FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1963 » No. 120
Georg Lukács

Zur Debatte zwischen China und der Sowjetunion (II)

Theoretisch-philosophische Bemerkungen

Die Wahrheit ist, daß sowohl Kapitalismus wie Sozialismus universalistische Wirtschaftssysteme sind, deren innere Logik darauf gerichtet ist, die ganze Welt ihrer Produktionsweise zu unterwerfen. Dies ist eine elementare, nicht eliminierbare ökonomische Tatsache, die als letzte Grundlage der gegenseitigen Beziehungen immer mit wirksam bleiben muß. Folgt aber daraus — was nicht nur kommunistische Sektierer, sondern auch kapitalistische „Enragés“ meinen —, daß ein kalter Krieg, der bei der ersten Gelegenheit in einen heißen umschlagen kann, die einzig mögliche Beziehung sein muß zwischen den beiden Weltsystemen, deren Kampf die Signatur unserer Zeit bestimmt? Ich glaube: alle Tatsachen der Geschichte der letzten Jahrzehnte sprechen eine beredte Sprache gegen derartige Abstraktionen.

Es genügt, an den gemeinsamen Krieg gegen Hitler zu denken. Die entscheidenden Gegensätze waren auch in dieser Zeit wirksam; sie traten in jeder Diskussion über Feldzugspläne, Friedensperspektiven usw. mehr oder weniger deutlich auf. Das heißt: da es unmöglich war, die neu entstandene Sowjetmacht in den Jahren 1918-1921 mit Interventionen zu stürzen, wurden diese direkten Formen eines internationalen Klassenkampfes immer wieder von indirekten Formen (bis zum Bündnis) abgelöst.

Das Neue an der gegenwärtigen Situation ist „bloß“, daß die Tendenzen zur Suspension der direkten Formen der Kriege immer stärker zunehmen, die ursprünglich ausgesprochen übergangsartigen temporalen Atempausen immer entschiedener in die Richtung eines Dauerzustandes konvergieren. Der kalte Krieg ist zwar noch immer die vorherrschende Form des internationalen Verkehrs zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten. Je mehr jedoch die objektiven Umstände gegen Kriegsausbrüche wirksam werden, desto entschiedener verliert der kalte Krieg seine vorbereitenden Funktionen, er wird allmählich sinnlos, ja hindernd, ist auf lange Sicht — freilich nur auf lange Sicht — zum Absterben verurteilt.

Diese Änderungen der Lage sind für eine erfolgreiche Politik beider großen Gegner ausschlaggebend wichtig. Sie können aber an der sozialen Grundtatsache — Koexistenz als spezifische Form des internationalen Klassenkampfes — nichts ändern. Wir wiederholen: eine solche Besonderheit der gegenwärtigen Situation ist durch eine gesellschaftlich-geschichtliche Kombination von Umständen produziert worden. Der Atomkrieg mit seinen notwendigen Folgen ist nur eine — freilich höchst wichtige — Komponente dieser konkreten Totalität. Ohne Entstehung einer sozialistischen Weltmacht, die von einer Reihe sozialistischer Staaten unterstützt wird, ohne den stürmischen, unwiderstehlichen Ablauf der Befreiung der einstigen Kolonialvölker, würde der Atomkrieg in der internationalen Politik voraussichtlich eine ganz andere Rolle spielen.

Tritt jedoch in dieser Weltlage, unter der zähen Initiative der sowjetischen Politik, eine faktisch permanente Friedenszeit ein, so müssen beide Lager ihre historischen Perspektiven energisch umstellen.

Da uns hier vor allem der chinesisch-sowjetische Gegensatz beschäftigt, muß daran erinnert werden, daß von der ersten — kurzen — Machtergreifung des Proletariats (Pariser Kommune, 1871) bis Kuba jede wirkliche Revolution im Zusammenhang mit einem Kriege ausgebrochen ist; so in Rußland 1905 und 1917; so 1945 (Entstehung der mitteleuropäischen Volksdemokratien); so 1948 (China). Es ist daher gar nicht überraschend, daß die Einstellung vieler Kommunisten (auch Kommunistengegner) auf die „organische“ Verbindung von Krieg und Revolution gerichtet ist. Es gehört deshalb zu den dauernden Verdiensten des XX. Kongresses, daß er die Einsicht und den Mut gehabt hat, diese Lage offen als historisch überholt zu bezeichnen.

Die Feststellung der Möglichkeit — freilich: bloß der Möglichkeit — eines Übergangs zum Sozialismus ohne Krieg und Bürgerkrieg ist ein wichtiger Schritt in der Anpassung des revolutionären Denkens an die neue Weltlage. Hier müssen wir uns darauf beschränken, die Zusammenhänge mit der Koexistenz anzudeuten. Der wesentlichste Punkt dabei ist, daß der friedliche Wettbewerb auf allen Gebieten des menschlichen Lebens in seiner einfachen unmittelbaren Spontaneität ein ununterbrochenes Werben um die Seelen der Menschen ist: sie für eines der großen Weltsysteme zu gewinnen, ihren Entschluß vorzubereiten, aktiv für die bevorzugte Gesellschaftsordnung einzutreten.

Wenn dies für die zivilisierten Länder, die die eine oder die andere ökonomische Formation bereits verwirklicht haben, richtig ist, so in noch höherem Maße für die sich in unserer Gegenwart befreienden Entwicklungsländer, deren Wirtschaft zumeist vorkapitalistisch ist und die jetzt vor der Wahl stehen, über den zukünftigen Weg ihrer Entwicklung zu entscheiden. Dabei spielt naturgemäß der ökonomische Wettbewerb als Inhalt der Koexistenz eine ausschlaggebende Rolle.

Wirtschaft ist nicht Alles

Aber so wichtig in diesem Zusammenhang das wirtschaftliche Potential der konkurrierenden Gesellschaftssysteme ist, es ist doch nicht der allein ausschlaggebende Faktor. Heute sind noch ohne Frage die USA das ökonomisch am höchsten entwickelte Land. Jeder Beobachter der Ereignisse kann aber feststellen, daß ihre Hilfe an die Entwicklungsländer unvergleichlich größer ist, als sie es ohne Wettbewerb mit der Sowjetunion und den sozialistischen Staaten wäre. Deren bloße Existenz ist — abgesehen von der realen Unterstützung, die sie leisten — ein gewichtiges Motiv für die kapitalistischen Länder, ihre Anstrengungen über jene Absichten hinaus zu spannen, die sie ohne diese Konkurrenz verwirklicht hätten.

Diese Wirkung der bloßen Existenz, des wachsenden ökonomischen und militärischen Potentials der sozialistischen Staaten hat aber auf die Lage noch bedeutsamere Wirkung. Jede Kolonisation, ja jede kapitalistische Abhängigkeit zersetzt bis zu einem gewissen Grade die ursprüngliche soziale Struktur der abhängigen Länder. Es werden ihnen bestimmte Entwicklungstendenzen aufgepfropft — es genügt, auf die Monokulturen einzelner Länder hinzuweisen —, die oft reale Hindernisse ihres wirklich gesunden und organischen Wachstums werden. Der „rein ökonomisch“ gewordene Neokolonialismus imperialistischer Länder hat auch heute noch das Bestreben, diese falschen Strukturen wirtschaftlich aufrechtzuerhalten. Ja, darüber hinaus hat sich, der Regel nach, jede Kolonialherrschaft auf die sozial reaktionären Schichten der ganz oder halb unterworfenen Länder gestützt. Diese Politik hat auch heute nicht aufgehört; es genügt, auf die Politik der USA in Süd-Korea oder Süd-Vietnam hinzuweisen.

In dieser Lage kann die Hilfe der sozialistischen Staaten außerordentliche Wichtigkeit erlangen. Sie kann die Stütze für eine normale, ökonomisch und sozial richtig fundierte Entwicklung zur Zivilisation werden — selbstverständlich mit dem Endziel, den neubefreiten Staaten den Weg zum Sozialismus zu eröffnen und zu erleichtern. Hier wird die große Gefahr des chinesischen Sektierertums, der chinesischen revolutionären Phrase für solche Freiheitskämpfe deutlich sichtbar.

Zugleich zeigt sich mit großer Evidenz, welche wichtigen politischen Konsequenzen die theoretisch radikale Abrechnung mit den Verzerrungen der marxistischen Methode durch das Sektierertum nach sich zieht. Heute denken vielleicht wenige daran, daß das erste große theoretisch-politische Dokument des Marxismus, das Kommunistische Manifest, auf die politisch-theoretische Fragestellung hinauslief, durch welche Übergangsformen das damals ökonomisch-sozial zurückgebliebene Deutschland seinen besonderen Weg zum Sozialismus finden könne. Ebenso denken heute wenige daran, daß Lenin im Jahr 1905, die Gedanken von Marx und Engels originell zu Ende denkend und auf die besondere Lage des damals ebenfalls zurückgebliebenen Rußland anwendend, zu der Übergangsform der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ gelangt ist; und daß ihn in der Zeit der Begründung der Dritten Internationale die Neuformulierung einer solchen Theorie der Übergänge für den beginnenden Befreiungskampf der Kolonialvölker intensiv beschäftigt hat. Mit Lenins Tod, mit der Herrschaft Stalins hatte das originelle Neudenken solcher Probleme der Übergänge aufgehört.

Dieser Ausfall der theoretischen, ökonomischen und historischen Forschung hat in der gegenwärtigen Weltlage sehr schwerwiegende Konsequenzen. Denn die Bewegung der unterentwickelten Länder zur Selbständigkeit zeigt eine schwer übersehbare Vielfältigkeit der Probleme. Es gibt Länder, in denen zunächst die feudalen Agrarverhältnisse zerschlagen werden müssen; es gibt andere, deren gesellschaftliche Struktur noch primitiver ist als eine feudale. Die wirkliche politische Hilfe der Marxisten müßte also eine konkrete Analyse der Übergangsbedingungen sein; nur aus einer solchen lassen sich die konkreten Wege der Weiterentwicklung aufweisen. Eine bloß pragmatische „Realpolitik“, die naturgemäß aus Erfahrungen ganz anders gearteter Länder gewonnen wurde, kann hier wenig helfen.

Darum kann heute die chinesische Plattform mit der revolutionären Phrase eines unmittelbar zu verwirklichenden Sozialismus in den sich eben befreienden zurückgebliebenen Ländern augenblicklich taktischen Einfluß gewinnen und viel Schaden herbeiführen. Darum besteht — gerade in dieser Frage — die Gefahr, daß bei einer Wahl zwischen revolutionärer Phrase und bloß pragmatischer Realpolitik die revolutionäre Phrase ein Echo finden kann, und daß die Völker in Entwicklungsgebieten, vor die abstrakte Alternative zwischen kolonialer Ausbeutung und sofortigem Sozialismus gestellt, falsche Wege einschlagen.

Gerade hier wäre eine theoretische Gegenoffensive gegen das chinesisch-stalinistische Sektierertum praktisch-politisch die Forderung des Tages. Sie setzt aber eine gründliche theoretische Abrechnung mit dem Sektierertum als Gedankensystem unbedingt voraus. In der politischen Praxis hat sich die Sowjetunion zugleich als entschlossener und besonnener Verteidiger Kubas gegen die Möglichkeit einer restaurativen Intervention erfolgreich durchgesetzt und hat dadurch sicher das Vertrauen vieler Völker erworben und befestigt. Die chinesische Plattform führt hier eine der verhängnisvollsten Seiten der Stalin’schen Praxis theoretisch ins internationale Leben hinüber: die abstrakt-dogmatische Verherrlichung des Bürgerkriegszustandes als alleiniger Alternative zu Opportunismus und Kapitulation.

Die lebensferne Abstraktion einer solchen sektiererisch ausgeklügelten Alternative müßte heute theoretisch widerlegt werden, gerade um klar zu sehen, welche Fragen mit den Methoden des Bürgerkriegs gelöst werden können und welche nur mit den Mitteln einer langsamen Evolution.

Lenin hat sich zur Zeit des Kriegskommunismus und der NEP vielfach mit diesem Problemkomplex beschäftigt, seine Methode, seine Ergebnisse und Anregungen könnten heute, jeweils auf eine konkrete Analyse der konkret erfaßten Gegenwart gestützt, jene abstrakte Alternative wirksam widerlegen. Jeder, der nicht von der Stalin’schen Auffassung völlig verblendet ist, weiß ja, daß es typisch für Bürgerkriege ist, etwa Politiker oder Heerführer — zuweilen sogar großen Formats — aus der Tiefe der Massen an die Spitze zu stellen; in keinem Bürgerkrieg sind jedoch ungelernte Arbeiter mit einem Schlag zu geübten Spezialisten ihres Fachs geworden.

Gegen die revolutionäre Phrase

Daß die revolutionäre Phrase des Bürgerkriegs sich in der normalen Kaderauswahl des friedlichen Alltags verhängnisvoll auswirkt, haben wir Ungarn in der Rákosi-Zeit zu unserem Schaden erfahren. Aber die zum Fetisch gewordene revolutionäre Phrase ist noch heute weit davon entfernt, der Vergangenheit anzugehören. Die gründliche theoretische Abrechnung mit der revolutionären Phrase ist — hier wie überall — darum so wichtig, damit endlich die wirkliche, den neuen Formen der Wirklichkeit entsprechende Bestimmung des jeweilig notwendig entstehenden Klassenkampfes gefunden werde: die real revolutionären Zielsetzungen und Methoden im Zweifrontenkampf gegen wirklichen Opportunismus (hier: tatsächliche Kapitulation vor dem Kolonialismus auch in seiner neuen Form) und gegen die revolutionäre Phrase.

Aber auch der friedliche, der rein wirtschaftliche Wettbewerb zwischen kapitalistischen und sozialistischen Ländern ist seinem Wesen nach weit weniger rein ökonomisch-technisch und darum — vom Klassenstandpunkt aus gesehen — „friedlich“, als die unmittelbare Oberfläche zeigt, wo einfach, in negativer Weise, sichtbar wird, daß im wirtschaftlichen Sichmessen der Krieg ausgeschaltet ist. Es kommt aber dabei ein wichtiger und fruchtbarer Widerspruch zum Vorschein. Hier zählt — auf die Dauer — nur die reale, technische, ökonomische Überlegenheit. Bei der heutigen Entwicklung nicht nur des wechselseitigen Verkehrs, nicht nur des Nachrichtenwesens, sondern auch der Fähigkeit, Statistiken, Berichte usw. zu entziffern, können sich bloß propagandistische Behauptungen sehr schwer lange halten. Was im Wettbewerb verglichen wird, ist die wirkliche Höhe des Lebensniveaus der Bevölkerung, nicht die propagandistische Verkündigung.

Indem auf diese Weise der ökonomische Wettbewerb die gegenseitigen bloß propagandistischen Versicherungen annulliert, wird das Ganze der ökonomischen Realität zugleich zu einem einheitlichen und monumentalen Propagandawerk; jeder Erfolg ist nach innen eine Verstärkung des eigenen Systems, nach außen das Zunehmen seiner Anziehungskraft. Dieser Wettbewerb bestimmt — zuletzt —, wer im internationalen Klassenkampf der Koexistenz siegen wird.

Freilich soll man sich auch hier vor der Annahme einer allzugroßen Geradlinigkeit der Entwicklung in acht nehmen. Denn brächte die technisch-ökonomische Überlegenheit in diesem Agon der sozialen Systeme allein die Entscheidung, so wäre die Überlegenheit des kapitalistischen Systems nie gefährdet gewesen und seine Hegemonie wäre auch heute noch unbestritten. Indessen weiß und fühlt jeder denkende Mensch, daß dem nicht so ist. Man denke — um ein extremes Gegenbeispiel zu bringen — an die Zwanzigerjahre. In Rußland gab es Hungersnöte, und ich habe in Wien mehr als einmal erlebt, daß man etwa am Nachmittag an einer Aktion teilnahm, um Lebensmittel für die Hungergebiete zu sammeln, und abends mit nichtsozialistischen Teilnehmern der Versammlung zusammenkam, von denen viele offen einer Anerkennung der Überlegenheit des sozialistischen Systems zuneigten. Daß so etwas heute seltener vorkommt, obwohl der ökonomische Abstand viel geringer geworden ist, hängt wieder mit den internationalen ideologischen Nachwirkungen der Stalin’schen Periode zusammen.

So leitet die Betrachtung des ökonomischen Wettbewerbs unversehens zu der des kulturellen über. Das Verbindungsglied scheint mir das Problem der Muße zu sein, deren soziale Bedeutung bei der immer stärkeren Beschränkung der Arbeitszeit ständig wachsen muß. Obwohl, infolge der in der Stalin-Zeit jahrzehntelangen Vernachlässigung der selbständigen ökonomischen Forschung, die konkrete, gesetzmäßige Dynamik des heutigen Kapitalismus theoretisch nicht hinreichend klar erfaßt ist, obwohl es noch immer orthodoxe Anhänger der Stalin’schen Lehren gibt, die an die Stelle von richtig erfaßten Tatsachen Zitate etwa über die „absolute Verelendung“ setzen, kann an den Fakten der zunehmend verkürzten Arbeitszeit nicht mehr gezweifelt werden.

Es ist bekannt, daß Marx gerade in der Muße die Basis des Reichs der Freiheit, der „menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt“, erblickt hat. So entsteht unabhängig von den Gedanken und Entschlüssen der einzelnen Menschen eine an Umfang wachsende Sphäre der Muße, und dieses Wachstum schafft einen immer größeren Spielraum für die Kultur, steigert ihr soziales Gewicht. (Natürlich handelt es sich um die Zunahme des gesellschaftlichen Gewichts; in diesem Zusammenhang kann nicht von Wertfragen die Rede sein.)

Es kann nicht die Aufgabe dieser Betrachtungen sein, in den Kulturfragen eine Gegenüberstellung der beiden Systeme auch nur zu versuchen. Es muß nur festgestellt werden, daß auch die kulturelle Koexistenz — auch wenn wir von der negativen Bestimmung einer Einmischung durch staatlichen oder gesellschaftlichen Zwang absehen —, keineswegs friedlich ist, daß das Prinzip des Klassenkampfs des Lenin’schen „Wer wen?“ auch hier wirksam sein muß.

Natürlich haben die Produkte der Kultur, insbesondere die der hohen Kultur, sehr ausgeprägte besondere Eigenschaften, die auf die Art des hier ausgefochtenen Kampfes, auf seinen Ausgang entscheidend einwirken. So liegt es im Wesen hochwertiger Kulturobjektivationen, daß sie auf ihrem Gebiet die Alleinherrschaft fordern und alles Abweichende schroff ablehnen. Der persönlich sehr friedfertige Goethe hat sich über diesen fundamentalen Tatbestand so ausgesprochen:

Wenn ich von liberalen Ideen reden höre, so verwundere ich mich immer, wie die Menschen sich gern mit leeren Wortschällen hinhalten; eine Idee darf nicht liberal sein. Kräftig sei sie, tüchtig, in sich abgeschlossen, damit sie den göttlichen Auftrag, produktiv zu sein, erfülle; noch weniger darf der Begriff liberal sein, denn der hat einen ganz anderen Auftrag.

Kunst durchbricht die Klassenschranke

Bei Kunstwerken ist diese Ausschließlichkeit unmittelbar vielleicht weniger deutlich wahrnehmbar, bei heftigen Richtungskämpfen tritt aber diese innere Tendenz auch auf diesem Gebiet in den Vordergrund. Dazu kommt, daß zwar die Genesis eines jeden Kunstwerks sozial, klassenmäßig bestimmt ist, daß es aber — je bedeutender es ist, desto mehr — diese gesellschaftlichen Schranken seiner Geburt durchbricht und eine universelle Wirkung, auch bei klassenmäßig feindlich gesinnten Menschen, zu erlangen imstande ist.

Es ist also ebenso einseitig und irreführend — wie es in der kapitalistischen Welt zu geschehen pflegt —, den sozial und klassenmäßig bedingten Charakter der kulturellen Objektivationen zu verkennen, wie der sektiererischen Anschauung zu folgen, nach welcher die klassenmäßige Genesis eng und exakt auch die Wirkung umschreibe; ja eine solche Wirkung soll sogar institutionell vorgeschrieben werden. Von den sachlich gleich unrichtigen extremen Anschauungen ist für einen Aufschwung der originellen und fortschrittlichen Produktion zweifellos die zweite gefährlicher.

Ihre Herrschaft in der Stalin-Zeit hat lähmend auf Wissenschaft und Kunst eingewirkt. Sie ist sicherlich mitschuldig daran, daß jene mächtige und erobernde kulturelle Wirkung, die vom ökonomisch noch sehr problembeschwerten Sowjetrußland in den Zwanzigerjahren ausging, später an Extensität und Intensität stark abnahm.

Natürlich haben die Beschlüsse des XX. und XXI. Kongresses die Öffentliche Meinung auch der kapitalistischen Länder sehr positiv beeinflußt, der frühere Einfluß auf die Weltkultur ist aber noch immer nicht wiederhergestellt. Sicher gibt es schon heute Ausnahmen, so den kleinen Konzentrationslagerroman Solshenizyns, so die letzten Novellen Tibor Dérys. Es ist zu hoffen, daß die Notwendigkeit, auf das neuerrichtete und aggressiv propagierte sektiererische System der Chinesen auch kulturell wirksam zu reagieren, zu einem konsequenten, theoretischen und praktischen Ausbau der Linie des XX. und XXI. Kongresses führen wird und dadurch zu einer Steigerung dieser Anfänge.

Prophezeiungen können hier unmöglich unsere Aufgabe sein, erst recht nicht solche, die mit ihrer — angeblichen — Voraussicht auf Details eingehen wollen. Wir berühren nur eine prinzipielle Frage, auch diese von rein theoretischem Gesichtspunkt: die der Manipulation der Meinungen und der Verhaltensweisen der Menschen. Ihre Art und Auswirkung wird in der kapitalistischen Welt zumeist falsch beurteilt. Vor allem unterschätzt man die Bedeutung ihrer Genesis, ja man vernachlässigt sie oft vollkommen. Ich meine die Stalin’sche, unzulässige Anwendung der Regierungsmethoden der Periode der Bürgerkriege auf eine im Inneren friedlich gewordene Konsolidation.

Das ist nicht zufällig geschehen. Jeder kennt die abschreckende Wirkung der Stalin’schen Methoden auf alle, die mit dem Sozialismus sympathisierten, ja auch auf viele, die kommunistischer Überzeugung waren. Es war unter solchen Umständen für die bürgerliche Ideologie klassenkämpferisch sehr vorteilhaft, die Stalin’sche Methode mit Lenin, ja mit dem Marxismus überhaupt zu identifizieren, die ärgsten Exzesse des Stalin’schen Regimes als notwendige Folgen der Weltanschauung von Marx und Engels darzustellen.

Daß diese Auffassung völlig falsch ist, daß die Klassiker des Marxismus den Bürgerkrieg immer als einen, unter Umständen unbedingt notwendigen, aber doch bloßen Übergang begriffen haben, ändert vor den großen Massen wenig an der Wirksamkeit solcher Propaganda, solange es in der sozialistischen Welt Anhaltspunkte dafür gibt, daß die Stalin’schen Methoden nicht bereits als völlig der Vergangenheit angehörig betrachtet werden müssen. Der Zusammenstoß mit dem chinesisch-stalinistischen Sektierertum bietet die glänzendste Möglichkeit (und die zwingendste Notwendigkeit) zu einer radikalen Abrechnung auf diesem Gebiete.

Übergang zur milden Manipulation

Dann ist der ideologische Vormarsch des Marxismus theoretisch und praktisch wiederum aussichtsreich geworden; dann zeigt es sich nämlich, daß die harten Formen der Manipulation in der sozialistischen Umwälzung als Ganzes betrachtet einen Fremdkörper vorstellen, der erst durch die Stalin’sche unzulässige Verallgemeinerung der Bürgerkriegsmethoden zu einem Dauerzustand den Anschein eines integrierenden Bestandteils erhalten hat.

Freilich entstehen bei einem solchen Abbau kurzfristig schwer lösbare Probleme, und sicher ist der Weg von der stalinistischen brutalen Manipulation bis zur Verwirklichung der von Lenin geforderten proletarischen Demokratie oft nicht einfach zu gehen; doch können schon ernsthafte Versuche in dieser Richtung genügen, um die Stalin’sche Art der Manipulation als ein fremdes, ausstoßbares und auszustoßendes Element im sozialistischen Aufbau sichtbar zu machen.

Die milde, formell gewaltlose Manipulation im kapitalistischen System ist dagegen in dessen ökonomischem Wesen begründet. Indem der Kapitalismus die Gebiete des Konsums und der Dienstleistung total erfaßt und in Großindustrien, in Massenproduktionen verwandelt hat, ist die Manipulation der Käufermasse zu einer ökonomischen Notwendigkeit für ihn geworden. An den Tatsachen dieser ökonomischen Determiniertheit ändern die ganz anders gearteten, viel „tieferen“ Interpretationen nichts. Sie sind keine wirklichen Erklärungen; so etwa, wenn das berühmte Buch von D. Riesman „The Lonely Crowd“ das Wesen dieser Manipulation als Verwandlung von „inner directed“-Typen zu „outward directed“-Typen schildert. Jede richtige Beschreibung des normalen Alltags in den USA — als Vorbild und Modell für die kapitalistische Welt — zeigt die oben angedeutete ökonomische Struktur dieser Manipulation.

Natürlich bleibt die Manipulation nicht auf den Warenverkauf beschränkt. Sie wird auch zum Modell der gesellschaftlich-politischen und kulturellen Beeinflussung der Massen. Ja, es ist interessant zu beobachten, wie die entscheidenden bürgerlichen politischen Strömungen, die mit dem Eintritt des „Massenzeitalters“ — des sichtbar gewordenen Gegensatzes zwischen bürgerlicher Weltanschauung und Demokratie — von einer resignierten Skepsis erfaßt wurden (sie ist z.B. bei Stuart Mill klar sichtbar), bei Aufkommen dieser neuen Methode der Massenmanipulation sofort die großen Chancen ihrer Anwendung erkannt haben.

Der allumfassende Aufbau dieses Systems der Manipulation ist allgemein bekannt und braucht nicht beschrieben zu werden. Es breitet sich nicht nur extensiv aus, es verfeinert sich auch ununterbrochen. (Die Verkaufsorganisationen von Massenartikeln lassen z.B. durch Fachleute die psychologischen Motive, die zum Kauf führen, wissenschaftlich untersuchen, um durch unmittelbar nicht wahrnehmbare, aber praktisch desto effektivere seelische Manipulationen die Kauflust zu steigern.)

So wird die Manipulation simultan immer milder und wirkungsvoller, immer universeller. Freilich nur bei ihrem normalen reibungslosen Funktionieren; soziale Widerstände werden mit naiver Selbstverständlichkeit niedergetreten. Es ist ein großes Verdienst von Sinclair Lewis, daß er auf einem noch relativ primitiveren Niveau dieser Entwicklung den unmerklichen Übergang von feiner, unbewußt funktionierender Manipulation zu einem mehr oder weniger offen brutalen Zertreten des Widerstandes auf vielen Gebieten des Lebens gestalterisch aufgezeigt hat. Das wahre Phänomen ist nämlich nur als ununterbrochene Bewegung zwischen diesen Polen adäquat erfaßbar.

Indem, nach aller Voraussicht, die hervorragende Bedeutung der Muße als Schlachtfeld zwischen Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens mit ökonomischer Notwendigkeit ständig zunimmt, war es notwendig zu versuchen, die hier ausschlaggebend wirksamen Kräfte ihrem gesellschaftlichen Wesen nach kurz zu charakterisieren. Dieser Aufsatz ist natürlich nicht der Ort zu einer eingehenden Erörterung solcher Fragenkomplexe. Die hier erfolgten sporadischen Hinweise waren jedoch notwendig, um auf dem Gebiet der Muße — eines wichtigen Terrains des internationalen Wettbewerbs der beiden großen Gesellschaftssysteme — die Bedeutung des entschiedenen Kampfes gegen das stalinistisch-chinesische Sektierertum aufzuzeigen. Die internationale Anziehungskraft des Sozialismus, das Vehikel seines Sieges im internationalen Klassenkampf der friedlichen Koexistenz, hängt weitgehend von der Radikalität im Abrechnen mit dem Sektierertum der Vergangenheit und der Gegenwart ab.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1963
, Seite 582
Autor/inn/en:

Georg Lukács:

Geboren 1885 in Budapest. Philosoph, Literaturhistoriker und politischer Theoretiker. Seit 1918 war Lukács Mitglied der ungarischen KP, 1919 wirkte er als stellvertretender Volkskommissar für das Unterrichtswesen in der Räterepublik. Lukács emigrierte nach Wien, Berlin und Moskau. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Ungarn zurück und arbeitete als Professor. Lukács war führendes Mitglied des Petöfi-Klubs und beteiligte sich am Ungarnaufstand 1956.

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