials

3. Teil: Die „Wertfreistellung“ des „allgemeinen Gleichheitssatzes“ (Österreich 1946-1955)

Die Zerschlagung der faschistischen Institutionen und Massenverbände im Jahre 1945 — Ergebnis allierter Befreiung — konnte die demokratische Republik Österreich nicht einfach „wiederherstellen“, wie es im Art. 1 der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 (StGBl. 1) hieß. Wo nichts übriggeblieben war, war nichts wiederherzustellen. [83]

Wir brauchen an dieser Stelle nicht darüber zu räsonnieren, was an der Errichtung der 2. Republik aus vielerlei Gründen schief gelaufen ist. Ein Blick auf die Rechtsordnung lehrt aber einiges über die Ambivalenz der Verhältnisse:

Die Basisinstitutionen der bürgerlichen Rechtsordnung entzogen sich rasch dem egalisierenden Zugriff sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Ambitionen. Das Rechtsinstitut des Eigentums, das Erbrecht und die Familie sorgen in der bürgerlichen Gesellschaft nach 1945 wie zuvor dafür, daß die entscheidenen Schaltstellen privilegierter Ressourcennutzung der sozialpolitischen Disposition prinzipiell entzogen bleiben.

Normativ wird diese Kontinuität aber durch die Unabhängigkeitserklärung, die Einsetzung der Provisorischen Staatsregierung (StGBl. 2) und deren Regierungserklärung (StGBl. 3) neu, fundiert: Vom Standpunkt des heute in Österreich geltenden Verfassungsrechts ist die Unabhängigkeitserklärung die „historisch erste Verfassung“ im Sinne Kelsens. Die rechtsgrundlos bestehenden drei Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ setzten mit der Unabhängigkeitserklärung einen „revolutionären, effektiv gewordenen Rechtsschöpfungsakt“, [84] der sich auf kein „Recht“, sondern nur auf die durch die Zustände hervorgerufene Notwendigkeit berufen konnte. Unter dem Zwang der gegebenen Verhältnisse konnte die Provisorische Staatsregierung nach dem vollständigen Zusammenbruch des Nationalsozialismus, angesichts der Unmöglichkeit der Durchführung sofortiger Wahlen, der Unmöglichkeit auch der Durchführung einer Volksabstimmung im April 1945 keinen anderen Weg gehen, als den, zunächst eine Art autoritären Regimes aufzurichten (worauf die Provisorische Verfassung selbst in ihrem § 4 Abs. 2 ausdrücklich hinwies).

Bei der nach 1945 heftig geführten Diskussion darüber, ob der „Anschluß 1938“ als Annexion mit der Folge des Untergangs der rechtlichen Existenz Österreichs oder aber als Okkupation anzusehen sei, die als solche nur zum Verlust der Handlungsfähigkeit der Republik Österreich geführt hätte, gewannen die katholischen Machtträger: Mit der rasch herrschend gewordenen Okkupationstheorie [85] rettete man gegen den (mäßigen) Widerstand der Sozialdemokratie das von den Austrofaschisten mit dem Vatikan vereinbarte Konkordat von 1934, auf der Grundlage der Annexionstheorie wäre dieser Vertrag für die Zweite Republik nicht verbindlich gewesen. [86]

Für die Gleichheit blieb freilich alles beim Alten: Den unmittelbaren Gegenstand der Gleichheitsgewährleistung sollte weiterhin nicht die Gestaltung des gesellschaftlichen Verhältnisses der Bürger, sondern deren Beziehung zur Staatsgewalt sein — vor deren Rechtsordnung die Bürger ungeachtet ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Unterschiede als gleiche gelten sollen. Wir haben im vorigen Heft [87] schon aufgezeigt, daß der Gleichheitssatz die Existenz dieser Unterschiede voraussetzt, weil er seiner logischen Struktur nach wie jede normative Gleichheitsaussage einen Vergleich von Verschiedenheiten in bezug auf ein Drittes darstellt. Die jeder Rede von Gleichheit vorausliegenden Unterschiede erfahren ihre Garantie gerade durch die unterschiedslose, von den (spezifischen) Verschiedenheiten abstrahierenden Gleichsetzung der Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz. Dieser Sachverhalt läßt sich in der immer noch gültigen Formel zusammenfassen, wonach die bürgerliche Gesellschaft ebensowenig auf die Ungleichheit der Eigentumsverteilung verzichten, wie sie der Gleichheit der dem Recht Unterworfenen beim Vertragsabschluß entbehren kann: „In contractibus natura aequalitatem imperat“, heißt es schon bei Hugo Grotius. [88]

Das verfassungsmäßige Gleichheitspostulat beinhaltet also zunächst keineswegs eine über die Aufhebung der auf geburtsständischen Privilegien beruhenden feudalen Herrschaftsordnung hinausweisende, den gesellschaftlichen Horizont der bürgerlichen Gesellschaft transzendierende Emanzipationstendenz; vielmehr stellt die verfassungsrechtlich gebotene Gleichheit „nur“ die staatlich kodifizierte Vermittlunfgsform dar, in der die (notwendig) vorausgesetzte gesellschaftliche Ungleichheit entsprechend der Logik des von der herrschenden Meinung in Gestalt des Willkürverbots rezipierten aristotelischen Gleichheitsbegriffs des „suum cuique“ [89] in den Formen der Rechtsanwendungs- und Rechtssetzungsgleichheit reproduziert wird. Der „Gleichheitssatz“ ist daher in den unaufhebbaren Zusammenhang zwischen abstrakter, rechtlicher Gleichheit und ihr zugrundeliegender, antagonistische Verhältnisse ausdrückender realer Ungleichheit eingebunden; eine voreilige Instrumentalisierung des (formalen) Gleichheitsrechtes zur Überwindung gesellschaftlicher Ungleichheit würde diesen Zusammenhang als bloß äußerlichen und zufälligen verharmlosen und damit einer Selbstaufhebung des bürgerlichen Rechts das Wort reden: Daß die vollziehende und die rechtsprechene Staatsgewalt das Recht „gleich“ anzuwenden habe, liegt schon im Anspruch des Rechts selbst begründet. Der „allgemeine Gleichheitssatz“ verbietet also der Exekutive und der Rechtsprechung (und kraft verfassungsgerichtlicher Willkür: auch dem Gesetzgeber) die Ungleichbehandlung der Rechtsunterworfenen. Dieser (!) Gleichheitssatz, der die banale Pflicht zur Rechtsanwendungsgleichheit beinhaltet, bewirkte die in den vorigen Folgen meines Beitrages beschriebene Enthemmung progressiver Schubkräfte.

Mit der Umbildung des bloß die Rechtsanwendungsgleichheit gebietenden Gleichheitssatzes zum an den Gesetzgeber gerichteten allgemeinen „Willkürverbot“ und „Sachlichkeitsgebot“ (aus der Verfassung damals wie heute nicht herleitbar) erhält die Verfassungsgerichtsbarkeit einen antidemokratischen Impetus, der — bei aller „Zurückhaltung“ — prinzipiellen Charakter hat. Denn: Unter dem Kriterium der „Gleichheit vor dem Gesetz“ läßt sich für die gesetzgeberische Tätigkeit nichts verobjektivieren, weil die Ausdehnung des Vergleichsfeldes nicht festgelegt werden kann. [89a]

Die Generalfunktion des Gleichheitssatzes besteht darin, Reproduktionsform der abstrakten Freiheit zu sein. Gleichzeitig dient er dem Staat als Handlungsvollmacht, auf der bleibenden Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft (Konkurrenz der Einzelkapitale etc.) auf diese im Dienste ihrer Erhaltung und Weiterentwicklung verändernd Einfluß zu nehmen. Das dabei entwickelte Spektrum an „sozialkompensatorischen Maßnahmen“ — die allesamt cum grano salis dazu dienen, bestimmten benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen oder Personen durch sozialstaatliche Förderungs- und/oder Ausgleichsmaßnahmen die faktische Möglichkeit zur Teilnahme an der ökonomischen Konkurrenz zu eröffnen — reicht von der Ausbildungsförderung über die geserzgeberische Unterstützung der Integration der weiblichen Gesellschaftsmitglieder ins Erwerbsleben und die Wirtschaftsförderung strukturschwacher Regionen bis hin zur Einrichtung der Prozeßkostenhilfe usw. usf. [90] Insgesamt geht es um die staatlich besorgte und durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung umgrenzte funktionelle Relativierung der tatsächlichen sozialen Unterschiede. Dabei ist die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung den zu unterschiedlichen Zeiten höchst unterschiedlich motivierten Anliegen ausgesetzt.

Wertaskese auf österreichisch

Es wäre auch in Österreich nahegelegen, nach 1945 aufs Naturrecht zu setzen. Anders aber als in Deutschland — wo sich rasch die vor allem durch Gustav Radbruch verbreitete Mär [91] durchsetzen konnte, der Rechtspositivismus sei Schuld daran und kausale Ursache dafür gewesen, daß der Faschismus sich auch des Rechtssystems und der Juristen umstandslos versichern konnte — kam es hierzulande zu einer nachhaltigen Formalisierung des Verfassungsrechts. Die Begründung lieferte der ungeachtet seiner Mitwirkung im austrofaschistischen Regime schon 1945 wieder zu Amt und Würden gekommene spätere Präsident des VfGH, Ludwig Adamovich sen., in einem am 7. Dezember 1949 vor der Wiener Juristischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag und in seiner Eröffnungsrede für den Österreichischen Richtertag 1954; [92] beide Referate hatten wahrlich paradigmatischen Gehalt:

Das Verfassungsrecht ... ist ein streng formales Recht. Der Verfassungsgerichtshof ist demgemäß verpflichtet, seine Erkenntnisse auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechtes und nur auf dieser Grundlage zu fällen. Der für ihn geltende Maßstab sind ausschließlich die Verfassungsgesetze und keinerlei, aus welchen Quellen immer, gewonnene rechtliche Erwägungen anderer Art. Der Gerichtshof käme mit sich selbst in Widerspruch, wenn er sich über die ihm zugewiesenen Kompetenzen hinwegsetzen und sich die Befugnis arrogieren wollte, die Rechtsordnung nach seinem eigenen Rechtsempfinden zu gestalten und zu formen.

Es kann und soll gewiß nicht geleugnet werden, daß in vereinzelten Fällen das Ergebnis, zu dem der Verfassungsgerichtshof auf Grundlge der geltenden Verfassungsgesetze gekommen ist und kommen mußte, von Zweckmäßigkeits- oder Billigkeits-Erwägungen aus betrachtet, nicht befriedigen konnte. Der Verfassungsgerichtshof hat daher in mehrfachen Fällen auf diese Lage hingewiesen und die Notwendigkeit einer Änderung der Rechtsordnung durch den Gesetzgeber in den angegebenen Belangen ausdrücklich betont. Mehr zu tun, war aber der Gerichtshof zweifellos nicht berechtigt, wollte er innerhalb seiner Kompetenz bleiben und wollte er sich nicht einer Befugnis anmaßen, die ihm durch die Verfassung nicht zuerkannt ist.

Ein Gerichtshof, der als Kompetenzgerichtshof selbst zur allseitigen Wahrung der Kompetenzen berufen ist, darf eben seine Kompetenzen unter keinen Umständen überschreiten. Er darf sich daher vor allem keine Befugnis anmaßen, die dem Gesetzgeber, und nur dem Gesetzgeber zusteht.

(I/S. 73)

Die Ambiguität ist offensichtlich: Einerseits läßt sich diese Passage als Respekt vor dem demokratischen Souverän lesen; andererseits wird dem Gerichtshof damit eine Haltung anempfohlen, die in der Erhaltung des jeweiligen status quo den höchsten Wert sieht. Ein Indiz dafür, die letztere Lesart als erheblichere zu werten, kann darin erblickt werden, daß Adamovich alle damaligen Vorschläge zur Reform der Verordnungs- und Gesetzesprüfung (Einführung eines „Anwalts des öffentlichen Rechts“, Ausgestaltung des Antragsrechts zur Popularklage und Ermächtigung des Verfassungsgerichtshofes, ohne das Erfordernis des sog. Anlaßfalles jedes Gesetz und jede Verordnung auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen) rigoros ablehnt und lediglich die Forderung, auch den verschiedenen beruflichen Vertretungen die Befugnis zur Anfechtung genereller Normen beim VfGH einzuräumen, als erwägenswert diskutiert: „Bei (der) Bedeutung der Kammern schiene es nur recht und billig, ihnen im Sinne dieser Forderung das Recht zur Anfechtung von Gesetzen und Verordnungen einzuräumen, zumal darin in gewissem Sinne ein Ersatz für die ... abzulehnende Popularklage erblickt werden könnte. Besonders zu begrüßen wäre es, daß auch den Vertretungen der juristischen Berufe, den Rechtsanwaltskammern und Notariatskammern, dieses Anfechtungsrecht einzuräumen wäre, in deren Hand diese bedeutungsvolle Kompetenz zweifellos bestens gewahrt wäre.“ (V/S. 74; hier setzten sich wohl Adamovichs stände-staatlichen Neigungen durch).

Einen weiteren Anhaltspunkt dafür, daß nicht Sorge um den demokratischen Souverän, sondern das (als eigenständiger Wert verstandene) beginnende Funktionieren der bestehenden Verhältnisse Anlaß für Adamovichs Außerungen war, gibt seine Diskreditierung des Nationalsozialistengesetzes und seine (heute wieder aktuell gewordene) Mahnung, der Gesetzgeber solle „die Form der Verfassungsgesetzgebung nicht ungebührlich ausweiten, sie nicht willkürlich auf Materien ausdehnen, die ihrem Inhalte nach mit der Verfassung nichts zu tun haben“ (VS. 74). Gerade dem Nationalsozialistengesetz aber — das ja gerade eine Präzisierung des Geltungsumfanges des allgemeinen Gleichheitssatzes darstellt und insofern dem Postulat Merkls nachkommt, „endlich klipp und klar zu sagen, wen sie (sc. die Verfassung, AJN) durch den Gleichheitssatz beschränken will“ [93] — vorzuwerfen, es habe „verwaltungsrechtlichen Charakter“ und sei lediglich „in die Form eines Verfassungsgesetzes gekleidet“ und dies „in so nachteiliger Weise“, ist absurd. [94]

Auch in dem kurz vor seinem Tod publizierten Aufsatz über „Die verfassungsmäßige Funktion des Richters“ spielt das Verhältnis von VEGH und Gesetzgeber eine große Rolle: Adamovich stellt zunächst klar, daß der „Richter des Rechtsstaates nach der Verfassung nur an das Gesetz gebunden (ist)“ (I/S. 409) und daß der „von allen positivrechtlichen Schranken befreite, der richterliche König, der Königsrichter“ nicht das Ideal des Verfassungsstaates ist:

Ich bin der vielleicht frevelhaften Ansicht, daß die Rechtssicherheit, und damit das höchste Gut jedes Staatsbürgers, die Freiheit seiner Person und seines Tuns und Lassens, viel besser dann gesichert erscheinen, wenn seine Rechte und Pflichten im vorhinein durch bindende generelle Normen bestimmt und abgegrenzt sind, als wenn die Normierung des Rechts im einzelnen Fall dem Spruch des Richters überantwortet wird. Pflicht des Gesetzgebers ist es gewiß, bei seinen Regelungen jene unveränderlichen Normen der sittlichen Ordnung zu beobachten und zu wahren, ohne deren Einhaltung jede positivrechtliche Ordnung früher oder später dem Verfall erliegen muß. Sicherlich gibt es so manche positivrechtliche Normen, die einer Prüfung von diesem Standpunkt aus nicht standhalten könnten. Deshalb aber im Sinne der Freirechtsschule die vollkommen freie Rechtsfindung des Richters zu fordern, erscheint mir persönlich vollkommen unangebracht ...

Wer in diesem Sinne den Gedanken der vollkommen freien, durch keine Normen gebundenen Rechtsfindung ablehnt und dem Typus des Gesetzesstaates den Vorzug gibt, in dem die Rechte und Pflichten der Staatsbürger durch gesetzliche Bestimmungen im vorhinein bindend geregelt sind, leugnet damit keineswegs die überragende, die wahrhaft rechtsschöpferische Stellung des Richters ... Was in den Rechtsvorschriften auf Grund bloß gedanklicher Überlegungen und Konstruktionen in abstrakten Formulierungen und Wendungen festgelegt und verfügt wird, erhält seine lebendige Wirksamkeit erst durch den Spruch des Richters.

(II/S. 410)

Für den „allgemeinen Gleichheitssatz“ heißt dies: Der VfGH hat der selbständigen politischen Entscheidung des Gesetzgebers freien Raum zu lassen; der Gleichheitssatz darf nicht „überspannt“ werden, die vom Gesetzgeber gewählten Lösungen dürfen bloß — wie der VfGH später ständig betonte (VfSlg. 5862/1968; 5916, 5972, 5975/1969; 6152/1970 etc.) — nicht exzessiv sein. Damit wird der von Adamovich betonten Rolle des VfGH als „unpolitisches Organ“ Rechnung getragen, dem im wesentlichen nur eine nachprüfende und wertimmanente Korrekturfunktion zukommt. Weil die Gleichheitsbindung des Gesetzgebers (seit VfSlg. 1451/1932) stets die Frage nach der Zulässigkeit nach von ihr vorgenommener Differenzierungen aufwirft, diese Differenzierungen aber wesentlich von außerrechtlichen, „politischen“ Kriterien bestimmt (also nicht durch die Verfassung selbst festgelegt) sind, steht dem VfGH deren Überprüfung nicht zu. Die Gleichheit vor dem Gesetz besteht eben (schlicht) darin, daß alle im Staate geltenden Gesetze gegenüber allen Bundesbürgern in gleicher Weise angewendet werden. Wir werden noch darauf zurückkommen.

Schließlich verteidigte Adamovich auch die (damals wie heute geltende) parteipolitische Richterauswahl:

Ich kann und darf natürlich nicht über Einzelheiten sprechen. Aber die eine Versicherung darf ich zur Ehre aller Mitglieder geben: Der Gerichtshof war in den vergangenen Jahren — bei aller Verschiedenheit der grundlegenden weltanschaulichen oder auch parteipolitischen Einstellungen seiner Mitglieder — in jedem Fall wirklich nur bestrebt, dem Recht zu dienen, er braucht bezüglich der Unabhängigkeit seiner Rechtsprechung, wie ich glaube, den Vergleich mit keinem anderen unabhängigen Gericht zu scheuen. Wenn die Beratungen — was ich selbst durchaus begrüßen würde — der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden könnten, würde sich die Richtigkeit dieser Behauptungen restlos erweisen.

(I/S. 77)

Eine kurz gefaßte Einschätzung der Auffassung von Adamovich wird positiv ausfallen müssen: Mit seinem vehementen Bemühen, den VfGH im Verhältnis zum Parlament ausschließlich als Organ der Rechtskontrolle zu konstruieren, entkommt er zwar nicht der Apotheose der bestehenden Verhältnisse, aber er läßt ganz im Gegensatz zum heutigen Zug der Verfassungsrechtsprechung — eines nicht zu: Daß die Judikatur stärker ist als das Gesetz. Denn es steht aus dieser — insofern am Primat des Parlaments im bürgerlichen Rechtsstaat festhaltenden — Sicht unbestritten und eindeutig fest: „Daß die Funktion der Gesetzgebung berechtigt ist, die Rechtsprechung der Gerichte (also auch des VfGH! AJN) zum Anlaß dafür zu nehmen, ein Gesetz, dessen Mängel erst durch diese Judikatur offenbar wurden, durch entsprechende legislative Aktionen abzuändern und die Rechtsprechung der Gerichte (auch des VfGH! AJN) dadurch für die Zukunft in andere Bahnen zu lenken ... Durch die Akte der Rechtsprechung erhalten ja die Normen der Gesetzgebung erst wirkliches Leben, die Judikatur der Gerichte deckt nur allzuoft Mängel auf, an denen die gesetzlichen Normen, dem Gesetzgeber unbewußt, leiden. Diese offen gelegten Mängel für die Zukunft zu beseitigen, ist selbstverständlich das Recht und die Pflicht der Organe der Gesetzgebung.“ (II/S. 410)

Vice versa müßte dies auch für jene Gesetze(sstellen) gelten, die der VfGH infolge Verfassungswidrigkeit aufhebt: Auch dort müßte es dem Gesetzgeber freistehen, die vom VfGH erkannte Verfassungswidrigkeit dadurch zu sanieren, daß er das betreffende Gesetz bzw. die betreffende Gesetzesstelle durch entsprechende Beschlußfassung in den Corpus des Verfassungsrechts aufnimmt und so der Prüfung des VfGH entzieht. Adamovich sieht Grenzen:

Als eine unzulässige Einmengung in die Unabhängigkeit der Rechtsprechung muß es aber angesehen werden, wenn ein Akt der Gesetzgebung sich ausschließlich die Aufgabe stellt, ein bereits gefälltes richterliches Urteil zu vernichten oder die Entscheidung eines konkreten, bei einem Gericht anhängigen Rechtsstreites durch einen Akt der Gesetzgebung unmöglich zu machen

(ebd.) [95]

Der VfGH ohne Arbeit?

In dem uns weiterhin als Führer dienenden „Grundriß des österreichischen Verfassunsrechts“ [96] heißt es nunmehr (1947) in Fortführung dessen, was in der Ersten Republik galt: „Die Gesetzgebung darf nur für alle Staatsbürger in gleicher Weise verbindliche Normen aufstellen, d.h. an den gleichen Tatbestand ohne Ansehung der Person die gleichen rechtlichen Folgen knüpfen; ... Dieses Verbot der ungleichmäßigen Behandlung der Staatsbürger durch die Gesetzgebung bezieht sich jedoch nur auf sachlich nicht gerechtfertigte, willkürliche Differenzierungen, durch die ganze Gruppen von Staatsbürgern im Hinblick auf subjektive, in ihrer Person gelegene Momente gegenüber anderen Gruppen rechtlich benachteiligt oder bevorzugt werden. Differenzierungen, die der Gesetzgeber hingegen bei Regelung objektiver Rechtsverhältnisse aus sachlich gerechtfertigten Gründen verfügt, stehen zum Gleichheitsgrundsatz nicht im Widerspruch.“

Das Bemühen ist offensichtlich: Eine weitere Ausdehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit würde — vgl. die oben angeführten Zitate von Adamovich — die Gefahr mit sich bringen, daß Streitfälle mit politischem Hintergrund, Streitfälle, deren Entscheidung weitgehende politischen Folgen nach sich zögen, in größerem Maße, als dies an sich bei jeder Verfassungsgerichtsbarkeit der Fall ist und sein wird, anfallen und daß versucht werden könnte, politische Entscheidungen in ein Gerichtsverfahren zu verlagern und sich des VfGH zur Durchsetzung politischer Ziele zu bedienen.

Spanner [97] hat dieses Zurückhaltung bei der Gesetzesprüfung in einer 1955 verfaßten Zusammenfassung erläutert:

Mit der Möglichkeit, den VfGH in politischer Absicht zu substituieren, „wird aber weder der Politik, schon gar nicht aber der Verfassungsgerichtsbarkeit ein guter Dienst erwiesen. Denn die Politik entzieht sich einer gerichtsförmigen Behandlung und Entscheidung, und eine Gerichtsbarkeit, deren formelle Verfahren materiell politische Entscheidungen bringen sollen, verliert letztlich das Vertrauen in ihre Objektivität und gefährdet ihr Ansehen und ihren Bestand. Gerade im Zusammenhang mit diesen Erwägungen findet u.E. die absolute Ablehnung überpositivrechtlicher Maßstäbe durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof ihre besondere Rechtfertigung; denn nur allzu leicht können sich unter dem Mantel der Berufung auf solche Maßstäbe bestimmte politische Zielsetzungen dieser oder jener Gruppen verbergen.“

Das Mittel, um derartige „politische Zielsetzungen“ mit dem VfGH gar nicht erst in Berührung gelangen zu lassen, ist die sog. Exzeß-Judikatur: In Kenntnis, daß der Gleichheitssatz wertauffüllungsbedürftig und -fähig ist, derartige Werte aber in gänzlich unzureichendem Maß dem Verfassungstext selbst, sondern nur den tagespolitisch motivierten Anliegen der an den VfGH Herantretenden bekannt sind, läßt man „Gleichheit“ und „Ungleichheit“ ganz formal; zwar bezeichnet der VfGH sie nicht mehr als bloße Rechtsanwendungsgleichheit (da er sich ja seit VfSlg. 1451/1932 dazu entschlossen hat, den allgemeinen Gleichheitssatz auch an den Gesetzgeber adressiert zu sehen), aber als gleichheitswidrig oder ungleich betrachtet er dieser Auffassung zufolge nur solche Gesetzgebungsakte, in denen nicht auf ein „objektives Merkmal“ abgestellt wurde, sondern auf „subjektive, in der Person gelegene Gründe“. Zwar erschöpft sich dann die Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht darin, daß es verboten ist, „Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses“ (Art. 7 Abs. 2 B-VG) zum Anlaß einer verschiedenen Behandlung zu nehmen, sondern daß es der Gesetzgebung darüber hinaus auch untersagt ist, andere als objektive (d.h. immer: sachlich gerechtfertigte) Momente bei der rechtlichen Behandlung der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger maßgeblich werden zu lassen. Aber dieser „formale“ Standpunkt des VfGH läßt Fragen nach zulässiger oder unzulässiger Differenzierung im Orkus „rechtspolitischer Freiheit des Gesetzgebers“ untergehen.

Ein Paradebeispiel dafür ist das oft kommentierte und (zurecht) immer wieder bemühte „Raucherkarten“-Erkenntnis des VfGH vom 11. Februar 1947 (VfSig. 1526/1947):

Frauen erhielten weniger Zigaretten als Männer. Zwei Frauen beschwerten sich gegen einen Bescheid der Austria Tabakwerke A.G., demzufolge eine von ihnen als Frau über 55 Jahre überhaupt keinen Anspruch auf eine Raucherkarte, die andere als Frau lediglich Anspuch auf eine Frauen- und nicht auf eine (zum Bezug von mehr Zigaretten berechtigende) Männerraucherkarte habe.

Der VfGH begründete die Abweisung der Beschwerden folgendermaßen:

Die gegenständlichen Verteilungsnormen gehören zu den Vorschriften über die Versorgung der Bevölkerung mit Bedarfsgegenständen. Es liegt in der Natur der Sache, daß jede solche Vorschrift im Interesse einer rationalen Verteilung der vorhandenen Vorräte der Bevölkerung überhaupt oder auch nur bestimmten Teilen der Bevölkerung unliebsam empfundene Lasten auferlegen muß. Es liegt weiter in der Natur der Sache, daß jede solche Verteilungsvorschrift, auch dem Willen der Verfassung entsprechend (...), die Verteilung der vorhandenen Vorräte nach dem Bedarf der verschiedenen Bevölkerungskreise vornehmen muß. Die staatliche Verwaltung wird aber diese Verteilung niemals nach den individuellen Wünschen und tatsächlichen Bedürfnissen der einzelnen Staatsbürger, sondern immer nur mit der Zielrichtung einer möglichst gerechten Berücksichtigung aller Staatsbürger nach einem sachlich gerechtfertigten objektiven Majsstab vornehmen können. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes könnte in einer solchen Maßnahme nur dann erblickt werden, wenn in Wahrheit nicht dieser, nach allgemeinen Momenten geschätzte Bedarf, sondern andere in der Qualität der betreffenden — bevorzugten oder benachteiligten — Gruppen gelegene Momente erwiesenermaßen den Grund für die Differenzierung bilden würden.

Unterbrechen wir an dieser Stelle kurz die Argumentation des VfGH: Im Jahre 1926 hatte der VfGH entschieden, daß der Gleichheitssatz keineswegs zu einer absoluten, unter allen Umständen zu verfolgenden Gleichbehandlung der Geschlechter verpflichte; vielmehr dürften die Geschlechter dann ungleich behandelt werden, „wenn diese ungleiche Behandlung ihre Rechtfertigung in der Natur des Geschlechtes findet“ (VfSlg. 651/1926). Worin freilich diese mystische „Natur der Frau“ bestehen soll, geht aus dem Erkenntnis nicht hervor; umstandlos erklärte der VfGH dennoch, daß „(e)in Grund zur Nichtzulassung von Personen weiblichen Geschlechtes zum Platzwagenlenkerdienst aus der Natur des weiblichen Geschlechtes nicht abgeleitet werden (kann)“.

Es wäre nahegelegen, auch die Erlaubtheit der Benachteiligung von Frauen bei der Vergabe von Zigaretten am Maßstab der „Natur der Frau“ zu messen. Die Prüfungsfrage hätte also lauten müssen, ob sich aus der Natur des weiblichen Geschlechts ein Grund zu Benachteiligung von Personen weiblichen Geschlechts bei der Zuteilung von Zigaretten ableiten läßt; sollte dies nicht der Fall sein, wäre die dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegende generelle Norm (also der Teil der Verordnung, in der die benachteiligende Verteilungsvorschrift enthalten ist) von Amts wegen zu prüfen und in weiterer Folge wegen Verstoßes gegen Art. 2 StGG und Art.
7 B-VG aufzuheben gewesen.

Nun war aber schon im Jahre 1947 evident, daß der VfGH über kein Kriterium verfügt, der ihm die Beurteilung eines Sachverhaltes am Maßstab der „Natur der Frau“ ermöglicht hätte. Außerdem ließe sich — wenn man nicht zu rechtlich irrelevanten Formeln der Art: „Es gehört sich für eine Frau nicht, daß sie raucht!“ Zuflucht nehmen will — wohl kaum eine Begründung dafür finden, Frauen beim Genuß von Nikotin zu benachteiligen. Was also tat der VfGH, um die Benachteiligung dennoch für rechtens zu erkennen?

Im vorliegenden Fall wäre ... ein Anlaß dafür, die Gesetzmäßigkeit der gegenständlichen Verteilungsnormen in Zweifel zu ziehen und von Amts wegen in die Prüfung dieser Verordnungen einzugehen, nur dann gegeben gewesen, wenn die ungleiche Beteilung der Männer und Frauen erwiesenermaßen nicht im Interesse einer möglichst gerechten Bedarfsdeckung, sondern aus anders gearteten Erwägungen erfolgt wäre. Nur dann könnte davon gesprochen werden, daß Art. 7 B-VG verletzt wurde, der Vorrechte des Geschlechtes ausschließt. Tatsächlich hat jedoch die Behörde in durchaus glaubwürdiger Weise diese Ungleichheit der Beteilung damit begründet, daß der Bedarf der Männer an Rauchwaren, nach dem allgemeinen Durchschnitt — im ganzen Bundesgebiet — gemessen, ein Vielfaches von dem der Frauen beträgt. Diese Ausführungen halten sich nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes mit den Erfahrungen des täglcihen Lebens — immer die Verhältnisse im ganzen Bundesgebiet betrachtet — durchaus im Einklang.

Wir müssen nochmals unterbrechen: Die Erlaubtheit der Benachteiligung, so deutet der VfGH schon an, erhält ihre Legalität (also ihre Rechtmäßigkeit!) aus dem Umstand, daß Männer mehr rauchen als Frauen. Da dies empirisch der Fall sei, liege ein „objektives Merkmal“ vor, das eine Ungleichbehandlung rechtfertige.

Die belangte Stelle ist bei Aufteilung der Tabakwaren auf Grund der gemachten Erfahrungen vorgegangen. Eine so ermittelte Verteilungsgrundlage ist aber keine willkürliche, sie fußt auf objektiven Merkmalen und beinhaltet daher nicht die Einräumung eines Vorrechtes an das männliche Geschlecht. Nur letzteres wird durch die Bestimmungen der Bundesverfassung ausgeschlossen, dagegen soll durch diese nicht eine unterschiedslose Gleichstellung der Geschlechter in allen Fragen herbeigeführt werden. Tatsächlich weist sowohl die Gesetzgebung als auch die Praxis in manchen Fällen ausdrücklich eine unterschiedliche Behandlung der Geschlechter auf, die bald diesem, bald jenem Geschlecht eine Begünstigung einräumt und, wenn sie in objektiven Merkmalen begründet ist oder aus der Natur und Eigenart des betreffenden Geschlechtes sich ergibt, keines Verfassungsgesetzes zu ihrem rechtlichen Bestande bedarf.

Die Beschwerde mußte daher als unbegründet abgewiesen werden.

Mit anderen Worten: Die rechtlich maßgebliche „Sachlichkeit“ der Verteilungsregelung liegt in der faktisch vorhandenen Ungleichheit! Damit wird der rechtsstaatliche Gewinn des „allgemeinen Gleichheitssatzes“ — gleiche Anwendung des Rechts ungeachtet subjektiver Merkmale der dem Recht unterworfenen Personen — durch die „Apodizität der Begründung“ (Neisser-Schantl-Welan) wieder zunichte gemacht: Weil der VfGH nicht sagen kann, warum die Knüpfung unterschiedlicher Rechtsfolgen an die in Vergleich gezogenen Tatbestände zulässig ist (und weiter: auch nicht sagen könnte, wie stark im Falle der Zulässigkeit die Rechtsfolgen voneinander differieren dürfen), bleibt die dekretierte „sachlich gerechtfertigte Differenzierung“ bei der Verteilung von Rauchwaren rechtlich unbegründbar — und der VfGH ist daher (das hat er wohl erfaßt) darauf angewiesen, die faktisch bestehende Ungleichheit als rechtlich gesollt auszugeben. Recht ist dann, in einem ganz simplen Sinne, was der Wirklichkeit entspricht. Wie’s ist, so soll’s auch bleiben!

Diese, am Beipiel des „Raucherkarten“-Erkenntnis beispielhaft vorgeführte dezisionistische Haltung des VfGH führt in der Konsequenz dazu, daß in den Jahren 1946 bis 1955 nur zwei gesetzliche Bestimmungen wegen Gleicheitswidrigkeit aufgehoben wurden [98] und daß bei Durchsicht der Judikatur der Eindruck entsteht: im Regelfall ist nichts gleichheitswidrig.

„Soll aber der Verfassungsgerichtshof nicht doch in gewissem Umfang die Funktion des Verfassungsgesetzgebers fortsetzen und dem einfachen Gesetzgeber Bahnen und Schranken weisen und inhaltlich gewisse Richtlinien setzen? Wenn die Tendenzen der Judikatur in die Richtung des evidenten Exzesses gehen, so braucht der einfache Gesetzgeber das Recht nur zu fertigen, um es dann vom Verfassungsgerichtshof letztlich rechtfertigen zu lassen.
Dann aber ist der Gleichheitsgrundsatz“; so meinten Kneucker und Welan in ihrem 1975 verfaßten Resüme, [99] „nur eine inhaltslose Formel, die jedem gesellschaftlichen Zweck angepaßt werden kann. Vieles in der historischen Entwicklung spricht dafür. Dann aber hat auch die Verfassungsgerichtsbarkeit ihren Sinn verloren, besser gesagt, nur noch einen Sinn: den der Rechtfertigung des Rechts, das die Machthaber schaffen“.

Das Credo der Verfassungsrichter in der Zeit ab 1946 besteht darin: Wir dürfen nicht Gesetzgeber sein. Der Inhalt der so motivierten Rechtsprechung stellt eine außerordentliche Legitimation parlamentarischer Rechtsakte dar; das scheint — auch aus heutiger Sicht — der Stabilität der jungen Zweiten Republik förderlich gewesen zu sein. Der VfGH hat durch seine Politik der Zurückhaltung der offiziösen, demokratische Gepflogenheiten erst wieder erlernenden Politik Rückhalt, Selbstvertrauen und Zuversicht gegeben (auch die gegenwärtig sichtbaren negativen Seiten im Umgang mit der Verfassung dürften dadurch [mit]geschaffen worden sein).

Auf lange Sicht konnte sich diese Rechtsprechung jedoch nur halten, wenn die Politik insgesamt weitestgehend außer Streit gestellt und ihr — unausgesprochen — ein vor jeder tagespolitischen Vereinbarung liegender „Konsens über den Konsens“ zugrunde gelegt werden konnte. [100]

Mit dem Zusammenbrechen dieses Generalkonsens über die Politik in Österreich (beginnend Anfang der 70er Jahre) mußte allmählich auch der VfGH von seiner Zurückhaltung abgehen und Stellung beziehen.

Es ist angesichts des skizzierten Dezisionismus des VfGH verständlich, daß in weiterer Folge eine verstärkte inhaltliche Überprüfung durch den VfGH gefordert wurde. Diese Forderung hatte aber selbst inhaltliche Gründe: Ein zurückhaltender Verfassungsgerichtshof stützt den status quo; wer mit ihm nicht zurechtkommt, verlangt verstärkte Prüfungstätigkeit des Verfassungsgerichtshofes. Vieles spricht schon an dieser Stelle dafür, daß sich die geforderte Materialisierung des verfassungsrechtlichen Gleichheitspostulats unter geänderten politischen Rahmenbedingungen verfassungsgerichtlichen Judizierens rasch als anti-reformistische Konzeption entpuppt, die den außerhalb der Verfassungsordnung fundierten sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Zielen gegenarbeitet. Dies liegt daran, daß sich der allgemeine Gleichheitssatz angesichts seiner einleitend dargestellten Funktion, die beständige funktionelle Relativierung der tatsächlichen sozialen Unterschiede zu leisten, geradezu anbietet, das jeweils politisch nicht genehme Handeln des Gesetzgebers aufs verträgliche Maß zurechtzustutzen.

Die von Kelsen, Adamovich und in weiterer Folge insbesondere von Antoniolli [101] und (eingeschränkt) auch von Marschall [102] und anderen betriebene „Wertfreistellung“ des Gleichheitssatzes bedarf „ruhiger Zeiten“, in denen es den gesellschaftlichen Gruppen und Akteuren gelingt, eine Art Waffenstillstand über die grundsätzlichen Fragen der Regelung des Gemeinschaftslebens zu vereinbaren — und durchzuhalten. Sobald dieser Stillstand im Vergehen ist (und latent ist er dies immer), wird das Recht insgesamt zu instrumentalisieren versucht; vor und hinter jeder Anwendung des Rechts taucht die Frage nach der Nützlichkeit, nach dem Wert des Rechts auf eine Frage, die den Vertretern der „Reinen Rechtslehre“ naturgemäß fremd bleibt. „Nun läßt sich aber die Frage nach Ziel und Sinn nicht so leicht abschütteln; auch mit der Mistgabel der reinen Rechtslehre vertrieben, kehrt sie behende zurück.“ [103]
Das allerdings braucht seine Zeit.

(Fortsetzung im nächsten Heft)

[83Insofern hat die Floskel von der „Stunde Null“ real-normativen Gehalt: Die Unabhängigkeitserklärung bildet den Anfang und die normative Grundlage. Die daraufhin erlassene Vorläufige Verfassung vom 1. Mai 1945 (StGBl. 5) — die auf dem Verfassungs-Überleitungsgesetz vom selben Tage beruhte (StGBl. 4) und bis 19. Dezember 1945 in Kraft war — setzte inhaltlich das B-VG 1920 in der Fassung der B-VG-Novelle 1929 fort, beruht aber rechtstechnisch (also unter dem Gesichtspunkt des juristischen Delegationszusammenhanges) auf der Proklaration der drei antifaschistischen Parteien.

[84Vgl. Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts7 (1992), Rz 67 und die dort angeführte Literatur. Die von den selbsternannten Nachlaßverwaltern Kelsens gegebene Begründung ist jedoch — ungeachtet der Richtigkeit des Ergebnisses — kritikwürdig: Die rechtswissenschaftliche Analyse der Unabhängigkeitserklärung ist ein Musterfall dafür, daß gerade die obersten Normen eines Normsystems und die übrigen Normen nicht aus sich heraus erklärt werden können; „die Fragestellung (muß) sich auf die Rechtsnorm selbst in ihrer Einheit von Geltung und Wirksamkeit beziehen und darf die Rechtsnorm nicht aufspalten in einen reinen Sollensbestandteil und einen als Bedingung hinzutretenden Wirksamkeitsbestandteil“ (so zurecht die Mahnung von Römer, Zur Dialektik von Geltung und Wirksamkeit des Rechts, Wiss. Ztschr. Friedrich Schiller-Univ. Jena, Ges- u. Sprachwiss. R. 1983, H.6, S. 695ff. [698)).

[85Vgl. vor allem die Arbeiten von Werner, Das Österreich vom 13.3.1938 und vom 27.4.1945, JBl. 1946, S. 2ff.; ders., Das Wiedererstehen Österreichs als Rechtsproblem, JBl. 1946, S. 85ff. und 105ff; 1947, 137ff. und 161ff. Zurecht hat unlängst Funk (Die Entwicklung des Verfassungsrechts, in: Mantl [Hrsg.], Polıtik in Österreich [1992], S. 683ff. [685]) wieder darauf aufmerksam gemacht, daß die Okkupationstheorie „zwar durch die historischen Fakten nicht sonderlich gut belegt (wird), sie sich aber als eine Art staatsrechtliche Legende über die Entstehung der Zweiten Republik etabliert und bewährt (hat)“.

[86Ausführlicher dazu: Noll, Ein katholisches Land, FORVM Nr. 423/424, März/April 1989, S. 20f.

[87FORVM Nr. 462-464, Juli-Sept 1992, S. 50ff.

[88„Bei den Verträgen fordert die Natur Gleichheit“ (De jure belli ac pacis libri tres [Paris 1625] 1.II, c.XII, § VIII); vgl. dazu Paech, Hugo Grotius (1985), S. 51-63 und (mit weiteren Hinweisen) Dann, Gleichheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2 (1975), S. 997-1046 (1010).

[89Vgl. Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes (1971), S. 53ff.

[89aDas hat auf unwiederlegbare Weise dargetan: Ipsen, Gleichheit, in: Die Grundrechte Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. II (1954), S. 111ff. — Eine richterliche Willkürprüfung zur Sicherung der Gleichheit (und zwar auch gegenüber dem Gesetzgeber) scheint Ipsen deshalb „nur zur alleräußersten Begrenzung insbesondere des legislatorischen Ermessens (zulässig)“; „Willkür“ aber hat nur eine Bedeutung: „ein Handeln abseits jedweder rechtlich vertretbaren Erwägung, nicht schon eine Normierung, die das Gericht für weniger ‚vernünftig‘ erachtet, als sie nach judizieller Auffassung hätte ergehen sollen oder dürfen. In allen Fällen korrekter Parlamentsgesetzgebung streitet eine Vermutung ... dafür, daß die Volksvertretung und die anderen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten höchsten Organe so, wie sie normierten, unter den Aspekten des Gl(eichheits)s(satzes) rechtlich vertretbar und nicht willkürlich entschieden“ (S. 186f.) — Wir werden in weiterer Folge sehen, daß die Abkehr von diesem Postulat das wesentliche Charakteristikum der gegenwärtigen Rechtsprechung des VfGH ist, welcher unter dem Beifall der Lehre — mit seinem heutigen Judizieren vermeint, die bloß formale Rechtsprechung „überwunden“ zu haben.

[90Vgl. —- wenn auch überzogen und allzu strukturalistisch — die prägnante Zusammenfassung von Krölls, Das Grundgesetz als Verfassung des staatlich organisierten Kapitalismus. Politische Ökonomie des Verfassungsrechts (1988), S. 92-96; ders, Grundgesetz und Kapitalismus. Zum politökonomischen Zusammenhang von Eigentum, Freiheit und Sozialstaat, Leviathan 1990, S. 349ff., passim.

[91Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen- Ztg. 1946, Nr. 5, S. 105ff. (seit der 4. Aufl. von 1950 auch im Anhang zu: Radbruch, Rechtsphilosophie); ders, Die Erneuerung des Rechts, Die Wandlung 1947, S. 8ff. — Die Literatur zum Einfluß der Radbruch-Thesen auf die weitere Entwicklung der (bundes-)deutschen Rechtslehre ist uferlos; vgl. aber einerseits als bedeutendste Schrift der damaligen Zeit: Beyer, Rechtsphilosophische Besinnung. Eine Warnung vor der ewigen Wiederkehr des Naturrechts (1947) und (auf den österreichischen Horizont zurechtgestutzt) Merkl, Neue Naturrechtssystem im heutigen Deutschland als Ausdruck der Krise des gesatzten Rechtes (Vortragsbericht), OJZ 1951, S. 91ff. sowie andererseits als umfassende Würdigungen (und deshalb: Ablehnung der Rabruch-These) Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen im „Dritten Reich“ wehrlos gemacht? Zur Analyse und Kritik der Radbruch-These, in: Dreier-Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“ (1989), S. 323ff. und Luf, Zur Verantwortlichkeit des Rechtspositivismus für „gesetzliches Unrecht“. Überlegungen zur Radbruch-These, in: Davy u.a. (Hrsg.), Nationalsozialismus und Recht (1990), S. 18ff.

[92Adamovich, Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit (I), JBl. 1950, S. 73-77; ders., Die verfassungsmäßige Funktion des Richters (II), ÖJZ 1954, S. 409-413 (die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese beiden Aufsätze [I/Seite; II/Seite]).

[93Merkl, Besprechung von: Mainzer, Gleichheit vor dem Gesetz, Gerechtigkeit und Recht, ZÖR 1932, S. 312ff. (S. 314)

[94Vollständigkeitshalber: Das Nationalsozialistengesetz schaffte eine Reihe von Problemen, die allesamt vor dem VfGH landeten; vgl. Werner, Nationalsozialistengesetz und Verbotsgesetz (1947); Heller-Loebenstein-Werner, Das Nationalsozialistengesetz — Das Verbotsgesetz. Kommentar (1947), bes. S. I/201ff.; Adamovich, Grundriß des österreichischen Verfassungsrechts7 (1947), S. 341; ders,, Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes 1919-1951 (1952), S. 152ff.; Klemenz, Die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zum Gleichheitssatz und zum Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (1987), S. 41-44. — Insgesamt zeigte der VfGH in seiner Judikatur zum Nationalsozialistengesetz die Tendenz, dem Beschwerdevorbringen (zumeist: ehemaliger Nationalsozialisten) gegenüber „eher positiv eingestellt zu sein“ (ebd., S. 42). Die im Text angeführte Kritik von Adamovich am NS-Gesetz paßt da ins Bild.

[95Wir brauchen auf dieses Problem — bei dem es aus demokratischer Sicht im wesentlichen darum geht, wertend zu beurteilen, ob nicht dem als Produkt sozialpartnerschaftlicher Packelei und ministeriell-bürokratischem Unverstand zusammengeschusterten „Gesetz“ ungeachtet seines formalen Charakters als Parlamentsakt zurecht in immer öfter werdenden Fällen der Garaus gemacht werden sollte — hier nicht weiter einzugehen; vgl. dazu aus heutiger Sicht die umfassende Zusammenstellung von Funk, Formenmißbrauch und Verfassungsumgehung durch die Legislative, in: FS Klecatsky (1990), S. 67ff.

[96Nunmehr in 4., neubearbeiteter Auflage (1947), S. 338f.

[97Spanner, Bedeutung und Bewährung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, DÖV 1955, S. 65ff (S. 70).

[98VfSlg. 2794/1955 (Bestimmungen über den Disziplinarausschuß bei den Bundestheatern, BG v. 8. Juni 1934, BGBl. 11/78) und 2901/1955 (§ 13 Abs. 4 Beamtenentschädigungsgesetz, BGBl. 181/1952).

[99Kneucker-Welan, Zur Entwicklung des Gleichheitsgrundsatzes in Österreich, ÖZP 1975, S. 5ff. (S. 21).

[100Vgl. zu Entstehung und Bestehen dieses Konsens nach 1945 eindrucksvoll die Darstellung von Mommsen-Reindl, Die österreichische Proporzdemokratie und der Fall Habsburg (1976), S. 27ff.

[101Vgl. besonders Antoniolli, Gleichheit vor dem Gesetz, ÖJZ 1956, S. 646ff. = JBl. 1956, S. 611ff.

[102Vgl. Marschall, Der Gleichheitsgrundsatz und das Sozialversicherungsrecht. Gutachten zum 1. ÖJT 1961, I/4, S. 56ff.; ders,, Wahlkarten und Gleichheitsgrundsatz, ÖJZ 1963, S. 309ff.; ders., Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz im Spannungsfeld zwischen demokratischem und rechtsstaatlichen Prinzip. Ein Beitrag zu seiner Substantiierung, ÖJZ 1967, S. 85ff.

[103Esser, Wertgrundlagen des Verfassungsrechts, Zeitschr. f. österr. Recht und vergleichende Rechtswissenschaft 2/1946, S. 1ff. (8)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1992
, Seite 40
Autor/inn/en:

Alfred J. Noll:

Geboren 1960, lebt in Wien als Rechtsanwalt. Vater zweier erwachsener Töchter, von einer derselben zum Großvater geadelt.

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