Seit die Politiker aus den Sommerferien zurückgekehrt sind, ziehen in der österreichischen Innenpolitik wieder etwas rauhere Herbstwinde herauf. Das Mailüfterl, das nach der Präsidentenwahl zu wehen begann, ist nur noch eine holde Erinnerung. Damals lag man einander gerührt in den Armen und war, auch wenn es auf der einen Seite nicht den Anschein hatte, beiderseits froh, jenes Gleichgewicht der Kräfte wiederhergestellt zu sehen, dessen Störung durch die Wahl von 1956 auf der andern Seite ungutes Aufstoßen verursacht hatte. Es lebe die Koalition! Die Gewichte in den Schalen der Macht sind wieder gleichmäßig verteilt! Und die Losung von der „Überparteilichkeit“, die im Präsidentschafts-Wahlkampf eine so große Rolle zu spielen schien, geht den Weg aller Losungen, die ihre Rolle ausgespielt und noch dazu erfolglos ausgespielt haben ...
So ungefähr lautete der gemeinsame Tenor der Analysen, die von Claus Gatterer und Franz Kreuzer über das Schicksal der Überparteilichkeit vorgebracht wurden. Beide stimmten darin überein, daß die Präsidentenwahl die Abneigung des österreichischen Volkes gegen die ihm angepriesene Überparteilichkeit bewiesen hätte, daß aber die Überparteilichkeit etwas sehr Wünschenswertes sei und bleibe, auch wenn der Wähler sie abgelehnt habe.
Konkurrenz für die Parteien
Diese Übereinstimmung der beiden Diskussionspartner scheint mir aus vielen Gründen interessant. Tun wir für einen Augenblick so, als wären „rechts“ und „links“ in der Politik noch heute gültige und wirklich deskriptive Bezeichnungen. Die Sache sähe dann etwa so aus: mein Freund Claus Gatterer, der von „rechts“ kommt, von den „Salzburger Nachrichten“, bringt von dort her einen begreiflichen und sozusagen organischen Hang zur „Überparteilichkeit“ mit, macht aber seinen resignierten Frieden mit den Parteien, weil sie nun einmal nötig sind und weil der Wähler es nicht anders haben will. Mein Freund Franz Kreuzer gehört zur einen dieser Parteien, zur sozialistischen (wie auch ich); dort galt „Überparteilichkeit“ bisher als etwas eher Suspektes, aber er bekennt dennoch eine gewisse Neigung für sie. Bemerkenswert ist eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Partner: sie gehören (wie auch ich) zur „jüngeren Generation“, deren Angehörige älter sind als die Jungen, aber jünger als die Älteren, die das Ruder der Parteien „rechts“ und „links“ noch immer in den Händen halten.
Der Denkbereich der Jüngeren deckt sich nur noch ungefähr mit den traditionellen politischen Meinungsbezirken. Über deren Grenzen hinweg verstehen die Jüngeren einander in der Gemeinsamkeit eines generationsmäßig bedingten Nonkonformismus. Kommt dieser in so sauberer und offener Form zum Ausdruck wie bei den oben Genannten, so ist das besonders erfreulich. Äußert er sich nur im privaten Augurenlächeln jener „Jüngeren“, deren parteibeamtete Federn bereits im Dienst einer offiziellen (und obsoleten) Partei-Idiomatik stehen, so ist das zwar weniger erfreulich, darf aber trotzdem nicht übersehen werden. Denn ob offen oder insgeheim: die Jüngeren haben das Bedürfnis, aus den abgebrauchten Denkgeleisen der Parteiälteren auszuspringen. Bei den ganz Jungen, die sich gelegentlich der Präsidentschaftswahlen erstmals zu Wort gemeldet haben, wird das wohl noch in höherem Maß der Fall sein. Die Älteren täten gut daran, das in Rechnung zu stellen. Und gerade ihnen haben die beiden Diskussionspartner eine nicht ungefährliche (wenn auch zweifellos unbeabsichtigte) Hilfe geleistet, indem sie zwar allerlei Positives für die Überparteilichkeit ins Treffen führen, aber dann erst recht zu dem Ergebnis gelangen, daß der Wähler für die Überparteilichkeit offenbar nichts übrig habe, denn seine Entscheidung ist ja zugunsten des Parteimannes gefallen.
Eine solche Deutung des Wahlresultats muß der unterlegenen ÖVP im Grund genau so lieb sein wie der erfolgreichen SPÖ. Denn sowohl ÖVP wie SPÖ sind ja Parteien und erblicken in der Überparteilichkeit eine Art Konkurrenz — die dann also bei den Präsidentschaftswahlen eine empfindliche Schlappe erlitten hätte.
Stimmt das? Haben die Wahlen wirklich bewiesen, daß die Österreicher von Überparteilichkeit nichts wissen wollen? Verhält es sich nicht eher so, wie es schon im Kommentar dieser Zeitschrift [1] zum Ergebnis der Wahlen angedeutet wurde? Kurz gesagt: Schärf gewann nicht, weil er Parteimann war, sondern obwohl er Parteimann war. Und Denk verlor nicht, weil er „überparteilich“ war, sondern weil er nicht genügend überparteilich war. Für das ausschlaggebende Hunderttausend von Wählern war der eine, der nicht genügend überparteiliche Kandidat allzu eng mit einer der beiden Großparteien verbunden, und daß er ihr notfalls Widerstand leisten würde, schien den Wählern auf Grund einiger Präzedenzfälle aus seiner Vergangenheit wie auf Grund seiner mangelnden politischen Erfahrung wenig wahrscheinlich. Der andere Kandidat, wiewohl sein Lebtag ein deklarierter Parteimann, hatte damit auch die gründliche politische Erfahrung für sich und schien den Wählern, wenn schon keine „Überparteilichkeit“, so doch ein Gleichgewicht zwischen den Parteien zu garantieren, das sie ganz offenbar dem Übergewicht einer Partei in beiden Spitzen der Exekutive vorzogen.
Das war die Situation. Aber wie hätte es ausgesehen, wenn ein wirklich überparteilicher Kandidat aufgetreten wäre, politisch erfahren wie der eine von beiden, persönlich integer wie beide, und von unbestrittener Autorität in allen Kreisen der Bevölkerung wie keiner von beiden? Eine interessante, wenn auch leider müßige Frage; denn einen solchen Wundermann müßte man erst einmal haben.
Das Gesetz des Gleichgewichts
In jedem Fall scheinen mir die beiden FORVM-Dis-kutanten im Irrtum zu sein, wenn sie annehmen, daß die Wahl eines bestimmten Kandidaten oder einer bestimmten Partei einen Beweis für die Zufriedenheit der Wählenden darstelle. So einfach liegen die Dinge nicht. Zahllose Wähler, gleichviel welcher Richtung, wählen nicht den Gegenstand ihrer Zufriedenheit, sondern das kleinere Übel. Und ihr Votum bei den Präsidentschaftswahlen konnte schon deshalb keine Ablehnung der Überparteilichkeit dokumentieren, weil ja gar kein echter Überparteilicher da war. Für eine entscheidende, nämlich genügend große Zahl von nicht fest parteigebundenen Wählern war der parteigebundene Kandidat das kleinere Übel, mit dem sie das größere, nämlich das Übergewicht einer Großpartei, verhindern und das Gleichgewicht zwischen den beiden Großparteien retten konnten.
Dieses „Gesetz des Gleichgewichts“ ist auf der österreichischen Szene seit 1945 schon mehrmals wirksam geworden. Es entspricht dem Willen der Wähler, die Körner und Schärf ins Amt gebracht haben, und es entspricht sogar dem Willen der nicht enragierten Parteipolitiker auf beiden Seiten, also wohl dem Willen der beiderseitigen Mehrheit. Es hat die Wahl Renners durch die Bundesversammlung mit den Stimmen der ÖVP ermöglicht, und es hat jenen Pendelschlag von Wahl zu Wahl ausgelöst, der zwischen 1953 und 1956 besonders deutlich wurde; als die Wähler 1953 den Sozialisten fast den Sieg gegeben hatten, erschraken sie derart, daß sie ihnen 1956 fast eine Niederlage bereiteten — und wählten 1957 einen passionierten Sozialisten zum Präsidenten. Darin liegt kein Widerspruch. Darin liegt Methode.
Das österreichische Gesetz des Gleichgewichts funktioniert auch dann, wenn man den nicht parteigebundenen Wählern einen eindeutigen Parteipolitiker vorsetzt. Damit ist aber keineswegs bewiesen, daß der Österreicher mit den Parteien schlechthin zufrieden ist und die Überparteilichkeit schlechthin ablehnt. Damit ist vielmehr bewiesen, wie wenig absolutes Vertrauen er zu den Parteien hat und wie sehr er auf relative Überparteilichkeit hält. Er ist so überparteilich, daß er einem unecht überparteilichen Kandidaten nicht die Mehrheit gibt. Er ist so überparteilich, daß er, auch wenn er selbst sich an keine Partei binden will, zur Erhaltung des politischen Gleichgewichts einem Parteimann den Vorzug gibt. Er ist mittels der Parteien überparteilich. Er mißtraut allen beiden und will keine von ihnen im Besitz eines eindeutigen Übergewichts sehen.
Unter den gegenwärtigen Umständen mag das eine recht gesunde Praxis sein. Aber kann das ewig so weitergehen?
„So geht’s nicht weiter“ und „Es muß was g’schehn“ sind in diesem Land seit jeher populäre Forderungen gewesen. Jedermann ist sich klar darüber, daß einschneidende politische, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen nötig sind. Aber niemand weiß, wie sie Zustandekommen sollen, solange die beiden großen politischen Kraftformationen einander so erfolgreich aufheben und solange dies obendrein nach dem Willen der Wähler geschieht. Die Folgen dieses Zustands: Erstarrung statt Bewegung, Kompromiß statt Aktion. Das ist es, was die österreichische Politik so farblos und uninteressant macht, besonders in den Augen der Jugend. Und das wiederum macht den gegenwärtigen Zustand so gefährlich für die Zukunft.
Was läßt sich dagegen tun? Ganz gewiß brächte es keine Abhilfe, das gegenwärtige System einfach über Bord zu werfen; es hat uns schließlich nach außen und innen, in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, eine Stabilität gebracht, um die uns mancher größere und reichere unter den europäischen Staaten mit Recht beneidet. Oder sollte der Wähler nicht doch einer der beiden Parteien ein entscheidendes Übergewicht geben? Gott bewahre uns davor. Wie die Dinge jetzt liegen, ist keine der beiden Parteien zur Alleinherrschaft geeignet. Jede von ihnen ist viel zu sehr verfilzt mit Positionen und Posten und Pöstchen an allen Ecken und Enden von Verwaltung und Wirtschaft und Kultur — also gerade auf jenen Gebieten, die jenseits aller Personalpolitik bleiben sollten. Nun ist es ja sicherlich schlimm genug, daß beide Parteien auf diese Weise herrschen. Herrschte aber auf solche Weise eine allein, dann wäre es zweifellos noch schlimmer. Einem Monopol in der Stellenvermittlung ist der Proporz immer noch vorzuziehen. Man darf nur nicht vergessen, daß auch ein kleineres Übel noch immer ein Übel ist.
Der überparteiliche Raum
Der Wähler vergißt nicht. Er produziert pünktlich Wahlresultate, mit denen er die Balance zwischen den Machtblöcken der beiden Großparteien aufrechterhält. Damit wahrt er die unter den gegebenen Umständen einzig erzielbare Überparteilichkeit. Er will aber, so behaupte ich, eine andere, bessere, echtere Überparteilichkeit — wüßte er nur, wo sie herzukriegen sei. Und er würde eine solche Überparteilichkeit, so behaupte ich weiter, auch wahrhaft verdienen; als Belohnung für zwölf Jahre Treue, Geduld, Mäßigung und Nachsicht gegenüber seinen Parteien. Er will und verdient die endliche Beendigung eines Zustands, in dem sämtliche Posten, vom Volksschullehrer bis zum Universitätsprofessor und vom Türlsteher bis zum Betriebsdirektor, gemäß der Parteizugehörigkeit vergeben werden. Das ist ein Zustand, wie es ihn heute und in diesem Umfang höchstens noch in ein paar kleinen süd- oder mittelamerikanischen Operettenrepubliken gibt. Und eben in Österreich. Dem jungen Menschen wird — nicht einer Idee, sondern der nackten Existenz halber — ein Parteibuch in die Tasche praktiziert: und genau die Gleichen, die diesen Taschenspielertrick seit zwölf Jahren mit ständig wachsender Meisterschaft handhaben, wundern sich dann über den Zynismus der Jugend und jammern darüber, daß einstmals stolze Ideengemeinschaften zu Klubs von Postenjägern degeneriert seien.
All das geschieht inmitten unserer gewaltigen, unbestreitbaren und unbestrittenen Aufbauerfolge. Sie werden auch von unserer Jugend nicht bestritten. Allerdings werden sie von ihr auch nicht zur Kenntnis genommen. Die Jugend sieht nur den Parteiensumpf, der sie umgibt. Dieser Sumpf muß, wo immer es angeht, trockengelegt werden. Wir müssen, soll dieses Land für seine Jugend nicht geistig unbewohnbar werden, einen sauber abgedämmten überparteilichen Raum schaffen, der sich auf die Gebiete der Verwaltung, der Wirtschaft und der Kultur erstreckt. Erst wenn die Parteien aus diesem Raum vertrieben sind, den sie, wenngleich auf eine durch die besonderen Umstände erklärbare Art, usurpiert haben; erst wenn sie sich auf den ihnen rechtens zustehenden Raum beschränken, auf den Raum der eigentlichen Politik, der Meinungsbildung, der parlamentarischen Regierung —: erst dann werden sie verlangen dürfen, daß der Wähler mit ihnen zufrieden sei und mit keiner fragwürdigen „Überparteilichkeit“ liebäugle. Erst dann wird der Wähler, indem er eine von ihnen wählt, nicht bloß das kleinere Übel wählen und nicht bloß die beiden Übel gegeneinander ausbalancieren, sondern die Möglichkeit ins Auge fassen können, einer von beiden Parteien zwecks energischer Aktion ein deutliches Übergewicht zu verschaffen. Und erst dann wäre der Schritt von der provisorischen zur wirklichen Demokratie getan.
Aber wir wissen, daß nichts so dauerhaft ist wie ein Provisorium.
[1] „Ein demokratisches Wahlergebnis“