FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1994 » No. 481-484
Hermann Langbein

Die letzte Epoche der nationalsozialistischen Konzentrationslager

H.L., Sekretär des Comité International des Camps, teilt hier erstmals auf Deutsch Forschungsergebnisse mit, die man selbst in der »Encyclopädie des Holocaust« vergeblich sucht. -Red.

Als erstes nationalsozialistisches Konzentrationslager wurde am 22. März 1933 Dachau seiner Bestimmung übergeben. Als letztes KZ wurde am 5. Mai 1945 Mauthausen befreit. Die Geschichte der Lager innerhalb dieser 12 Jahre widerspiegelt die Geschichte des Dritten Reiches.

Bevor Hitler seinen Krieg begann, waren die Lager — relativ betrachtet — klein. Deutsche, die Feinde des nationalsozialistischen Systems waren, wurden interniert, deutsche Juden nach den Novemberpogromen 1938 in Massen eingeliefert und damit zur Ausreise gezwungen — soweit sie die Haft überleben konnten. Als erste Ausländer wurden Österreicher ab April 1938 in die KZs verschleppt. Da sie als Deutsche galten, änderte sich mit diesen Einlieferungen der Charakter der Lager noch kaum. Tschechen sind 1938 in größerer Zahl in die KZ gebracht worden. Mit ihnen begann das Gegeneinander-Ausspielen der Angehörigen verschiedener Nationalität, das später den Charakter der Lager geprägt hat. Zur Kriegsvorbereitung gehörte auch die Einrichtung neuer Lager im Jahr 1938; sie sollten Platz für Angehörige der besiegten Völker bieten.

In vordem unvorstellbaren Massen wurden sie dann in die Konzentrationslager eingeliefert. Die Deutschen wurden bald eine immer kleiner werdende Minderheit. Trotz wachsender Todeszahlen wurden immer mehr Häftlinge gezählt.

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 setzte die wohlgeplante Deportation der Juden aller Länder, die damals in Hitlers Machtbereich geraten waren, in Vernichtungslager in Polen — dem »Generalgouvernement« unter nationalsozialistischer Verwaltung — ein. Nachdem im Kriegswinter 1941/42 die Serie der leicht errungenen Blitzsiege beendet war, wuchs das Interesse der Kriegsführung an der Arbeitskraft der Deportierten. Juden wurden in Majdanek und vor allem in Auschwitz einer Selektion unterworfen, bevor sie zu einer der Gaskammern eskortiert wurden. Wer noch arbeiten konnte, sollte als Häftling im Lager der »Vernichtung durch Arbeit« zugeführt werden. Um alle Konzentrationslager entstand ein immer größer werdender Kranz von Außenlagern, in denen Häftlinge in der Rüstungsindustrie zur Arbeit gezwungen wurden. In allen Lagern einschließlich der Außenlager zählte die SS im Jänner 1945 mehr als 714.000 Häftlinge.

Etwa zur gleichen Zeit setzte die weitaus schlimmste Epoche in der Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager ein: vor den vordringenden Armeen der Alliierten wurden die KZ evakuiert: Kein Häftling sollte den Feinden der Nationalsozialisten in die Hände fallen. Als erstes größeres KZ wurde Majdanek evakuiert. Zuerst wurden alle Juden umgebracht, dann fast alle übrigen, zum Schluß wurden etwa 1000 Häftlinge, Deutsche und Polen, nach Auschwitz geführt. Mehr als 300 haben den Evakuierungsmarsch nicht überlebt. Ende August 1944 wurde das KZ Natzweiler im Elsass evakuiert, die Häftlinge wurden vor allem in Außenlager überstellt, welche ostwärts in Deutschland lagen. Den endgültigen Auftakt für diese mörderischeste Epoche setzte im Jänner 1945 mit der Evakuierung des weitaus größten Konzentrationslagers — Auschwitz — ein.

Auschwitz

Bereits Monate vorher hat sich der ehemalige Kommandant von Auschwitz, SS-Obersturmbannführer Höss (der damals in der Zentrale aller nationalsozialistischen Konzentrationslager tätig war) mit dem Problem befaßt, wie das Lager Birkenau — wo sich die vier Krematorien mit eingebauten Gaskammern befanden — so vollständig liquidiert werden könne, daß keine Spur übrig bleibe. Der Chef der Krematorien, SS-Hauptscharführer Moll, entwickelte einen Plan, demzufolge Birkenau durch Artillerie und Bombenflugzeuge völlig vernichtet werden soll. Anschließend sollte das Gelände so planiert werden, daß es ein harmloses Aussehen biete. Die Widerstandsbewegung der Häftlinge hat von diesem Plan Kenntnis erlangt und eine Möglichkeit gefunden, über die polnische Untergrundbewegung in Krakau den Alliierten Kenntnis davon zu übermitteln. BBC London und die englische Nachrichtenagentur Reuter berichteten von diesem Plan zusammen mit der Drohung einer Vergeltung, falls er zur Ausführung kommt. Als sich im Jänner 1945 russische Truppen Auschwitz schnell näherten, wurde dieser »Plan Moll« — wie er genannt wurde — nicht realisiert. Es kann nicht festgestellt werden, ob die veröffentlichten Drohungen aus London, Widerstände einzelner SS-Führer — der SS-Standortarzt Dr. Wirths soll sich in diesem Sinn eingeschaltet haben — oder — wohl am wahrscheinlichsten — die überstürzte Evakuierung einer kopflosen SS-Lagerleitung seine Durchführung verhindert hatten. Im letzten Bericht, den die Widerstandsbewegung nach Krakau schicken konnte, wird deren Zustand so beschrieben: »Großes Durcheinander. Panik bei der SS — betrunken.« Damals befanden sich noch 67.000 Häftlinge in Auschwitz und all seinen Außenlagern.

Die SS befahl, Unterlagen zu vernichten. Da sie keine vollständige Kontrolle über die Durchführung dieser Befehle mehr ausüben konnte, gelang es einigen Gefangenen, Dokumente zu verstecken. Der Wiener Dr. Otto Wolken, der als jüdischer Arzt in Birkenau zur Arbeit eingesetzt war, hat viele Unterlagen retten können. Das Häftlings-Pflegepersonal erhielt den Befehl, in Verzeichnissen der Insassen der Krankenbauten anzuführen, wer imstande wäre, einen langen Fußmarsch zu überstehen, wer nur für einen Marsch von 3 km fähig sei, und wer marschunfähig sei. Eine Kontrolle über die Durchführung dieses Befehls fand nicht mehr überall statt. Unter den Gefangenen herrschte Unsicherheit, wie man diese Listen zusammenstellen soll: Einerseits wollten auch stark Geschwächte auf die Liste der Marschfähigen gesetzt werden, weil sie befürchteten, daß alle Zurückgebliebenen ermordet werden. Andererseits haben sich auch Kräftigere bemüht, auf die Liste derer zu kommen, denen ein Fußmarsch nicht mehr zugemutet werden kann; denn sie fürchteten einen langen Marsch in der Winterkälte mit völlig unzureichender Bekleidung und Holzschuhen. Selbst einzelne Gesunde nützten das Chaos, um sich zu verbergen und so nicht zu einer Marschkolonne eingeteilt zu werden. Ab 18. Jänner führte die SS lange Züge der als marschfähig registrierten Häftlinge aus dem Stammlager Auschwitz, aus Birkenau und den Auschwitzer Nebenlagern. Es begannen die Märsche, die in die Geschichte von Auschwitz als die Todesmärsche eingegangen sind. Wer nicht weiterkonnte und zurückblieb, wurde erschossen.

Immer wieder kamen SS-Trupps zurück — am 20., 22., 23. und 25. Jänner nach Birkenau, am 24. Jänner in das Stammlager Auschwitz, am 22. auch nach Monowitz. Jedesmal wurden dabei Häftlinge erschossen, die zufällig in ihre Hände gerieten. Jedes Mal blieben diese Trupps, vom Gefechtslärm erschreckt, nur kurz im Lager. Am 23. Jänner zündete die SS noch diejenigen Baracken in Birkenau an, in denen die Effekten der Deportierten gesammelt worden waren. Selbst am 27. Jänner, als bereits russische Truppen Monowitz, das Stammlager Auschwitz und Birkenau erreicht und die dort Zurückgebliebenen befreit hatten, kehrte ein SS-Trupp zum Außenlager Fürstengrube zurück und erschoß dort mehr als 100 Häftlinge.

Die russischen Truppen haben mehr als 7.500 Gefangene befreien können, viele hunderte Leichen fanden sie in den Lagern vor.

Diese Tage zwischen Evakuierung und Befreiung von Auschwitz zeigen das, was sich bald bei der Evakuierung der anderen Konzentrationslager wiederholt: Einerseits drängten SS-Führer darauf, daß der Befehl Himmlers, daß kein gesunder Häftling zurückbleibe, ausgeführt werde. Andererseits bewirkte eine Kopflosigkeit der Wachtruppe, deren Angst, an der Stätte, die unwiderlegbar ihre Verbrechen bewies, gefangengenommen zu werden, daß Zufälle darüber entschieden, wer von den zurückgebliebenen Häftlingen sich retten konnte und wer noch im allerletzten Augenblick Opfer der SS wurde.

Und auch das wiederholte sich bei der Befreiung der anderen KZ: Nachdem die Auschwitz-Häftlinge schon befreit worden waren, sind noch Hunderte gestorben. Es fehlte ihnen die Kraft, in Leben zurückzukehren. Heißhunger führte viele dazu, mehr zu essen, als ihr geschwächter Organismus vertrug. Und auf den Straßen, auf denen die evakuierten Gefangenen nach Westen getrieben wurden, lagen immer wieder Leichen der Erschossenen, notdürftig verscharrt oder im Straßengraben. Wenn sie endlich in Frachtwaggons gepfercht wurden, sind viele erfroren. Die Zahl der Opfer dieser Todesmärsche kann nicht rekonstruiert werden. Einigen wenigen gelang die Flucht. Die Transporte wurden zu anderen Konzentrationslagern geführt, die schon überfüllt waren. Auch das wiederholte sich — gesteigert und daher noch schlimmer — bei den folgenden Evakuierungen.

Stutthof

Die Evakuierung des KZ Stutthof (bei Danzig) begann die SS fast gleichzeitig wie in Auschwitz — am 25. Jänner 1945 wurden Marschkolonnen der Häftlinge zusammengestellt und aus dem Lager geführt. Die russischen Truppen erreichten Stutthof jedoch erst viel später; sie umkreisten das schwer zugängliche Gebiet. Noch zwischen dem 25. und dem 28. April konnte die SS etwa 5.000 Gefangene, die zurückgeblieben waren, auf Schiffen evakuieren. Hunger, Wassermangel, immer wieder Erschießungen dezimierten sie schrecklich. Erst am 10. Mai 1945 betraten russische Truppen das Gebiet des Lagers. Unmittelbar vorher erschoß die zurückgebliebene Lagerbesatzung noch fast alle Juden, die bis dahin am Leben geblieben waren, und verließ das Lager.

Groß-Rosen

Das total überfüllte KZ Groß-Rosen in Niederschlesien wurde am 21. März 1945 evakuiert. Über dieses KZ — in dem ein ungebrochenes Terrorregime wütete, da die Lagerführung bis zum Schluß nur deutsche Häftlinge, die wegen krimineller Vorstrafen im Lager waren und sich im Sinn der SS »bewährt« hatten, mit Funktionen betraute, während in den meisten anderen KZ politisch bewußte Häftlinge erreichen konnten, daß Schlüsselpositionen in der »Häftlings-Selbstverwaltung« von Gefangenen besetzt wurden, die sich nicht durch Privilegien und Druck zu Bütteln der SS machen ließen, gibt es nur dürftige Nachrichten. Es wurde also am 21. März evakuiert. SS-Obersturmbannführer Höss, der als Amtschef der Inspektion der Konzentrationslager damals auch nach Groß-Rosen kam, schreibt nachträglich, daß er eine Evakua-tion verhindern wollte, jedoch von SS-Obergruppenführer Schmauser auf den Evakuierungsbefehl von Himmler verwiesen wurde. Er beschreibt seinen Eindruck von der Evakuation: Nur die wenigsten Häftlinge »konnten verpflegt werden. Groß-Rosen hatte selbst nichts mehr. In den offenen Loris lagen tote SS-Männer friedlich zwischen toten Häftlingen. Die Lebenden saßen darauf und kauten ihr Stück Brot.« Von toten SS-Bewachern hat man freilich aus anderen Berichten nichts erfahren können.

Groß-Rosen war das erste KZ, das im »Altreich« — wie die Nationalsozialisten Deutschland in den Grenzen vor Kriegsbeginn nannten — befreit wurde. Die alliierten Armeen überschritten bald in Ost und West die deutschen Grenzen. Die Evakuierung der im »Altreich« gelegenen Konzentrationslager stand damit auf der Tagesordnung gemäß dem Himmler-Befehl, keinen Häftling in die Hände der »Feinde« — also der alliierten Truppen — fallen zu lassen.

Dora

Im April 1945 war es so weit: Als erstes wurde das KZ Dora-Mittelbau evakuiert. Im August 1943 war Dora — ursprünglich als Außenlager des KZ Buchenwald — errichtet worden. In in den Berg geschlagenen Stollen waren Häftlinge in der V-Waffen-Produktion eingesetzt. Ab 1. Oktober 1944 wurde Dora, das immer größer wurde, als eigenes KZ geführt. Bemühungen der Gefangenen, diese Arbeit wenn irgend möglich zu sabotieren und selbst für KZ-Verhältnisse außergewöhnlich brutale Maßnahmen der Lagerführung dagegen führten dazu, daß Widerstandsgruppen — die sich in Dora gebildet hatten — zerschlagen wurden. Wenige Wochen vor der Befreiung von Dora gab es einen Tag, an dem über 90 Häftlinge als Saboteure vor allen anderen angetretenen Häftlingen gehängt wurden. So wurde in der letzten Phase von Dora die Widerstandsbewegung geköpft. Und die Folge davon war, daß die Häftlinge in den letzten, kritischesten Tagen ohne eine leitende Kraft waren. Am 4. April begann die SS mit der Evakuierung von Dora und seinen zahlreichen Nebenlagern. Aus etwa 60 deutschen Häftlingen, die wegen krimineller Vorstrafen ins KZ einwiesen worden waren, bildete sie ein Kommando, das die anderen Gefangenen im Fall von Luftlandungen der Alliierten in Schach halten sollte. In den allerletzten Tagen erhielten sie dazu sogar Pistolen und Gewehre. Das war die letzte, krasseste Konsequenz der SS, die Häftlinge gegeneinander auszuspielen, vor allem privilegierte Deutsche gegen ausländische »Untermenschen«. Im Lager und bei den Evakuierungstransporten herrschte ein völliges Chaos. Zuerst wurden Russen und Juden aus dem Lager getrieben. Die ihnen Nachfolgenden stießen auf Erschossene. Aus den Transportzügen wurden die Leichen geworfen. Diejenigen, die im Lager zurückgelassen wurden, hatten eine Woche ohne Bewachung und Capos, aber ebenfalls ohne Nahrung oder Medikamente zu überstehen, bis sie am 11. April befreit wurden.

Zahlen sind erhalten geblieben, die belegen, daß die letzte Epoche die schlimmste war: In den 7 Monaten vom 1. April bis Ende Oktober 1944 wurden in Dora 995 Leichen gezählt, in den 5 Monaten vom 1. November 1944 bis zum 3. April 1945 sind 6. 525 Tote registriert worden. Uber die allerletzten Tage gibt keine Statistik Auskunft.

Buchenwald

Fast zur gleichen Zeit näherten sich amerikanische Truppen auch dem bei Weimar gelegenen Konzentrationslager Buchenwald. Dort waren Widerstandsbewegungen intakt. Sie bereiteten sich auf die drohende Evakuierung vor, da sie von den von Auschwitz nach Buchenwald gekommenen Transporten erfahren hatten, unter welchen mörderischen Umständen diese gelitten hatten. »Weniger als die Hälfte hatte Buchenwald erreicht. Die anderen wurden, auf langen Fußmärschen schwach geworden, einfach am Straßenrand durch Genickschuß erledigt. Andere waren zu Hunderten in verschlossenen Viehwagen in wochenlanger Fahrt verdurstet, verhungert oder erstickt und kamen nur noch als Leichen in Buchenwald an«, so beschreibt ein Buchenwald-Häftling das Los der aus Auschwitz nach Buchenwald Gekommenen.

Auch hier versuchte der Kommandant — SS-Obersturmbannführer Pister —, Zwietracht unter den Gefangenen zu schüren. Den deutschen Lagerältesten warnte er, er hätte gehört, daß die Ausländer in der Nacht die Deutschen umbringen wollten.

Am 4. April 1945 abends wurde befohlen, daß alle Juden anzutreten haben. Die Widerstandsbewegung hatte sich vorgenommen, Zeit zu gewinnen und jede Evakuierung wenn nur irgend möglich zu verzögern. Die Durchführung des Befehls wurde sabotiert. Erst am 5. April abends waren von den 6. 000 im Lager befindlichen Juden 1. 500 zum Abtransport gesammelt. Diese stammten großteils aus dem »kleinen Lager«, in dem Zugänge aus Auschwitz, Stutthof und Nebenlagern in Westdeutschland untergebracht waren, zum größten Teil »verhungerte, marschunfähige Gestalten, die nach wenigen hunderten Metern anfingen, zusammenzubrechen. Wir hörten im Lager bereits die Schüsse, mit denen die Liegengebliebenen erledigt wurden«, erinnert sich Benedikt Kautsky.

Eine kleine Gruppe schlug auch einen anderen Weg ein, um gegen die Evakuierungsbefehle anzugehen: Ein französischer, ein belgischer, ein englischer und ein holländischer Häftling — alle vier hochrangige Funktionäre in ihrer Heimat — ließen durch den Häftlings-Friseur dem Kommandanten einen Brief übergeben, in dem sie ihm versicherten, daß sie, in ihre Heimat zurückgekehrt, seine loyale und korrekte Haltung der Öffentlichkeit zur Kenntnis bringen würden. Das Schreiben tat seine Wirkung, Pister meinte, man könne zwischen einem Befehl und seiner Ausführung eine Zeitspanne leben.

Einen weiteren Schritt dieser Art setzte Eugen Kogon gemeinsam mit englischen Häftlingen. Es gelang ihm das Wagnis, sich am 8. April in einer Kiste aus dem Lager nach dem benachbarten Weimar bringen zu lassen. Von dort aus veranlaßte er, daß ein Brief an Pister aufgegeben wurde, der — als Schreiben eines Majors der englischen Fallschirm-Springer getarnt — eine Warnung vor weiteren tödlichen Evakuierungstransporten enthielt. Die Wirkung dieses außergewöhnlich mutigen Schrittes kann nur vermutet werden. Kogon zählte zu denen, die ihre privilegierte Stellung als »Deutsche« nicht gegen ihre Mitgefangenen ausnützten, sondern ihre bevorzugte Stellung für sie zu nützen versuchten.

Das zuletzt international zusammengesetzte illegale Lagerkomitee hatte einen Sender gebastelt. Am 8. April sendete es einen Hilferuf an die herannahende amerikanische Armee: »Wir bitten um Hilfe. Man will uns evakuieren. Die SS will uns vernichten.« Nach langem Warten empfingen die Sender im Morse-Alphabet eine Antwort: »Aushalten. Wir eilen euch zu Hilfe. Stab der dritten Armee.« Die Häftlingsfunktionäre konnten zwar die Durchführung von Befehlen, die einer Evakuierung dienen sollten, verzögern, aber nicht ganz verhindern. Schwer bewaffnete Einheiten der SS übernahmen mit gewohner Brutalität die Arbeit der Blockältesten, die nicht mehr gehorchten. Alfred Bunzol — ein aus politischen Gründen inhaftierter Deutscher, der damals als Blockältester eingeteilt war — beschreibt unmittelbar nach der Befreiung das Ergebnis:

Am 7. April konnten durch unsere Sabotage statt des ganzen Lagers, wie von der SS vorgesehen, nur 6.000 evakuiert werden. Am 8. April wurde keiner evakuiert, die SS war scheinbar kampfmüde. Es war fast den ganzen Tag Fliegeralarm. Am 9. April mußten 9.600 Mann antreten. Diese wurden evakuiert. Es gab keinen Ausweg. Am 10. April — der Kommandanturstab packte seine Sachen. Im Krematorium wurden alle Papiere unter Aufsicht der SS verbrannt — evakuierte die SS noch 9.280 Häftlinge.

Es waren vor allem Polen, Tschechen und sowjetische Kriegsgefangene.

Eine geplante Gesamtevakuation konnte jedoch verhindert werden. 28.285 Gefangene mußten den Evakuierungsmarsch antraten, aber am 11. April befanden sich noch etwa 21.000 Häftlinge im Lager. Amerikanische Flieger umkreisten es, durchs Lagermikrophon wurde der SS befohlen, sofort das Lager zu verlassen. Der Kommandant Pister übergab dem Lagerältesten — dem deutschen Kommunisten Hans Eiden — das Lager.

Der deutsche Karl Barthel, der wegen seiner Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei in Buchenwald interniert war, beschreibt die Befreiung des Lagers:

Massen von Panzern und Panzerspähwagen rollten über den Berg Buchenwald. Die bis dahin verhaltene Begeisterung aller Häftlinge schwoll lawinenartig an. Menschenströme quollen aus den Häftlingsunterkünften den Befreiern entgegen. Die Kranken, die einigermaßen laufen konnten, flüchteten aus ihren Betten, auch sie wollten dabei sein. Der bis dahin gefürchtete, todbringende elektrisch geladene Drahtzaun wurde mit großen Stangen niedergeschlagen und niedergerissen. Die zurückgebliebenen SS-Posten auf den Türmen entwaffnet und gefangengenommen. Um 16 Uhr drückten die ersten amerikanischen Befreier den Befreiten die Hände.

Über das Schicksal der Evakuierten ist nur wenig dokumentiert. Der am 7. April aus Buchenwald weggefahrene Transport wurde durch verschiedene Orte Mitteldeutschlands, auch der Tschechoslowakei, schließlich nach Bayern geführt. Zerstörungen, Luftangriffe, Irrfahrten, kurz das Chaos der letzten Tage des Dritten Reiches, bewirkten, daß der Transportzug am 20. April nach Nammering (bei Passau) kam. Damals dürften noch etwa 4.000 Häftlinge am Leben gewesen sein. Dort blieb der Zug drei Tage stehen. Nach vorsichtigen Schätzungen dürften in diesen Tagen weitere 800 Häftlinge gestorben sein — verhungert, erschossen.

Auch aus diesem Lager belegen Zahlen, wie mörderisch die letzte Phase in der Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager war. Im Jahr 1943 sind in Buchenwald 3.516 Häftlinge gestorben. Im Jahre 1944 wurden 8.644 Tote gezählt. In den ersten 3 Monaten des Jahres 1945 sind 13.056 Häftlinge gestorben.

Bergen-Belsen

In mehrfacher Hinsicht unterschied sich die Befreiung des KZ Bergen-Belsen von der der anderen Lager. Im Frühling 1943 wurde es erst von der zentralen Verwaltung aller Konzentrationslager übernommen. Es wurde als »Aufenthaltslager« geführt. Französische, belgische und niederländische Juden sollten dort interniert werden, um gegebenenfalls zum Austausch für Deutsche, die sich in der Hand der Alliierten befanden, zur Verfügung zu stehen. Damals war die Kette der Blitzsiege von Hitlers Armeen bereits lang gestoppt, die alliierten Armeen verfügten schon über eine größere Zahl von deutschen Kriegsgefangenen und Beziehungen mit dem Internationalen Roten Kreuz wurden daher für Deutschland interessant. Das Lager war klein, die Verhältnisse — relativ zu anderen Lagern gesehen — besser. Tatsächlich kam es anfangs auch zu Transporten von Juden nach Palästina und in die Schweiz.

Der Charakter von Bergen-Belsen änderte sich jedoch im Verlauf der letzten Epoche der nationalsozialistischen Konzentrationslager. In wachsender Zahl wurden Häftlinge aus evakuierten Lagern dorthin überstellt. Am 1. Dezember 1944 wurden in Bergen-Belsen 15.257 Häftlinge gezählt, am 1. März 1945 waren es 41.520. Da in der Zwischenzeit mehr als 7.000 Tote registriert worden waren, war der Zustrom weit größer, als aus der Differenz dieser beiden Zahlen ersichtlich. Das Lager war in keiner Weise auf eine solche Anzahl vorbereitet. Immer weitere Transporte wurden nach Bergen-Belsen geleitet. Obwohl allein im März 1945 18.168 Häftlinge gestorben waren, wurden Ende dieses Monats 44.060 Häftlinge gezählt. Hunger und Seuchen wüteten in unvorstellbarer Stärke, die SS beschränkte sich darauf, die Häftlinge lange Stunden Appell stehen zu lassen. Den Insassen zwang sie das Gesetz des Dschungels auf.

Unter diesen Umständen setzte die Evakuierung am 6. April ein. Eine Woche lang fuhren die Züge in die Irre bzw. standen sie irgendwo herum. Ein Zug wurde am 13. April von amerikanischen Truppen befreit, ein anderer am 23. April von russischen. 198 waren schon gestorben; sie konnten die Befreiung nicht mehr erleben.

Himmler, der zu dieser Zeit bereits mit schwedischen Stellen und Vertretern des jüdischen Weltkongresses verhandelte, befahl, Bergen-Belsen den nahenden britischen Truppen zu übergeben. Am 12. April verhandelten Parlamentäre mit dem Kommando der britischen Truppen. Es wurde vereinbart, daß ein Gebiet um das Lager neutralisiert wird. Am 13. April wurden die SS-Wach-mannschaften von Wehrmachtsangehörigen abgelöst, nur das Verwaltungspersonal der SS sollte bleiben. Am 15. April übernahmen die Engländer die Befehlsgewalt über die neutralisierte Zone. Mit einem Lautsprecherwagen fuhr ein englischer Offizier ins Lager und gab bekannt, daß alle befreit sind. Das Lager dürfe aber vorerst niemand verlassen. In dem nun entstandenen Herrschafts-Vakuum gab es keine ordnende Kraft. Ausgehungerte stürmten das Kartoffellager, die Wachposten schossen, das Magazin wurde in der Nacht geplündert, 50 Schweine aus den Stallungen der SS wurden geschlachtet. Lynchjustiz wütete.

Film- und Fotoaufnahmen haben die damals herrschenden Zustände festgehalten. Für viele gelten diese Bilder als die treffendste Illustration der Greuel in der hier beschriebenen letzten, mörderischesten Phase der nationalsozialistischen KZ. Tausende Tote — ihre Zahl konnte nur geschätzt werden — lagen überall. Vollkommen Verhungerte und andere, die Opfer ihres Heißhungers wurden. Die geschockte Welt konnte sich erstmals eine gewisse Vorstellung von dem »SS-Staat« machen. Dementsprechend ihre Reaktion.

Etwa 60.000 haben diese Stunden und Tage lebend überstanden.

Himmler reagierte auf seine Weise auf die »verlogene Greuelpropaganda« der Befreier. Sie sporne nicht dazu an, »die Übergabe der Lager fortzusetzen«. Weiter wurden trotz des immer enger werdenden Raums, der noch zur Verfügung stand, Evakuierungstransporte zusammengestellt und ins Unbekannte geschickt.

Sachsenhausen

Bereits Mitte März wurden die dänischen und norwegischen Gefangenen des Konzentrationslagers Sachsenhausen dem schwedischen Roten Kreuz übergeben, ein Teilergebnis von Himmlers Verhandlungen mit dem schwedischen Grafen Bernadotte. Einem bisher nicht veröffentlichten Manuskript von Überlebenden dieses KZ kann man folgende plastische Schilderung der letzten Tage des Lagers entnehmen:

15. bis 20. April: Tägliche Musterungen und Einberufung von Häftlingen für Kommando Dirlewanger (eine SS-Einheit, zu der in der letzten Phase deutsche Häftlinge mehr oder weniger »freiwillig« eingezogen wurden). Zigeuner werden eingekleidet (offenbar in SS-Uniform) und kommen auch schnell fort. Unter den deutschen politischen Häftlingen steigert sich die Unruhe über die etwaige Einkleidung. Parolen gehen um, alle Deutschen werden eingezogen. Tatsächlich wird auch der größte Teil der Deutschen eingekleidet und geht in Uniform zur Arbeit.

Ein illegales, von deutschen Gefangenen dominiertes Lagerkomitee gibt die Weisung aus, daß politische Häftlinge sich bei den Evakuierungsmärschen als Hilfswachen einteilen lassen, um wenn möglich einen Massenmord zu verhindern. In dem vorhin zitierten Bericht steht weiter:

Am Abend des 20. April beginnt die Evakuierung des Lagers. Dirlewangerleute erhalten Gewehre und Maschinenpistolen mit Munition im Lager und gehen als Bewachungsmannschaft gemischt mit SS-Angehörigen mit. Es gehen immer Trupps von 500 Frauen und später dann bei den Männern ebenso ... Die Evakuierung geht die Nacht zum 21. und den ganzen Tag, die folgende Nacht bis 23 Uhr. Dann ist Schluß. Höhne, der Lagerführer, läßt das Tor schließen, treibt die Blockführer zur Eile, aus dem Lager zu gehen. Im Lager ist keine SS mehr. Die Türme und alles ist frei. In der Blockführerstube spielt noch das Radio und im Lager sind ca. 3.000 Häftlinge einschließlich der Frauen, davon etwa 2.000 Kranke im Revier.

Viele Gefangene — unter ihnen auch einige Deutsche — haben sich versteckt und so der Evakuierung entzogen. Es kam zu Reibereien zwischen russischen und deutschen Zurückgebliebenen, sechs Häftlinge — 5 Deutsche und ein Russe — sind noch vor dem Tor erschossen worden. Der Beschreibung, die bereits zitiert worden ist, sind schließlich folgende Schilderungen zu entnehmen:

Im Lager 3.000 Häftlinge in dramatischer Spannung der Dinge harrend, die da kommen sollen ... So warten wir bis etwa 3 Uhr, aber es bleibt ruhig und wir legen uns schließlich angekleidet hin. Sonntag, den 22., früh. Das erste Mal im Lager kein Wecken, keine SS. Am Tor steht ein Häftling Wache. Auf den Türmen sind die MG mit Munition zurückgeblieben. Nichts ist zerstört. Um 11 Uhr plötzlich ein Rufen im Lager: Ruski, Ruski, die Russen sind da. Alles stürmt hinaus auf den Appellplatz. Da am Tor, Rotarmisten! ... und schon haben wir sie umarmt, geküßt, gestreichelt, auf die Schultern gehoben ... Die Rotarmisten halten sich nicht auf, sie gehen wieder weiter.

Da die Wachmannschaft durch ältere Jahrgänge ersetzt worden war, konnten die Häftlinge die Evakuierung im Sachsenhausener Außenlager Falkensee verhindern. Am 20. April wurde zwar der Evakuierungsbefehl gegeben, aber der Lagerkommandant zog ihn unter dem Eindruck der entschlossenen Häftlinge zurück. Nachdem am 25. ein Teil der SS das Lager verlassen hatte, zogen die — auch hier bereits leichtbewaffneten — deutschen Häftlinge russische in ihre Aktionen ein. Gegen 23 Uhr kam der Kommandant ins Lager zurück. Als er merkte, daß die Deutschen mit den ausländischen Häftlingen gemeinsam handelten, übergab er dem Lagerältesten alle Schlüssel und verschwand. Die Häftlinge bewaffneten sich weiter. Als sich SS-Truppen nochmals dem Lager näherten, wichen sie einem Kampf aus. Am nächsten Tag befreiten russische Truppen auch dieses Außenlager endgültig.

Der Kommandant des KZ Sachsenhausen, Kaindl, sagte später vor Gericht aus, er hätte am 18. April 1945 den Befehl erhalten, die Häftlinge auf Schiffe zu verladen, die Kähne aufs Meer zu führen und dort zu versenken. Er habe jedoch die Durchführung dieses Befehls verweigert. Es sind keine Unterlagen bekannt geworden, die diese Aussage belegen können.

Flossenbürg

Auch im KZ Flossenbürg ging die Lagerführung so vor, daß sie die Gegensätze, die sie die ganze Zeit hindurch zwischen deutschen und ausländischen Gefangenen aufzubauen sich bemüht hatte, weiter verstärkte; bereits im Feber 1945 wurden etwa 400 deutsche Häftlinge — anfangs vor allem solche, die wegen ihrer kriminellen Vorstrafen im Lager waren — zu einer »Lagerpolizei« zusammengefaßt. Als die SS am 16. April mit der Evakuierung begann, waren auch Deutsche, die als politische Häftlinge einen roten Winkel zu tragen hatten, bei der »Lagerpolizei«. Sie hatten besprochen, diesen Schritt zu tun, damit die »Lagerpolizei nicht eine ausschließliche Domäne von der SS willfährigen Elementen werde. Als die Evakuierung am 20. April ihren Höhepunkt fand, hatten die politischen Deutschen und Österreicher, die bewaffnet, aber ohne Munition, die Transporte begleiteten, nur geringe Möglichkeiten. »Wir waren ohnmächtig, die Erschießung der Erschöpften auf dem Marsch durch ein Sonderkommando, das am Ende der einzelnen vier Kolonnen einherging, zu verhindern«, sagte einer nachträglich. Wo sie konnten, hätten sie geholfen. Einige sind geflohen.

1.526 Häftlinge sind im Lager geblieben, meist Kranke, aber auch einige, die sich versteckt hatten, um nicht zu einem Evakuierungstransport eingeteilt zu werden. Am Vormittag des 23. April wurden sie von amerikanischen Truppen befreit.

Ravensbrück

Ähnlich wie in Sachsenhausen erfuhren auch die Häftlinge des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück indirekt von den Versuchen Himmlers, sich mit Hilfe des schwedischen Grafen Bernadotte mit den Alliierten im letzten Augenblick noch zu verständigen. So konnten eines Tages Autobusse des schwedischen Roten Kreuzes ins Lager fahren und Lebensmittel-Pakete abladen. Allerdings hat die SS schnell zugegriffen und sich einen Teil davon angeeignet. Anfang April 1945 wurden die Französinnen aufgerufen. Sie konnten — wieder mit Hilfe des schwedischen Roten Kreuzes — nach Schweden fahren. Im Widerstand aktiven Frauen gelang es, Häftlinge anderer Nationalität, die besonders gefährdet schienen, in diesen Transport einzuschmuggeln. Am 21. April wurden etwa 100 Frauen, die jahrelang in Ravensbrück interniert waren — Deutsche, Österreicher und Tschechinnen —, aufgerufen. Sie konnten unbewacht das Lager verlassen, sie waren frei.

Am 26. April begann die SS, Dokumente zu verbrennen. In den folgenden Tagen wurden Evakuierungs-Transporte zusammengestellt. Von den etwa 18.000 Frauen mußten rund 15.000 solche Märsche antreten. Schießereien, Fluchten, Chaos. Am 20. April wurden die 3.000 Zurückgebliebenen — Kranke und Pflegepersonal — von russischen Truppen befreit. Vorher war das Lager ohne Strom und Wasser. An diesem Tage wurden auch die in Marschkolonnen Getriebenen frei — die Wachmannschaften ergriffen vor der Roten Armee die Flucht.

Dachau

Da die amerikanischen Truppen später nach Bayern als nach Mitteldeutschland eindrangen, waren die letzten Tage des Konzentrationslagers Dachau bei München dadurch charakterisiert, daß noch Tausende aus bereits evakuierten Lagern dorthin eingeliefert wurden. So beschreibt ein Häftling deren Lage:

Auf dem Appellplatz mußten sie ihre Sachen und Kleider und Wäsche ablegen ... Stundenlang hieß es dann, nackt auf dem Platz stehen und warten, bis ein Raum in den Blocks freigemacht war ... Von draußen wurde berichtet, es lägen viele Leichen von Erschöpften und Erschossenen auf den Straßen ... Es hieß auch, auf dem Geleise vor dem Lager warte ein Transport, der wegen Platzmangel nicht ausgeladen werden könne. Die meisten verschmachteten in den geschlossenen Waggons, wie wir später sahen.

(Es waren Häftlinge, die aus Buchenwald evakuiert worden waren.)

Die Entwicklung der letzten Tage ist gut bekannt geblieben; denn zwei Häftlinge — der Belgier Arthur Haulot und der Albaner Ali Kuci, die beide der international zusammengesetzten Widerstandsbewegung angehörten — haben in diesen Tagen ein Tagebuch geführt, das erhalten geblieben ist. Unter dem 22. April 1945 ist dort zu lesen:

Von Stunde zu Stunde wechselt die Atmosphäre im Lager, vom extremen Optimismus zum schwärzesten Pessimismus ... Die Situation stellt sich nun folgendermaßen dar: Auf der einen Seite die Lagerleitung, 1.400 Mann, bis an die Zähne bewaffnet, im Besitz von Explosivstoffen und Giftgas, von Haß und Furcht zugleich besessen. Auf der anderen Seite 35.000 Menschen, darunter 10.000 Kranke und 5.000 Unzuverlässige, zusammengepfercht, von Hunger und Furcht geschwächt, von allem entblößt, ohne irgendein anderes Verteidigungsmittel als nur ihre Masse. Und zwischen diesen beiden Gruppen eine Handvoll Leute, ebenfalls ohne jegliche Kampfmittel, dafür aber ausgerüstet mit Erfahrung und Mut und von dem Willen beseelt, es selbst mit dem Teufel aufzunehmen.

Unter dem 23. April steht, daß um 13 Uhr befohlen wird,

alle Juden ohne Ausnahme sollen sofort evakuiert werden. Nach kurzer Zeit sind 2.400 Juden versammelt, alle sind kraftlos und ausgehungert, viele liegen hoffnungslos auf dem Boden. Wir anderen sind von Angst erfaßt, jeder weiß, was ein Judentransport zu bedeuten hat ... Langsam bricht die Nacht herein; die Juden, eine konfuse, summende Masse, sind noch immer da.

Um 8 Uhr morgens werden sie in Marsch gesetzt.

Eintragung vom 24. April:

Die Typhusepidemie greift weiter um sich — täglich mehr als 200 Leichen — die Quarantäneblöcke gleichen Szenen aus der Hölle.

Unter dem 25. April ist zu lesen:

»Während der ganzen Nacht war Fliegeralarm. Am Morgen abermals Fliegeralarm; er dauert praktisch den ganzen Tag.« Der Alarm hindert zwar die SS, Evakuierungen durchzuführen, aber nicht, Häftlinge, die im Bunker waren, zu erschießen. »Wann wird an uns die Reihe sein, zu sterben? Morgen oder übermorgen? Und dabei sind die Amerikaner so nahe!« Auch in Dachau hat die SS aus Häftlingen — anfangs aus Deutschen, die wegen krimineller Vorstrafen im Lager waren — eine Lagerpolizei aufgestellt. Sie wurde auf 900 Mann verstärkt. »Dort hinein schmuggeln wir unsere Leute — zuverlässige, entschlossene Kameraden. Die SS ist weiter in fieberhafter Eile mit der Vernichtung kompromittierender Papiere beschäftigt. Unter dem Anschein, ihnen dabei zu helfen, verbrennen wir alle Listen und Kartotheken. Von jetzt an ist es unmöglich, festzustellen, wer sich im Lager befindet ... Die Hungersnot verschärft sich.«

Am 26. April schreiben Haulot und Kuci den Text eines Befehls ab, den Himmler an den SS-Obergruppenführer Oswald Pohl gerichtet und den dieser offenbar an den Kommandanten von Dachau weitergeleitet hat — er wurde auf dessen Tisch eingesehen und abgeschrieben. Dort heißt es:

»Die Übergabe des Lagers kommt unter keinen Umständen in Betracht. Das Lager ist sofort zu evakuieren. Kein Gefangener darf dem Feind lebend in die Hände fallen.« Begründet wird dieser Befehl mit folgenden Worten: »In Buchenwald haben die Gefangenen die Zivilbevölkerung grausam mißhandelt« — offenbar nach ihrer Befreiung.

Am 26. April wurde ins Tagebuch eingetragen: »Die am 24. in die Waggons verladenen Juden haben noch immer nicht abfahren können. 700 von ihnen sind bis jetzt gestorben.« An diesem Tag befahl die Lagerleitung, daß sich um 12 Uhr alle auf dem Appellplatz zum Abmarsch bereitzuhalten haben. Dazu im Tagebuch: »Das bedeutet das Ende, aber wir sind fest entschlossen: Dieser Befehl wird nicht ausgeführt.« Die Widerstandsgruppe tut alles ihr Mögliche, um das Antreten hinauszuzögern. »Erst gegen 2 Uhr gelingt es (der SS), eine erste Kolonne zusammenzubringen. Als erste sollen die Deutschen, nach ihnen die Russen abmarschieren.« An diesem Tag befinden sich — offenbar einschließlich der Außenlager — 67.000 Häftlinge im Lager, vor allem Polen und Russen. Die SS hatte noch einmal Erfolg, indem sie nationale Gruppen gegeneinander ausspielte. »7.000 Menschen, von denen mindestens 5.000 bereits Skeletten gleichen, passieren zum letzten Mal das Lagertor. In dieser Nacht schläft niemand. Alles ist nervös und in gereizter Stimmung. Wir wissen, daß unser Leben unmittelbarer als je zuvor in Gefahr ist.«

Deutsche Pfarrer fanden einen Weg, um mit dem Kommandanten zu sprechen. Er versicherte, daß deutsche Geistliche nicht abtransportiert werden, wenn sie nicht marschfähig sind. In Dachau waren Jahre hindurch zahlreiche Geistliche interniert, vor allem polnische.

Am 27. April sollte »der Rest der Russen und sämtliche Italiener« abmarschieren. Wieder gelingen Verzögerungsmanöver, Geschützlärm vergrößert die Verwirrung der SS. »Der ganze Betrieb gerät in ein hoffnungsloses Durcheinander.« Um halb elf Uhr vormittag verhindert ein Fliegeralarm weitere Evakuierungsversuche. Sie unterbleiben. »In der Tat hat sich zwischen der SS und den Gefangenen eine Art Waffenstillstand entwickelt. Die Letzteren beweisen keinerlei Disziplin gegenüber ihren Wächtern mehr«, notieren Haulot und Kuci.

In diesen kritischen Tagen werden auch andere Versuche unternommen, um eine Befreiung des Lagers zu beschleunigen. Mit Hilfe eines SS-Mannes, der schon bereit ist, den Gefangenen zu helfen, können Häftlinge — als Arbeitskommando formiert — das Lager verlassen. Der Deutsche Karl Riemer schlägt sich nach dem Westen durch, wo bereits amerikanische Einheiten stehen. Er bestürmt deren Kommandanten, so schnell wie nur möglich das Lager zu befreien. Andere besetzen mit Bürgern der Stadt Dachau das Rathaus. SS-Einheiten griffen sie an, mehrere fielen im Kampf, andere wurden gefangengenommen und erschossen. »Auf jeden Fall hat ihre Aktion in Verbindung mit unserer Sabotagetätigkeit jeden weiteren Abtransport verhindert«, schreiben Haulot und Kuci.

Um 23 Uhr sind die letzten Gruppen der SS abgezogen. »Mit ihnen haben auch die Capos das Lager verlassen. Die Zurückgebliebenen bemühen sich um ein gutes Einvernehmen mit den Gefangenen«, denn es wurde bekannt, daß mehrere Capos von Buchenwald von ihren Mithäftlingen gelyncht worden waren, wie Leute erzählten, die mit einem der Evakuierungstransporte von dort nach Dachau gekommen waren.

In dieser Nacht treten 15 Männer, die 12 verschiedenen Nationen angehören, und die alle in den letzten Wochen an den verschiedenen Widerstandsaktionen mitgewirkt haben, heimlich zusammen. Haulot und Kuci, die dieser Gruppe angehören, schreiben:

Jetzt kommt es darauf an, daß, wenn die SS wirklich fort ist, morgen (also am 29. April) bei Tagesanbruch das Leben im Lager ungestört weitergeht und die Ordnung aufrechterhalten wird, bis die Alliierten uns die Freiheit bringen. 32.000 Mann beträgt augenblicklich die Belegschaft des Lagers. Zwei Drittel von ihnen ist krank, entkräftet, liegen zum Teil im Sterben. Wir haben im Höchstfall und bei sorgfältigster Verteilung Lebensmittel für 24 Stunden, keinerlei Medikamente. Andererseits schwelen überall nationaler Haß, persönlicher Groll, Eifersüchteleien und Rachegelüste. Das alles muß um jeden Preis eingedämmt und die Ruhe aufrechterhalten werden. Worauf es jetzt ankommt, ist, diese 32.000 Menschen dem Tode zu entreißen.

Für das Lagerleben unentbehrliche Arbeit wird organisiert, Passierscheine ausgegeben.

Nach durchwachter Nacht steht im Tagebuch unter dem 29. April: »Vor uns, auf den Masten, wehen leicht im Morgenwind zwei große weiße Fahnen.« Um 17 Uhr 25 fährt ein amerikanischer Jeep ins Lager, der amerikanische Major übergibt der wohlorganisierten Gruppe der Gefangenen sämtliche Vollmachten, während die amerikanischen Truppen den äußeren Schutz übernehmen. Das letzte Opfer war ein polnischer Häftling: Vom Turm 8 erschoß ihn ein SS-Mann. »Die Amerikaner legten die Besatzung des Turmes sofort um.«

Auch aus Dachau sind Zahlen erhalten geblieben, die belegen, wie mörderisch die allerletzte Phase war: Ab Anfang 1940 bis zur Befreiung wurden in Dachau 27.839 Tote registriert; im Jahr 1944 war die Zahl am höchsten: 4794. Aber allein in den ersten vier Monaten 1945 sind 15.384 Tote gezählt worden. In dieser Zahl sind diejenigen nicht inbegriffen, die bereits aus dem Lager getrieben worden waren. Sie zählten nicht mehr zum Stand, sobald sie aus dem Lagertor marschiert sind; ebensowenig die 700 Juden, die in den Waggons gestorben waren, bevor der Zug Dachau verließ, natürlich auch nicht all die vielen, nie gezählten, die auf den Evakuierungstransporten erschossen worden sind, weil sie nicht weiter marschieren konnten.

Neuengamme

Auch in diesem bei Hamburg gelegenen Konzentrationslager wirkten sich die Verhandlungen aus, die Himmler mit dem schwedischen Grafen Bernadotte geführt hat. Da sich Bernadotte in erster Linie bemühte, gefangene Skandinavier freizubekommen, sind diesbezügliche Schritte in den in Norddeutschland gelegenen KZ bekannt geworden.

Im März 1945 konnten Vertreter des schwedischen Roten Kreuzes ins Lager kommen. Norweger und Dänen aus anderen Lagern werden nach Neuengamme überstellt. Pakete des schwedischen Roten Kreuzes werden an sie ausgegeben — es liegen mehrere Berichte vor, die bezeugen, daß mit Paketen bedachte Häftlinge mit anderen teilten, was für einen chronisch Unterernährten nicht so selbstverständlich ist.

Am 15. April beginnt der Abtransport von mehr als 4.200 Norwegern und Dänen mit Wagen des schwedischen Roten Kreuzes. Zur gleichen Zeit werden Erschießungen von anderen Häftlingen durchgeführt. Und in Neuengamme werden ebenfalls deutsche Häftlinge der SS-Sondereinheit Dirlewanger zugeteilt. Sie bleiben im Lager zurück, während alle anderen — ebenso wie viele aus Außenlagern — nach Lübeck evakuiert werden; der Himmler-Befehl, keinen Häftling lebend in die Hände des Feindes fallen zu lassen, wirkt sich auch in Neuengamme aus. Ab 19. April fuhren die ersten Züge dorthin, in den folgenden Tagen wurden weitere Güterzüge mit Häftlingen nach Lübeck abgefertigt.

Auf drei Schiffe wurden sie verladen, auf die »Cap Arcona«, die »Thielbek« und die »Athen«. Schlimme Tage der Ungewißheit hatten sie unter Deck zu verbringen. Die Kapitäne wollten nicht ausfahren, wurden jedoch von der SS dazu gezwungen. Am 3. Mai — Hitler hatte bereits Selbstmord begangen und vorher Admiral Dönitz zu seinem Nachfolger bestellt, der in Schleswig-Holstein war und sowohl Möglichkeit als auch Autorität der SS gegenüber besessen hätte, um das Leben der Häftlinge von Neuengamme zu sichern — wurden die Schiffe von britischen Flugzeugen bombardiert. Nur die »Athen« blieb verschont, leider das kleinste der drei Schiffe. 1.998 Häftlinge konnten so überleben. Die 2.800 auf der »Thielbek« eingeschlossenen Gefangenen sind ebenso wie die 4.600 auf der »Cap Arcona« verbrannt oder ertrunken. Bereits vor dem 3. Mai sind auf dem letztgenannten Schiff schon etwa 300 Häftlinge gestorben. Nur etwa 400 konnten sich retten; von ihnen sind nicht wenige völlig erschöpft nach ihrer Befreiung gestorben.

Diese mörderische Episode widerlegt drastisch die Ansicht, die Verbrechen des Nationalsozialismus wären einzig und allein die Folge eines Fanatikers mit ungeheurer Suggestivkraft — Hitlers. Bei Dönitz war am 3. Mai auch Himmler in Schleswig-Holstein, der die Lage aller Konzentrationslager natürlich kannte. Bis Hamburg und Lübeck reichte damals noch die Befehlsgewalt des Nachfolgers des »Führers«. Das Massenmorden der Menschen, welchen die »Rassen«-Ideologie das Lebensrecht abgesprochen hat, wurde nach Hitlers Ende fortgesetzt.

Am 30. April wurden die letzten Häftlinge aus dem Lager Neuengamme hinausgeführt. Am 5. Mai erreichten englische Truppen das leere Lager.

Auch aus diesem KZ gibt eine Zahl Kunde von der übergroßen Sterblichkeit in dessen letzter Phase: In der Zeit zwischen dem 26.12.1944 und dem 25.3.1945 wurden 6.224 Leichen gezählt. Wie viele Tote die Evakuierung auf die Schiffe nachher noch forderte, wurde bereits erwähnt.

Mauthausen

In den letzten Wochen unterschied sich zunächst die Situation in Mauthausen kaum von der in den anderen Konzentrationslagern: »Ein chaotisches Durcheinander, hektisches Treiben bei der SS bei der Vernichtung der Akten und beim Verwischen der Spuren ihrer Verbrechen. Hungerrationen der Häftlinge, Kannibalismus, täglich mehr als 100 Tote« — so wird die Situation im April 1945 vom Chronisten des Lagers, Hans Maršálek, beschrieben.

Auch hier mordet die SS bis zuletzt. Und Mitte März werden in Mauthausen ebenfalls mehr als 200 deutsche und österreichische Häftlinge in die SS eingegliedert. Am 22. April fuhr eine Kolonne von Roten-Kreuz-Wagen ins Lager. Mehr als 1.400 Gefangene konnten in die Schweiz gebracht werden, vor allem Franzosen, Holländer und Belgier; aber auch in Mauthausen wurden Einzelne, die anderer Nationalität waren, in diese Gruppe eingeschmuggelt und so befreit.

So weit Parallelen zu den Ereignissen der letzten Tage vor der Befreiung. Die Situation in Mauthausen unterschied sich jedoch dadurch von der in den anderen Konzentrationslagern, daß der Selbstmord Hitlers bekannt wurde, als das Lager noch in Händen der SS war. Dazu kam, daß am 28. April ein Lastwagen-Transport des Internationalen Roten Kreuzes nach Mauthausen kam, dessen Leiter — Louis Haefliger — sich schließlich im Lagerbereich einquartieren und auch mit einzelnen Häftlingen Kontakt aufnehmen konnte.

Als Folge dieser Entwicklung verließen SS-Angehörige in der Nacht vom 2. zum 3. Mai und in den Tagen danach das Lager. Die Bewachung wurde von Einheiten der Wiener Feuerschutzpolizei übernommen. Der Spanier Ramón Bargueño, der als Häftling im Lagergefängnis zu arbeiten hatte, erinnert sich:

Ein Hauptmann der Wehrmacht blieb als Verantwortlicher für das Gefängnis zurück. Er brach in Tränen aus und sagte, daß er nicht für das verantwortlich sei, was in dem Gefängnis geschehen sei. Wir forderten ihn auf, uns seine Pistole zu geben und wegzugehen. Dann öffneten wir alle Zellen und erklärten den Insassen, daß sie frei sind.

»Es wurde nicht gearbeitet«, wird die damalige Lage beschrieben, »die Häftlinge bildeten überall Gruppen und es wurde der Eindruck erweckt, als ob sich das Lager auflöste. Das einzige, was noch funktionierte, war die Bewachung.« Eine Widerstandsgruppe begann Verhandlungen mit dem Leiter der Feuerschutzpolizei. Maršàlek — in der Leitung dieser Gruppe aktiv — schreibt: »Die zum Teil bewaffneten militärischen Häftlingseinheiten (die auch von einzelnen SS-Angehörigen Waffen erhalten hatten) formierten sich an verschiedenen Stellen des Lagers. Sie standen in permanenter Alarmbereitschaft. Oberhalb des Haupttores des Hauptlagers befestigten Spanier (die mit zu den aktivsten zählten) Transparente.« Man konnte dort lesen: »Los Españoles antifascistas saludan a las fuerzas liberadoras« (Die antifaschistischen Spanier grüßen die Armeen der Befreier).

Louis Haefliger fuhr am 5. Mai zusammen mit einem SS-Offizier den Amerikanern nach Linz entgegen, um sie so schnell wie möglich zum Lager zu bringen. Maršálek schildert die endgültige Befreiung:

An diesem herrlichen Tag, etwa um 12 Uhr, hörte man zuerst von der von Nebelschwaden verdeckten Zufahrtsstraße ein starkes Motorengeräusch und dann — dann kamen langsam in das Sonnenlicht hervor: ein weißer Personenkraftwagen mit Haefliger und zwei amerikanische Panzerspähwagen! Unweit des Krankenlagers blieben sie zuerst stehen. Im gleichen Augenblick werden die Torflügel des Sanitätslagers von den Insassen weit aufgerissen. Hunderte und Hunderte Männer, Frauen und Kinder strömten im wilden Haufen zu den Fahrzeugen, halb verhungerte Geschöpfe, lebende Skelette. Es war, als hätte sich ein Massengrab geöffnet.

Wohlorganisiert, diszipliniert, bewaffnet sicherten die Widerstandskräfte das befreite Lager: »Dort, wo einige Tage vorher noch die SS regierte, regierte nun unser Stab. In weniger als zwei Stunden hatten wir die Lage vollkommen unter Kontrolle«, schreibt der Spanier Mariano Constante.

Im benachbarten Nebenlager Gusen herrschten hingegen Chaos, Lynchjustiz und Plünderungen; keine disziplinierte Organisation wie im Stammlager verhinderte Explosionen dieser Art, mit denen 20.000 den ersten Schritt in die Freiheit begleiteten. Ähnlich erfolgte auch die Befreiung der zahlreichen Außenlager von Mauthausen.

Als letztes wurde das zum Schluß immens vergrößerte Außenlager Ebensee befreit. Der Terror des Lagerleiters und ihm willfähriger deutscher Häftlingsfunktionäre verstärkte sich bis zuletzt. Im April 1945 sind in Ebensee 4.547 Menschen gestorben — im August 1944 wurden dort 30 Tote gezählt.

Dennoch konnte sich auch in Ebensee eine Widerstandsgruppe organisieren, die von einzelnen Wehrmachtsangehörigen — die dort zur Bewachung mit eingesetzt wurden — nicht nur mit Nachrichten und Lebensmitteln, sondern auch mit einigen Waffen versorgt wurde. Auf diesem Weg erfuhr sie, daß der Lagerführer plante, die Häftlinge unter dem Vorwand, sie vor Kampfhandlungen zu schützen, da er sich gegen die heranrückenden Amerikaner verteidigen wolle, in den Stollen zu schicken, in dem sie sonst zu arbeiten hatten. Den Stolleneingang hatte er zur Sprengung vorbereiten lassen.

Der entscheidende Augenblick wird so beschrieben:

Am 5. Mai sind etwa 10 000 Häftlinge zum Frühappell angetreten, weitere 6.000 waren im Krankenrevier. Der Lagerführer kam in Begleitung der Blockführer. Hinter ihm standen im Halbkreis SS-Männer mit Maschinenpistolen. Der Lagerführer Anton Ganz forderte die Häftlinge auf, Schutz in den Stollen zu suchen. Der Lagerdolmetsch übersetzte das in mehrere Sprachen. Entschiedene Rufe: »Nein, nein!« antworteten. Zum ersten Mal lehnten die Häftlinge massenhaft den Gehorsam ab, es scheint, daß die Häftlinge in diesem Moment keine Häftlinge mehr sind.

Der überraschte Lagerführer zog mit seiner Mannschaft ab, das Lager war frei. Auch hier kam es zu Lynchjustiz: »Es war ein schrecklicher, erbarmungsloser Ansturm, der wie Hochwasser losbrach und nicht zu bewältigen war.«

Am 6. Mai um 14 Uhr 50 erreichten amerikanische Panzer das Außenlager Ebensee. Die weit, weit opferreichste Epoche in der Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager ist endlich abgeschlossen. Der »radikalste Antihumanismus« — wie Eugen Kogon das System der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager bezeichnet —, verstärkt durch die chaotischen Verhältnisse der letzten Monate und Wochen des »Dritten Reiches« war endlich durch die Armeen der Alliierten zerschlagen worden.

So weit eine skizzenhafte Darstellung, auf Grund von erhalten gebliebenen Dokumenten, Aussagen und Berichten zusammengestellt. Dem seien noch meine Erlebnisse dieser letzten Epoche angefügt. Sie könnten sich in anderen der überaus zahlreichen kleinen Außenlagern der KZ vielleicht ähnlich abgespielt haben.

Nach Dachau und Auschwitz bin ich im August 1944 zum KZ Neuengamme (bei Hamburg) überstellt worden. Zuletzt war ich in dessen Außenlager Lerbeck bei Porta westfalica, einem kleinen Lager. Am 1. April 1945 wurden wir vor den nahenden amerikanischen Truppen nach Fallersleben überstellt, einem anderen Außenlager von Neuengamme, dessen Häftlinge für das Volkswagenwerk zu arbeiten hatten. Am 7. April abends wurde auch dieses Lager evakuiert.

Ein bayrischer Freund und ich hatten uns bereits in Lerbeck mit dem Gedanken getragen, zu fliehen; denn wir kannten die SS seit Jahren und trauten ihr alles zu. In Lerbeck waren wir insgesamt — wenn ich mich richtig erinnere — nur etwa 5 Deutsche (ich als Österreicher wurde ja immer in den KZ als Deutscher geführt) bei einem Stand von einigen hundert Häftlingen. Als solche hatten wir weit mehr Möglichkeiten und haben diese auch so ausgenützt, daß wir uns eine zweite Häftlingsmontur verschafft haben. Unter dem Zebra-Anzug hatten wir vor dem Überstellungstransport einen schwarzen Anzug angezogen, wie er damals ebenfalls benützt wurde, weil die Zebra-Uniformen nicht mehr ausreichten. Es handelte sich um Anzüge, die Juden abgenommen worden waren, die seinerzeit zur Vernichtung nach dem Osten deportiert worden waren. Sie waren durch rote Minium-Streifen auf dem Rücken und an den Hosenbeinen als Häftlings-Bekleidung gekennzeichnet. Wir hatten uns bemüht, diese Streifen möglichst wenig sichtbar zu machen.

Der Zug, in dem wir von Fallersleben in nordöstlicher Richtung fuhren, stand mehr, als er fahren konnte; Chaos herrschte damals auch auf der Bahn. Im Frachtenbahnhof von Salzwedel stand unser Zug am 11. April nachmittags auf einem Nebengeleise; auf anderen mehrere Garnituren mit Gütern aller Art. Unsere Wachmannschaft nützte die Zeit, um die herrenlosen Waggons zu durchsuchen. Es gab dort Lebensmittel und Rauchwaren in großen Mengen. Weil die SS-ler nicht selbst Kisten tragen wollten, öffneten sie den Lastwaggon, in dem wir Deutsche untergebracht waren — sie hatten die Deutschen separiert von den Häftlingen anderer Nationalität einwaggoniert —, und befahlen uns, alles ihnen brauchbar Scheinende in ihren Waggon zu tragen. »Ihr könnt Euch auch etwas zum Essen nehmen«, fügten sie hinzu. Während der Fahrt hatten wir kaum Verpflegung bekommen. Es gab Tote im Zug, die auf Bahnhöfen aus den Waggons geworfen wurden gegen den Protest des Bahnhofspersonals, das sich offensichtlich fürchtete, für die Toten von den Alliierten zur Verantwortung gezogen zu werden. Mein bayrischer Freund und ich sonderten uns bei dem Rennen und Schleppen ab, zogen in einem leeren Lastwaggon den Zebra-Anzug aus und gingen möglichst ruhig im schwarzen Anzug aus dem Frachtenbahnhof. Wir hatten Glück: Es wurde Fliegeralarm gegeben, alles lief, auch die Zivilbevölkerung von Salzwedel. Wir rannten in einen Wald und blieben dort die Nacht über. Am Morgen des 12. April sahen wir auf einer Straße bereits amerikanische Panzer fahren. Nun gingen wir, ohne uns weiter zu verstecken, ins nächste Dorf, dessen Häuser bereits weiße Fahnen herausgesteckt hatten. Wir waren frei.

Später habe ich mich bemüht, Freunde wiederzufinden, die im selben Transport waren wie ich. Ich konnte nicht erfahren, was ihr Schicksal in den letzten Tagen war. Ich muß fürchten, daß sie getötet wurden, sei es auf den Schiffen in der Lübecker Bucht, von denen dieser Bericht kündet, sei es anderswo.

Ich wurde von amerikanischen — und später in Hannover auch von englischen — Offizieren sehr gut und recht formlos aufgenommen. Ich wollte so schnell wie nur möglich nach Hause, nach Wien.

Am 5. Mai 1945 fuhr ich auf einem Fahrrad dorthin. Dieser Schein, den mir ein amerikanischer Offizier in Gifhorn ausgestellt hatte, war das einzige »Dokument«, das ich besaß. Es genügte für eine lange Fahrt.

So weit meine Geschichte, die das Außenlager Lerbeck betrifft. Das KZ Neuengamme hatte an die 70 Außenlager, größere und kleinere. Ich fürchte, von Lerbeck konnten nur mehr mein bayrischer Freund und ich berichten. Wer blieb von den anderen Außenlagern am Leben, um Zeugnis ablegen zu können?

Und was ist mit den Außenlagern der anderen KZ? Dachau hatte mehr als 130, Buchenwald, Groß-Rosen und Flossenbürg an die hundert.

Das soll andeuten, daß jeder Bericht über das mörderische Ende der nationalsozialistischen Konzentrationslager notwendigerweise fragmentarisch bleiben muß.

Lieferbare Bücher von H. L.:

  • Menschen in Auschwitz, Europa Verlag, Wien 1987;
  • ... nicht wie die Schafe zur Schlachtbank — Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Fischer TB 3486, Frankfurt 1988;
  • Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas (Herausgeber gemeinsam mit Eugen Kogon und Adalbert Rückerl), Fischer TB 4353, Frankfurt 1989;
  • Die Stärkeren. Ein Bericht aus Auschwitz und anderen Konzentrationslagern, Wien (Ephelant) 2008.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1994
, Seite 18
Autor/inn/en:

Hermann Langbein:

Schriftsteller, Schauspieler und Journalist. Vor dem Jahre 1938 wurde er als Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs mehrmals verhaftet. 1938 kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg, wurde in einem französischen Lager interniert und 1940 an die Gestapo ausgeliefert. Er überlebte das Konzentrationslager Auschwitz. 1956 kam es zum Bruch mit der Kommunistischen Partei. Er wurde Gründungsmitglied der „Gesellschaft für politische Aufklärung“ und Generalsekretär des „Internationalen Auschwitz-Komitees“. 1968 erhielt er die Medaille der Gerechten. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und setzte sich als Zeitzeuge mit fundierten Wissen mit dem System der Nationalsozialisten auseinander.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar

Beachten Sie auch:

  • Zum 76. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 1945
    Vergangenheitsbewältigung und Trauerarbeit in Österreich
    Von ihm können wir lernen, was Gedenkpolitik heißt, und den Umgang mit Vergangenheit. Der Wiener Schauspieler flüchtete nach dem „Anschluss“, kämpfte in Spanien gegen die Errichtung der Diktatur, floh (...)