FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1984 » No. 364/365
Walter Famler
Bernd Rabehl

Alternativ mit allen Spinnereien

Bernd Rabehl, ehemaliger deutscher Studentenführer der 68-er-Bewegung, ist heute Assistenzprofessor für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Mit ihm sprach Walter Famler über seinen Marsch durch die Institutionen, über grüne, rote und schwarze Politik und (außerparlamentarische) Opposition.

Wenn ich mir Dokumente aus der Studentenbewegung anschaue, hab ich den Eindruck: da hat eine unheimliche Euphorie dahintergesteckt. Was für eine Rolle hat eigentlich der Euphorismus in der Studentenbewegung gespielt?

Als Zyniker und als Skeptiker ist jeder Intellektuelle unfähig, überhaupt Politik zu machen. Auch Intellektuelle müssen an ihren Ideologien nicht nur verzweifeln, sondern auch ein wenig an ihre Ideologien glauben. Und dieser Euphorismus war meiner Überzeugung nach ein notwendiger Euphorismus, ein notwendiger Utopismus. Denn wir hatten uns ideologisch auseinanderzusetzen mit den konservativen Ideologien, wie sie entstanden waren nach 1945 im Rahmen einer wahrhaften Demokratie, wie das die Konservativen nannten. Wir hatten uns aber auch auseinanderzusetzen mit der sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen Ideologie des Sozialstaates, der sozialen Umverteilung und sozialen Gerechtigkeit. Und wir hatten uns auseinanderzusetzen mit der DDR und osteuropäischen Ideologien des Marxismus-Leninismus, die auch immer ein Stück Macht, ein Stück Herrschaft repräsentieren. Von daher war unser Anspruch, unser Utopismus einfach notwendig um darüberhinauszudenken, Perspektiven zu zeigen und um für die politische Praxis uns selbst auch in Frage zu stellen. Dieser Utopismus trug auch existentielle romantische Züge. Da muß man jetzt nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sondern das braucht jede Intelligenz, die die Verhältnisse in Frage stellt.

Wenn ich Dir so als gewesener Revolutionär und jetziger Professor zuhör, dann fällt mir da was ein. Irgendwelche Leute haben da kürzlich Dein Institut besetzt. Du hast über diese Besetzung dann im Spiegel geschrieben und wie ich das gelesen hab, hatt’ ich nachher so das Gefühl: Aha, jetzt is der Rabehl Professor geworden und jetzt is er gegen Aktionen, die er selber als Student gemacht hat.

Wenn das den Eindruck verschafft hat, dann war der Artikel schlecht.

Ich gehöre zu einer intellektuellen Tradition der Aufklärung. Wir waren Aufklärer, wir standen nicht zufällig in der Tradition von Hegel, Kant, Marx, Marcuse, Freud, Reich. Wir glaubten an das gesprochene Wort. Wir waren überzeugt, daß das gesprochene Wort verstanden wird, umgesetzt wird, daß mit dem gesprochenen und geschriebenen Wort Bewußtseinsveränderung möglich ist. Wir sahen in der Geschichte einen Sinn, eine Zielsetzung, einen Zweck. Wir waren Sozialisten, das Problem der sozialen Emanzipation stand also im Mittelpunkt all unserer Überlegungen, so verrückt die auch jeweils gewesen sein mögen. Jetzt ist herangewachsen eine neue Intelligenz. Diese neue Intelligenz nimmt Abstand von der Tradition der Aufklärung, lebt aus der Unmittelbarkeit des Lebens, aus der Unmittelbarkeit der Existenz.

Was war passiert bei uns am Institut, wo ich seit nun fast 20 Jahren studiere und jetzt auch lehre? Studenten hatten Unterschichtjugendliche, Punker, Rocker aus den Arbeiterbezirken eingeladen zu einem Fest. Und das Erstaunliche: Diese Jugendlichen kamen. Nun war aber diese neue Intelligernz unfähig, mit denen zu reden, die war sprachlos, begriffslos. Sie drehten also die Musik auf, zerstörten und betäubten damit jede Sprach- und Gehörfähigkeit, verhielten sich also als Symbolisten und Existenzialisten. Und die Arbeiterjugendlichen ließen sich erst vollaufen und dann fühlten sie sich erinnert an die Arbeitsämter, an die Jugendämter, wo sie Repression erfahren, und sie zerstörten die Institutionseinrichtung. Sie klauten Geräte, elektrische Schreibmaschinen, Fernseher, Videogeräte, verkauften die dann irgendwo am schwarzen Markt. Die Situtation war die, daß die Intelligenz unfähig war, ihre Ideen, ihre Vorstellungen diesen Arbeiterjugendlichen zu vermitteln. Diese Sprachlosigkeit ist eigentlich ein Ausdruck dafür, daß es verschiedene Bewegungsformen der Intelligenz wie auch der Unterschicht gibt, daß aber nichts zusammenkommt. Die neue Intelligenz verzichtet, Freiheit, Demokratie, Sozialismus, Emanzipation zu formulieren. Sie drückt sich. Sie ist selbst fasziniert von den militanten Arbeiterjugendlichen, der Guerillero ist sozusagen heimgekehrt. Der Guerillero wohnt jetzt nebenan, der Guerillero ist der gewalttätige Putzmacher, der Kriminelle von nebenan. Es gibt keine Maßstäbe mehr, und ich muß sagen, dafür hab ich nur Verachtung.

Opposition 1968:
Existentiell romantische Züge
Diese neue Intelligenz, ist die symptomatisch für die Hochschulen?

Nur zum Teil. An den Westberliner Universitäten, auch an den Westdeutschen Universitäten sind gerade die sozialwissenschaftlichen Fächer Anziehungspunkt für junge Leute, die raus wollen aus der Enge ihrer Städte und Dörfer. Die studieren diese Fächer nicht, weil sie Erkenntnisinteresse haben, sondern weil sie ein Lebensinteresse haben. Weil sie über dieses Studienfach versichert sind, krankenkassenmäßig, und sozusagen eine Bindung an eine universitäre Institution haben. Das Institut, wo ich arbeite, ist das größte der Welt. Da studieren 3500 Studenten. Natürlich sind nur 500-600 da. Da gibts zwar eine ganze Reihe, die die Möglichkeit des Studiums nutzen, um für sich Bewußtsein zu entwickeln, Probleme zu durchdenken. Die betrachten das Studium als eine Art Bildungsurlaub und wissen ganz genau: Sie kriegen über diese soziologische Qualifikation keine Jobs und keine Berufe, sie werden unter Umständen immer wieder als Taxifahrer oder in ihren alten Berufen arbeiten. Das heißt, sie haben ein kritisches Verhältnis zu dieser Soziologieausbildung. Das waren nicht die, die bei der oben geschilderten Sache am Institut dabei waren. Sondern das ist so ein bestimmter Typus von Gymnasiast, der die Lebensstrategien der Familie, in der er groß geworden ist, erst mal ernst genommen hat und der nun plötzlich an der Universität merkt, daß die Universitäten Bewahranstalten für arbeitslose Jugendliche sind und darüber derartig entsetzt ist, daß er sozusagen Negativeliten bildet, also alles in Frage stellt und jetzt also sympathisierte mit Arbeiterjugendlichen, die scheinbar die militante Alternative zu dieser Gesellschaft darstellen.

Die neuen sozialen Bewegungen sind entstanden auf der Grundlage der neuen sozialen Widersprüche.

Die Kontinuität von Radikalposition ist nicht politisch, die Kontinuität wird hergestellt von den Verhältnissen. Wobei ich sagen muß, das liegt an der Art und Weise, wie die Verfassung in der Bundesrepublik konstituiert ist. Diese begrenzte Demokratie, die also alle plebiszitären Momente ausschaltet, die weitgehend wirtschaftsdemokratische Momente ausschaltet. Die radikaldemokratisch-kommunale Elemente ausschaltet. Also: imperatives Mandat ist verfassungsfeindlich. Volksabstimmungen über entscheidende Fragen sind verfassungsfeindlich. Das ist eine begrenzte Demokratie, die Konservativen sagen: wehrhafte Demokratie. Wer nicht auf dem Boden der Grundgesetze steht, ist verfassungsfeindlich, wer aber verfassungsfeindlich ist, das definieren die Konservativen. Also diese Konstitution der Verfassung produziert notwendigerweise immer wieder Opposition. Selbst wenn die Opposition der Grünen zugrunde gehen sollte, weil sie keine politische Perspektive gewinnt, bin ich überzeugt, daß es im Jahre 1990 wieder eine außerparlamentarische Opposition gibt und im Jahre 2000 wieder. Das heißt, es gibt, weil die Verfassung so konstituiert ist, ein Parteienprivileg, ein Bürokratienprivileg, ein Exekutivprivileg.

Weil die Verfassung so konstituiert ist, daß politische Entscheidungen in Gremien der Parteien und Verbände gefällt werden, ist immer auch angelegt eine radikaldemokratische Opposition. Die gabs in den 60er Jahren, da waren wir damals die Repräsentanten des Kampfes gegen den Adenauerstaat, gegen die Notstandsgesetze, gegen Parteien und Bürokratien, gegen die Ordinarienuniversität. Die gibts jetzt wieder als Kampf gegen die technologische und ökologische Zerstörung von Natur und Mensch und gegen die Aufrüstungspläne der NATO und die wird es immer wieder geben. Aber eine Kontinuität an Ideen existiert in dieser Opposition nicht. Wir waren keine Intelligentia. Ich sag das ungern, weil uns der Gegner immer verteufelt und meint, wir würden an den Universitäten sitzen und die Fäden ziehen. Leider ziehen wir keine Fäden.

Das is a bisserl a frustrierende Perspektive: Opposition bis ins Jahr 2000 und darüber hinaus und jede dieser Oppositionen ändert eigentlich nichts an den Herrschaftsverhältnissen, weil sie immer gleich integriert wird oder besser: sich integrieren läßt.

Gegenwärtig haben wir zum erstenmal eine Situation, wo die wachsende Arbeitslosigkeit gerade unter Jugendlichen und unter Akademikern eine Integration unmöglich macht. Man kann ironisch sagen: Die Integration der Achtundsechziger gelang mit der Vielzahl der Neugründungen von Hochschulen und Universtiäten. Bochum, Bielefeld, Osnabrück, Oldenburg, Kassel. Das hat ja hunderte und tausende von jungen Intellektuellen integriert. Der Aufbau von Gesamtschulen hat tausende junger Lehrer integriert. Der ganze Bauboom hat hunderte Architekten integriert.

Das ist jetzt alles nicht mehr drin. Es gibt keine Arbeitsstellen und damit auch diese Integrationsmöglichkeiten nicht mehr. Zum erstenmal ist also die Gesellschaft an einen Punkt gekommen, wo es unmöglich wird, die Intelligenz und Teile der Jugendlichen, vor allem auch der Unterschichtjugendlichen, über den Arbeitsprozeß zu integrieren. Und da ist jetzt die Frage, ob hier ein grundsätzlicher Bruch eingetreten ist, der der Sozialoppositon in den Achtzigerjahren eine neue Perspektive weist oder ob sie mit anderen, neuen Mitteln wieder integriert wird. Andere Mittel wären: Angst vor Arbeitslosigkeit, Vereinzelung der Arbeitslosen, Marginalisierung. Man kann ja auch die Werte, die die grüne Bewegung hat, konservativ besetzen. Blut und Boden, Raum, Leben, Heimat, Natur. Das sind ja Kategorien, die die Rechte schon in den Zwanzigerjahren für sich besetzt hat. Und das kann auch jetzt politisch wieder von den Konservativen besetzt werden.

Aber es ist noch nicht entschieden, ob die politische Integration wieder gelingt. Augenblicklich scheint es so, daß die Integration schwieriger geworden ist in der Bundesrepublik.

Worin unterscheidet sich die jetzige Opposition der Grünen und Alternativen eigentlich von früheren Radikaloppositionen in der BRD? Die ganze „Alternativkultur“ mit Läden, Kleinbetrieben, Landkommunen, mir ist nicht klar, ob diese Kleingewerblerideologie, die sich da breit macht, nicht ziemlich integrativ und damit systemkonform ist.

Ein wichtiges Moment der Alternativen und der Grünen, das darf nicht unterschätzt werden, ist, daß sie die Leistungsmoral in Frage stellen. Die alte Arbeiterbewegung hatte eine Leistungsmoral, die war fortschrittsbesessen. Das spiegelt sich wieder in der Gewerkschaft und in der SPD. Und die Konservativen sind sowieso leistungsbesessen. Und jetzt bricht zum erstenmal etwas durch und das reicht hinein bis in die Arbeiterschaft. Nämlich die Frage: Hats überhaupt einen Sinn, sich so abzurackern? Diese Haltung repräsentieren die Alternativen, wenn sie sagen, zwei Tage in der Woche Arbeit ist genug. Ich mein jetzt nicht die, die Du angesprochen hast, die alte Handwerke wiederentdecken und im Grunde konkurrieren mit klein- und mittelständischen Betrieben des Dienstleistungssektors. Und dann wieder all den damit verbundenen Konkurrenzmechanismen ausgesetzt werden. Für die seh ich auch keine Chance, die machen über kurz oder lang wieder Mittel- und Kleinbetriebe im kapitalistischen Sinn. Aber die Art von Jobeinteilung, von Lebenseinstellung, die die meisten Alternativen ja haben, damit stellen sie grundsätzlich die Leistungsmoral ja in Frage.

Es gibt eine Untersuchung im internationalen Rahmen, von Allensbach durchgeführt, und die zeigt: Die Arbeitsmoral in Westeuropa ist am niedrigsten in der Bundesrepublik. Und das ist ein Novum. Die Arbeitsmoral ist höher in Frankreich, in England, die Daten von Österreich kenn ich nicht, aber wahrscheinlich ist sie auch in Österreich höher als bei uns. In der Bundesrepublik ist sie gerade in der arbeitenden Bevölkerung sehr niedrig. Auf die Frage, können sie sich vorstellen, nur drei Tage in der Woche zu arbeiten, sagen die: ja, könne ma uns vorstellen. Und auf die Frage: „Wann wollen sie eigentlich aufhören zu arbeiten“ sagen sie: Am liebsten Mitte vierzig. Da hat also die alternative Kultur Einbrüche erzielt im Arbeiterbewußtsein. Viele Arbeiter sagen wirklich: Warum sollen wir uns abrackern? Und da ist die CDU-Regierung jetzt dabei, soziale Ängste zu erzeugen. Es ist ein gigantischer Versuch, die Leistungsmoral wieder zu restaurieren. Ob das gelingt, wage ich zu bezweifeln. Weil gleichzeitig immer mehr Arbeitskräfte freigesetzt werden und die neuen Technologien deuten ja auf die 20-Stunden-Woche hin. Wir müssen uns darauf einrichten, daß die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit 20 Wochenstunden beträgt. Und damit ist die alte Leistungsmoral auch weg.

Wenn die Leistungsmoral wirklich so im Umbruch ist wie Du sagst, wie kommts dann, daß der Kanzler der Bundesrepublik Strohl heißt?

Das ist eigentlich leicht erklärbar. Die, die SPD und grün gewählt haben, das sind in etwa genau die, die die Leistungsmoral in Frage stellen. Willy Brandt hat diese Wählergruppe als die heimliche Mehrheit bezeichnet.

Es gibt natürlich dagegen auch eine Angstreaktion und die erzeugt konservative Verhaltensweisen. Und diesmal haben ja dann auch sehr viele Arbeiter die CDU gewählt. Diese Arbeiter sind entsetzt darüber, daß ihre überlieferten Werte, Rollen und Haltungen plötzlich in Frage gestellt sind.

Wir erleben gegenwärtig einen gigantischen Umbruch, der nur vergleichbar ist mit der industriellen Revolution in den 50er und 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Alle sozialen Verhältnisse, angefangen bei Familie, Erziehung, Ausbildung, alles ist in Frage gestellt. Wir unterliegen einem Entwurzelungsprozeß, wo auch zum Beispiel bei mir selbst ja konservative Vorstellungen manchmal auftauchen, weil auch ich oft denke: Um Gottes Willen, wohin soll diese Entwurzelung noch laufen. Diesen Entwurzelungsprozeß bekommt man ja bewußtseinsmäßig überhaupt nicht in den Griff. Und da gibt es diese beiden Haltungen: Die einen sagen okay, es ist was Neues, stellen wir uns drauf ein, sonst macht uns die Maloche fertig. Und es gibt einen großen Teil, und davon profitiert die CDU, die sagen: Wir müssen die Stabilität der Gesellschaft erhalten, sonst gemma kaputt.

Student Rabehl:
Über 2000 hinaus
Ich bin noch immer skeptisch bezüglich Deiner Einschätzung der Alternativen und möcht da nochmal drauf zurück. Alternativ sein ist für mich auch sowas wie die Ideologie eines neuen Mittelstandes, und daß Mittelstandskinder die Welt revolutionieren, da bin ich skeptisch.

An unserem Institut wurde eine Untersuchung gemacht über die Alternativszene und die Ergebnisse waren zunächst mal recht ernüchternd. Es stellte sich heraus, daß sich in der alternativen Szene, seis jetzt in Alternativbetrieben oder in politischen Agitationsgemeinschaften, ein ganz gewisser Typus durchsetzt, den wir alle sehr gut kennen: Der Typus, der aus den mittelständischen Familien kommt, Pfarrerkinder, Rechtsanwaltskinder, Ärztekinder. Die sind sozialisationsmäßig trainiert, sich anzupassen, bestimmte Leistungen zu erbringen, Phantasien zu entwickeln. Die ganzen Unterschichtkinder fallen jedoch bald wieder raus, die bleiben nicht lange dabei. Die sind ein Viertel oder halbes Jahr dabei, dann sind sie weg. Das Sagen und Bestimmen haben die Mittelstandsjugendlichen. Man könnte jetzt sagen, der ganze Traum von der Alternative ist nicht richtig. Das ist also mal ein Moment.

Ein anderes Moment: Der emotional-soziale Anspruch ist überhöht. Eine Utopie, die nicht berücksichtigt die Fesseln der alten Gesellschaft, die unsere Psyche festhält und determiniert. Damit muß die Alternativbewegung erst noch lernen umzugehen. Die Alternativbewegung stellt sich Zielsetzungen, die nicht verwirklichbar sind.

Und trotzdem: Durch die Einführung der neuen Technologien, durch die technisch-wissenschaftliche Revolution mit der damit verbundenen massiven Freisetzung von Arbeitskräften bekommt zum erstenmal das utopische Denken, wie es in der Alternativszene vorhanden ist, einen radikalen Stellenwert. Dieses utopische Denken weist in der Konfrontation mit den realen Verhältnissen auch sehr viel internationale Züge auf. Aber daß zum erstenmal wieder eine Situation erreicht ist, wo das utopische Denken ein produktives Denken ist, das macht die Alternativszene so beweglich, so spannungsreich. Das erzeugt bei den etablierten Parteien und Gewerkschaften auch Angstreaktionen.

In einer Situation aber, wo Spontanität und Phantasie notwendig ist, um Anpassungsprozesse zu schaffen und einen historischen Kompromiß zu erreichen zwischen Alternativen, Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung — und nur diese drei Elemente können in ihrer Kooperation die Gesellschaft an die neuen Verhältnisse anpassen, wenn wir nicht eine Diktatur als Alternative sehen ist die Alternativbewegung wichtig. Und zwar mit all ihren Spinnereien.

Wobei ich sagen muß, diese Einschätzung hab ich sehr mühselig lernen müssen. Mir waren diese Spinnereien nämlich zum Teil auch zuviel obwohl ich selbst auch ein Spinner bin und immer stolz drauf war, einer zu sein. Dieser Mangel an Realitätsprinzip, dieser Mangel an realer Machteinschätzung, dieser Mangel, zu erkennen, daß Europa sich immer noch in der Machtkonstellation von 1945 befindet und daß daher jede Friedensbewegung natürlich überdenken muß, ob sie nicht sowjetische Außenpolitik macht oder amerikanische Außenpolitik oder französisch-gaullistische Nationalpolitik, das hat mir bei den Alternativen schon zu schaffen gemacht. Aber die Phantasie, die sie entwickeln, die ist als Anstoß ungeheuer wichtig.

Aber ist es nicht so, daß die Alternativen die Sozialdemokratie verunsichern, sie dadurch schwächen und die Konservativen gestärkt werden. Die Parteien des Kapitals, also CDU und CSU, sind ja nicht im geringsten verunsichert und Strauß und Kohl agieren ja sehr selbstbewußt.

Das ist richtig. Man soll die Konservativen in keiner Weise unterschätzen. Wobei die SPD-Polemik falsch ist, daß der Kohl in die 50er-Jahre zurück will. Die wollen nicht zurück in die 50er-Jahre, sondern die versuchen über eine ideologische Mobilisierung von Nachrüstung die Stabilisierung des Freund-Feind-Bildes, des Leistungsprinzips und des autoritären Staates. Und die haben auch Chancen, daß das gelingt, wenn von linker Seite nichts passiert.

Aber trotzdem. Die Konservativen müssen erst mit verschiedenen Problemen fertig werden. Es ist ziemlich sicher, daß die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik bis zum Jahre 1990 eine Quantität zwischen 5 und 7 Millionen erreicht. Jetzt ist die Frage: wie geht man damit um? Kann man das marginalisieren, indem man die Ausländer nach Hause, die Frauen in die Familien, die Kranken in die Anstalten, die Alten in die Altersheime, die Jugendlichen zum Arbeitsdienst schickt? Also indem man versucht, das Problem Arbeitslosigkeit zu individualisieren und damit zu depolitisieren, so wie es die Konservativen wollen. Und da müssen Alternative, Sozialdemokraten und Gewerkschaften eine Gegenposition beziehen. Dazu müßten sie aber in der Lage sein, sich aufeinander zu beziehen und gerade das läuft augenblicklich nicht. Teile der SPD haben Angst vor den Alternativen, Teile der Gewerkschaften sowieso. Es scheint, daß die Alternativen von denen überhaupt nicht verstanden werden. Und verstehen die das weiterhin nicht, dann hat die CDU eine Chance. Und der Kohl ist ja verdammt selbstbewußt, der ist schon überzeugt, daß er den Karren in eine gewisse Richtung bringt. Aber da setzen meine Zweifel an. Ich bin der Überzeugung, daß er sich überschätzt.

Du glaubst also, Kohl-Strauß-Genscher, das is eine Zwischenphase und irgendwann gibts eine regierungsfähige parlamentarische Mehrheit SPD-Grüne?

Ja. Wobei das wahnsinnig schwierig wird. Denn die Grünen sind zum Großteil antisozialdemokratisch, anti-sozialistisch, anti-bürokratisch. Und bei der SPD haben zur Zeit Betonfacharbeiter wie Börner, die für den bisherigen Fortschritt eintreten und die Grünen für Spinner und Mystiker halten, das Sagen.

Dieses Bündnis ist also gar nicht so einfach herzustellen. Wahrscheinlich ist es am besten, wenn es erst in einzelnen Städten experimentiert wird. Also wenn etwa in Berlin die Sozialdemokraten und die Alternative Liste eine Koalition eingehen würden. Dort könnte dann deutlich gemacht werden, daß ein historisches Bündnis zwischen der alten, reformistischen und staatsloyalen Arbeiterbewegung mit den neuen sozialen Bewegungen langfristig neue Zielsetzungen entwickeln kann.

Das ist jetzt eine langfristige optimistische Perspektive für die Politszene in der BRD. Bei vielen Leuten sind aber schon die kurzfristigen Zukunftsüberlegungen in erster Linie von Angst bestimmt, nämlich von der Angst, daß uns morgen eine Bombe auf den Kopf fällt. Und wenn das passiert, kann ich mir mit Deinen Analysen auch nix kaufen.

Das Gefühl, daß ein unmittelbarer Krieg bevorsteht, das hab ich nicht. Die Nachrüstung versteh ich als Versuch, von Amerika aus eine Restauration konservativer Werte voranzutreiben. Die Nachrüstung ist ein Versuch, das, was in den 70er-Jahren passiert ist, zurückzunehmen. Die ReaganAdministration hat erkannt, daß Werte, Prinzipien und Vorstellungen des konservativen Amerika verloren gehen und daß das nur über eine militante Freund-Feind-Setzung zurückgewonnen werden kann. Und dazu wird der Versuch gemacht, die UDSSR zum Buhmann zu erheben. Das läuft aber alles noch im Vorbereich eines kriegerischen Konflikts. Ich bin fest überzeugt, daß es einen kriegerischen Konflikt in Europa nicht geben wird. So wie nach 45 durch Verhandlungen und Verträge ein Krieg in Europa ausgespart wurde, wird ein Krieg auch in Zukunft ausgespart werden. Es gibt und wird geben eine Menge Konflikte in Mittelamerika und im Nahen Osten und es wird eine Menge Kriege geben, die die Tendenz zu einem Dritten Weltkrieg, zu einer Auseinandersetzung zwischen den Supermächten haben. Aber die Nachrüstung in Europa ist ein politischer Kampf und auf den müssen wir uns auch politisch einstellen.

Das Problem ist nicht die Stationierung der Pershing, sondern das Problem ist, die Europäer wieder zurückzubringen in ein militantes Freund-Feind-Denken zu einer Kampfposition gegen den Osten. Es geht also um eine geistig-moralische Mobilmachung.

Die politischen Verhältnisse lassen sich aber nicht mehr auf die Stufe des Kalten Krieges zurückdrehen. Und darin liegt unsere Chance. Die Entscheidung fällt in den nächsten Jahren, wo sich herausstellen wird, ob die konservative Ideologie eine Hegemonie erlangt oder nicht. Und da müssen die verschiedenen reformistischen Flügel der Sozialdemokratie und der Gewerkschaft der Sozialisten und der Grünen einfach lernen, sich darauf einzustellen.

Trotzdem, Angst ist eine Qualität des alltäglichen Lebens. Wie kann ich als Linker dagegen an?

Das ist sicher schwierig. Also, Angst entsteht, wenn eine bestimmte Lebensperspektive sozialisiert wurde und diese Lebensperspektive dann beruflich und sozial nicht erfüllt werden kann. Angst entsteht über eine bestimmte individuelle Bedrohung. Aber Angst ist für jeden subjektiv ganz konkret.

Aber Angst ist auch ein Mythos. Und als Mythos ist Angst politisierbar. Bisher haben die Rechten immer mit der Angst gearbeitet. Der ganze Nationalsozialismus, wie er in den 20er-Jahren entstand, baute auf Angst auf. Auf die Angst des Mittelstandes, der proletarisiert wurde, sozial entwurzelt wurde. Die Verheißung des Dritten Reiches war sozusagen die Überwindung der Angst.

Jetzt die Frage, ob von linker Seite in der Gegenwart diese Angst bekämpft werden kann. Als Abstraktum sicher nicht. Angst ist nur abbaubar über konkrete Perspektiven, indem zum Beispiel deutlich gemacht wird: Was bedeutet es, wenn die Bundesrepublik und Westeuropa sich lösen von der Hegemonie der USA. Sind die Europäer selbständig in der Lage, eine Politik gegen die Sowjetunion zu machen?

Zweitens: Ist gegenüber der Sowjetunion eine Politik möglich, die die Sowjetunion ihre immanente militaristische Tendenz überwinden läßt. Die Sowjetunion ist ein militaristischer Staat, da hab ich überhaupt keine Illusionen darüber. Die Sowjetunion ist nicht friedfertig aus innenpolitischen Gründen, weil die SU repräsentiert eine Diktatur und die Klassen werden über diese Diktatur zusammengehalten und kontrolliert. Die Sowjetunion kann überhaupt nicht abrüsten. Ist es aber möglich, mit der SU in ein Gespräch zu kommen, daß also innere Spannungen in Europa abgebaut werden, wär das ein weiteres Auflösungsmoment von Angst.

Ein weiteres Moment der Angstauflösung wär die Frage: Kann es eine Perspektive für diese Industriegesellschaft geben mit einer Reduzierung der Arbeit? Gibt es ein Jenseits der Arbeitsgesellschaft? Ist es möglich, an Gedanken der Utopisten des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen? Etwa an Proudhon oder Owen, indem man sagt: Natürlich, jede Gesellschaft geht unter, die nicht arbeitet. Aber kann man nicht die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf 25 oder 20 Stunden reduzieren? Ist es nicht möglilch, daß jeder einzelne für sich die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ableistet? Das wär ja buchungsmäßig mit Computern zu kontrollieren. Ich fang jetzt an zu phantasieren, ich halts aber für diskutierbar, daß eine Gesellschaft jenseits der Arbeitsgesellschaft denkbar ist. Die Marginalisierung etwa von Arbeitslosen, wie es etwa den Konservativen vorschwebt, ist keine Alternative. Das Problem muß gesamtgesellschaftlich und demokratisch gelöst werden. Und das wird ein Kampf sein, der wieder außerhalb des Parlaments stattfinden muß. Denn die Regelung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit kann nur über demokratische Institutionen laufen.

Ich will mit all dem sagen: Angst ist nur konkret abbaubar, weil Angst konkret entsteht. Und da müßten wir auch Phantasie entwickeln, vor allem die, die wir das gelernt haben. Und da haben wir 68er eine große Rolle, wir waren ja die Phantasten, die Spinner, die Utopisten. Und in der Utopie liegen ja auch produktive Elemente. Vielleicht ist jetzt erst unsere Zeit gekommen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1984
, Seite 34
Autor/inn/en:

Walter Famler:

Geboren 1958 in Bad Hall / OÖ; Generalsekretär „Alte Schmiede Kunstverein Wien“ (www.alte-schmiede.at), Herausgeber der Literaturzeitschrift „Wespennest“ (www.wespennest.at) und Kommandant der Bewegung „KOCMOC“.

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