FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 125
Georg Lukács

Probleme der kulturellen Koexistenz (II)

Die großen Tendenzen unserer Zeit führen die kulturelle Koexistenz in ihrem eigentlichen Sinne herbei. Ich bin dabei weit entfernt davon, die bereits vorhandenen anfänglichen Formen — von Sportveranstaltungen und Schachwettkämpfen bis zu Ballettaufführungen und Virtuosenkonzerten — zu unterschätzen. Bei der allgemeinen Manipulation der öffentlichen Meinung, die zur Folge haben kann, daß breite Massen eines Systems die Menschen des anderen für kulturelle Barbaren halten, können sie nützlich, aufklärend, wesentlichere Kontakte vorbereitend wirken, aber gerade das von uns als zentral hervorgehobene Motiv des „Wer wen?“ muß bei ihnen weitgehend fehlen. Ebenso wenig kann die immer notwendiger werdende Internationalisierung der Wissenschaften, vor allem der angewandten, in dieser Frage eine entscheidende Wendung herbeiführen. Je stärker sie sich entfaltet, desto größer wird zwangsläufig die äußerst wichtige Gewöhnung an die Internationalität aller menschlichen, theoretischen und praktischen Betätigungsgebiete, niemand wird aber in dem Zugehörigkeitsgefühl zum eigenen System erschüttert oder zum anderen hingezogen, weil dort etwa ein besseres Heilmittel oder ein wirkungsvolleres Instrument erfunden wurde. All das bildet die unerläßliche Basis für die Koexistenz einander negierender Kultursysteme, kann aber niemals die Sache selbst sein.

Wenn wir von dieser sprechen, so muß vor allem daran gedacht werden, was wir früher als Funktion der Weltanschauungen im menschlichen Leben bezeichnet haben, und innerhalb dieses Komplexes vor allem an jene Momente, die zu einer Bejahung oder Verneinung der jeweiligen sozialen Umwelt führen. Es besteht ein inniger Zusammenhang zwischen der historischen Richtigkeit einer Weltanschauung und zwischen der Intensität, mit der sie der Aufrechterhaltung ihrer sozialen Formation dient.

Öffnung statt Absperrung

Wir sagten: historische Richtigkeit, denn in bestimmten gesellschaftlich-geschichtlichen Lagen können z.B. bestimmte ontologische Theorien den Weltanschauungen eine große Solidität geben, weitgehend unabhängig davon, daß die spätere Wissenschaft ihre Unhaltbarkeit nachweist. Das kommt daher, daß in diesem Zusammenhang das Primäre die weltanschauliche Bindung des Individuums an sein soziales System ist, und das Ontologische hat dabei die Funktion, diese Verbundenheit zu festigen.

Natürlich kann der Anstoß zur Zersetzung der alten Weltanschauung auch von der ontologischen Seite kommen; in solchen Fällen handelt es sich stets um ein historisches Zusammentreffen von gesellschaftlicher Umwälzung und theoretischen Entdeckungen (z.B. im Fall von Galilei).

So ist der Klassenkampf stets auch ein Kampf der Weltanschauungen. Es wäre aber eine vulgarisierende Vereinfachung, zu meinen, sie würden dabei die Rolle eines bloßen Epiphänomens spielen. Praktisch glaubt daran niemand. Die Stalin’sche Zeit war eben deshalb bestrebt, ihre ganze Intelligenz (im weitesten Sinne genommen) von jeder Kenntnis anderer Weltanschauungen fernzuhalten. Formell ist eine solche Haltung der westlichen Kultur fremd, man darf aber nicht vergessen, daß es gerade auf diesem Gebiet eine höchst verfeinerte Manipulation gibt, die oft wirksamer ist als die grobe. Denn während in der sozialistischen Welt seit der Krise der Stalin’schen Lehre die bis dahin ferngehaltenen Weltanschauungen eine unkritische Prestigeperiode erleben, ist es der im Westen herrschenden diskreten Manipulation weitgehend gelungen, in der öffentlichen Meinung zu verbreiten, der Marxismus sei eine völlig veraltete Lehre und Methode, mit der es gar nicht lohnt, sich ernsthaft zu beschäftigen; über die Besten als Ausnahmen haben wir bereits gesprochen.

Ideologie ohne Kraft

Nun glaube ich: die beiden großen, von der ökonomischen Entwicklung hervorgerufenen Wandlungen, von denen früher die Rede war, werden dazu führen, die Weltanschauung (die Weltanschauungen) des Gegners kennenzulernen, um den wirklichen Klassengegner wirklich widerlegen zu können. Die große Mehrheit der Weltanschauungskämpfe unserer Zeit verläuft noch so, daß — bestenfalls — nur der bereits Überzeugte „überzeugt“ wird. Und selbst diese überbescheidene Zielsetzung, nämlich die Anhänger der eigenen Weltanschauung einigermaßen zu festigen, wird dabei höchst problematisch erreicht. Wenn irgendeine soziale Erschütterung vor sich geht, zeigen sich diese künstlichen Sicherungen als äußerst widerstandsunfähig.

Um die Notwendigkeit unserer oben formulierten Forderung zu rechtfertigen, sei darauf hingewiesen, daß eine bloß auf Begeisterung und Glauben gerichtete Rede vielleicht geeignet sein könnte, ihre Zuhörer für einen kurzen Zusammenstoß aufzupulvern; ihre noch so häufige Wiederholung müßte aber absolut ungeeignet sein, geistige und moralische Widerstandskraft für einen ganzen Feldzug zu geben. Wenn man diesen Vergleich auf die Weltanschauungskämpfe anwendet, so sieht man, daß der Unterschied zwischen Einzelschlacht und langem Krieg keine bloß quantitative Synthese dieses aus der vielfachen Wiederholung jener ist, sondern ein qualitativ und strukturell Anderes.

Um vom Bild auf die Sache selbst zu kommen: wenn zwei umfassende soziale Systeme im Weltanschauungskampf stehen, so richten die einzelnen Debatten, die zumeist verschiedene Gebiete zum unmittelbaren Gegenstand haben, voneinander sehr unterschiedliche „Fronten“ auf; der Verbündete auf einem Gebiet kann leicht zum Gegner auf dem anderen werden und vice versa, ja es ist möglich, daß die selbe Theorie in verschiedenen Anwendungen oder Auslegungen einmal dem einen, einmal dem anderen Diskussionspartner zur Verfügung steht; man denke etwa an die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als der Darwinismus in der Hauptlinie die fortschrittlichen Ideologien stützte, zugleich jedoch — z.B. als sogenannter sozialer Darwinismus — eine Hilfe für die ideologische Reaktion bedeuten konnte usw.

Unter solchen Umständen ist es sachlich kein Widerspruch, wenn wir einerseits davon ausgehen, daß die ganze kulturelle Koexistenz ein großer Kampf zwischen der sozialistischen Weltanschauung und der bürgerlichen ist, anderseits jedoch und zugleich einsehen, daß in den einzelnen Debatten, die die konkreten Elemente dieser Gesamtheit bilden, die jeweils aktuelle Funktion einzelner Lehren, Theorien, Methoden etc. äußerst verschieden, ja gegensätzlich wirksam werden kann.

Eine monolithisch-eindeutige Auffassung des Weltanschauungskampfs konkurrierender Gesellschaftssysteme führt zu einem völligen Unverständnis seines Wesens. Dieses ist nicht bloß das Resultat der äußerst komplizierten einzelnen wissenschaftlichen etc. Neuerungen. Es folgt vielmehr aus dem Wesen einer jeden gesellschaftlichen Umwälzung. Lenin verspottete schon 1916 die Anhänger einer solchen monolithischen Theorie. „Es soll wohl so sein“, schreibt er, „daß an einer Stelle sich ein Heer sammelt und erklärt: ‚Wir sind für den Sozialismus‘, an einer anderen Stelle ein anderes Heer, das erklärt: ‚Wir sind für den Imperialismus‘ und dies dann die soziale Revolution ist!“ Er nennt das, mit Recht, „einen pedantischen und lächerlichen Gesichtspunkt“. Es ist evident, daß ein ideologisches Phänomen, je weiter entfernt es vom unmittelbaren Klassenkampf ist, mit desto höherem Grade in seinen Wirkungen für die Richtigkeit dieser Lenin’schen Sätze zeugt.

Das hat aber für den ideologischen Kampf innerhalb der kulturellen Koexistenz höchst wichtige Folgen. Um sie auch nur zu sehen, müssen in beiden Systemen alte, erstarrte Vorurteile überwunden werden. Ihr Wesen liegt darin, daß man die kulturellen Äußerungen des anderen Lagers monolithisch als feindlich betrachtet.

„Objektivismus“ ist kein Verrat

Das ist für die Stalin’schen Traditionen ohne weiteres evident. Hier wurde — wie so oft — mit Hilfe des Verdrehens einer Lenin’schen Äußerung ein eigener Terminus, der „Objektivismus“, in Verkehr gebracht, um diejenigen zu brandmarken, die ideologische Erscheinungen der bürgerlichen Welt wirklich, gerecht und allseitig zu kritisieren wagen. Ich darf mich dabei vielleicht auf eigene Erfahrungen berufen. Als ich Ende der Vierzigerjahre eine scharfe Kritik des französischen Existentialismus veröffentlichte, habe ich einige nicht unwichtige Seiten dieser Philosophie aus der ideologischen Lage der „Résistance“ abzuleiten versucht. Darin sah Fadejew „Objektivismus“, denn das sei eine Entschuldigung für idealistische Denker, für Agenten der Bourgeoisie.

Es gab natürlich auch eine Ausnahme von dieser kritischen Regel: Ideologen, die bestimmte politische Manifeste unterzeichnet haben, wurden jeder Kritik gegenüber zum Tabu erklärt. Auch hier erlaube ich mir, an meine eigene Praxis zu erinnern. Vor der Reise André Gides in die Sowjetunion schrieb ich einen literaturtheoretischen Aufsatz, in welchem ich einige seiner Anschauungen respektvoll, aber sachlich, scharf kritisierte. Die Redaktion der Zeitschrift verlangte, daß dieser Teil meiner Ausführungen gestrichen werde. Die Arbeit erschien erst nach der Rückkehr Gides nach Paris und der Veröffentlichung seines Buches gegen die Sowjetunion. Der Redakteur rief mich verzweifelt an: „Warum haben wir nur den Passus über Gide aus Ihrem Artikel gestrichen?“

Es wäre aber eine gefährliche Illusion, zu glauben, daß eine solche Praxis der „freien Welt“ fremd ist. Daß sie — oft — nicht zentralisiert, sondern spontan zustande kommt, ändert daran nichts Wesentliches. Es kommt auf die monolithische Ablehnung an, auf die daraus — oft stillschweigend, oft sogar offen — gezogene Konsequenz, daß die Ideologie des Sozialismus auch ohne Studium der wichtigsten Quellen „geistig“ vernichtet werden kann, daß man ihr gegenüber die Regeln des wissenschaftlichen und literarischen Anstands nicht einhalten muß, man dürfe mit Zitatenfälschungen, mit Entstellungen der Ansichten, mit Verschweigen oder Erfinden von Tatsachen polemisieren.

Um wieder eigene Erfahrungen anzuführen: Adorno machte mir den Vorwurf, ich hätte in meinem Buch „Die Zerstörung der Vernunft“ Freud einfach als Faschisten behandelt, obwohl ich, den Absichten dieser Studie entsprechend, Freuds Theorien dort überhaupt nicht untersucht und kritisiert habe.

„Drüben“ ist nicht alles feindlich

Wenn wir hier diese literarischen Kampfmittel verwerfen, so tun wir es in erster Linie nicht aus Gründen des literarischen Anstands — so wichtig dieser auch ist —, sondern weil ein echter Weltanschauungskampf, der notwendig aus der kulturellen Koexistenz entspringt, mit solchen Methoden der vulgär-monolithischen Auffassung des Gegners sachlich unmöglich gemacht wird.

Die monolithische Konzeption ist blind sowohl für die ungleichmäßige Entwicklung der verschiedenen Kulturgebiete wie für die wirklichen Kontroversen innerhalb eines speziellen Systems. Erst der Bruch mit ihr kann zur Einsicht führen, daß man bei der von uns geforderten Stellungnahme immer wieder ganze oder partielle Verbündete finden kann, ja daß auch Fälle vorkommen können, wo man die Lehre oder Methode eines Ideologen des anderen Systems kritisch zu rezipieren imstande ist. So hat zum Beispiel Marx die Lehre Darwins oder L. H. Morgans seiner Weltkonzeption einverleibt und diese dadurch bereichert und konkretisiert.

Eine Analogie dazu ist heute selbstredend nicht sichtbar. Das bedeutet aber keineswegs, daß ein Marxist die im Westen vorhandenen weltanschaulichen Gegensätze ignorieren dürfte, z.B. die sehr kontroversen Stellungnahmen in der Frage der Entfremdung, Sartres tapfere Position in allen Kolonialfragen, seine Versuche, sich den historischen Materialismus anzueignen, N. Hartmanns gesundes Verhalten zu den ontologischen Fragen der Naturphilosophie, zu den Problemen der Teleologie, Werner Jägers Forschungen zum griechischen Geistesleben, Gordon Childes archäologische Einsichten etc.; diese Stellungnahmen zeigen ja einige dieser weltanschaulichen Gegensätze sehr deutlich an.

Man soll aber nicht vergessen, daß solche Risse der Gegensätzlichkeit nicht selten auch innerhalb eines Lebenswerks vorhanden sein können; so bei A. Gehlen, der einerseits glänzende und fruchtbare anthropologisch-soziologische Beobachtungen anstellt und anderseits wohlfeile Mythen modischer Art produziert. Wenn man etwa N. Hartmann mit Heidegger oder den Neopositivisten, Werner Jäger oder Gordon Childe mit den mystifizierenden Plaudereien von Jung oder Kerényi vergleicht, so ist es klar, wo die wirklichen Gegner und wo die möglichen Verbündeten in einzelnen Fragen stehen.

Für die westliche Ideologie konzentriert sich die Überwindung der monolithischen Kulturbeurteilung um die Frage des Verständnisses für das wahre Wesen der Marxschen Lehre und Methode. Unzweifelhaft sind Versuche eines ehrlichen Verstehenwollens auch auf diesem Terrain vorhanden, wenn auch heute noch, verständlicherweise, sporadisch und zumeist nicht bei den einflußreichsten Ideologen.

Es ist jedoch nicht ohne symptomatische Bedeutung, daß vor einigen Jahrzehnten die „linken“ Freudisten den Marxismus durch eine Rezeption ihres Meisters in Ordnung zu bringen versuchten, jetzt aber Anläufe vorhanden sind, den Freudismus durch Ergänzungen aus Marx zeitgemäß zu machen. Ähnliches ist auch in anderen Gebieten sichtbar, freilich gegenwärtig in einer höchst spärlichen Weise. Dominierend ist noch jene selbstgefällige Unwissenheit, auf die hier bereits hingewiesen wurde. Daraus darf man aber nicht auf rein monolithische Problemstellungen schließen. Gegensätze sind überall in allen Fragen vorhanden. Einige haben wir weiter oben angezeigt.

Wenn nun die Entfaltung der ökonomischen und politischen Koexistenz weitergeht, wird dieser Prozeß der Differenzierung und mit ihm die differenzierte Stellungnahme von der Aneignung über das Bündnis in einzelnen Fragen bis zur radikalen (freilich auf Kenntnis beruhenden) Ablehnung an Breite und Tiefe gewinnen. Dann erst kann die wahre Koexistenz als wirklicher Kampf von Weltanschauungen vor sich gehen. Um ihn richtig zu verstehen, müssen wir vor allem wissen, daß für jede Weltanschauung sowohl die Selbstgenügsamkeit, das Abgesperrtbleiben in sich selbst, wie die Offenheit der Aufnahme mit Risken verbunden sind.

Daß das erste Verhalten zum inneren Verdorren und damit — in Krisensituationen — zur Widerstandsunfähigkeit führt, kann man aus historischen Erfahrungen leicht bestätigen. Dieses Verhalten ist aber heute im Kapitalismus wie im Sozialismus vielfach wahrnehmbar.

Im anderen Fall zeigt sich, daß jede Weltanschauung, gerade weil sie stets aus einem bestimmten gesellschaftlichen Sein herauswächst, von großer innerer Empfindlichkeit ist. Um auf ein früheres Beispiel hinzuweisen: die Rezeption L. Morgans durch Marx und Engels war eine große Verstärkung des historischen Materialismus, die von Kant durch Bernstein und Max Adler hat den dialektischen Materialismus in breiten Kreisen und für lange Zeit gelähmt.

Das Risiko der Öffnung

Da dieses Risiko auf einer echten Alternative beruht, kann ihm nicht ausgewichen werden: jede gewichtige neu entdeckte Tatsache, jede Eröffnung methodologischen Neulands, ja sogar jede sensationelle, obwohl unrichtige „Entdeckung“ stellt jede Weltanschauung vor eine solche Alternative, und sehr oft sind die scheinbar unmittelbar naheliegenden, bequemen oder radikalen Entscheidungen gerade die gefährlichsten: so bei vielen Sozialisten, bei denen die Absperrung vom Westen die kritische Selbstverteidigungskraft des Marxismus abgeschwächt hat; deshalb die in letzter Zeit sehr häufige kritiklose Aneignung von allem, was aus dem Westen kommt, als ob der Marxismus sein Immunisierungsvermögen verloren hätte.

Dieser Aufsatz hat nicht die Absicht, in Weltanschauungsfragen Urteile zu fällen, obwohl sein Verfasser es nie verhehlt, daß er ein entschiedener Anhänger des Marxismus ist. Was hier versucht werden sollte, ist vielmehr, die soziale Funktion und das soziale Schicksal der Weltanschauungen im Kampf der Formationen wenigstens andeutend aufzuzeigen. Diese Funktion liegt in der bewertenden Orientierung innerhalb einer gegebenen gesellschaftlichen Welt. Die Erkenntnis der jeweiligen konkreten Wirklichkeit und der Perspektive ihrer Entwicklung ist für das Individuum in diesem Fall kein Selbstzweck, sondern ein Vehikel für sein eigenes, sinnvoll gelebtes Leben.

Die Wahrheit des Weltbilds, die Richtigkeit der Perspektive, die Gehalt auslösende Macht der ethischen Wegweisung entscheiden über Widerstandskraft oder Gebrechlichkeit einer Weltanschauung. Darum sind die Krisen im persönlichen Leben oder im sozialen System die letzthinnigen Prüfsteine dessen, was eine Weltanschauung zu leisten imstande ist. Die kulturelle Koexistenz drängt in die Richtung von solchen Erprobungen, insbesondere, wenn beide Systeme bereits im Begriffe sind, ihre gegenwärtigen inneren Inadäquatheiten ökonomisch, sozial und ideologisch zu überwinden, wenn das allgemeine Wachsen der Muße die Leere ihres gegenwärtigen Wesens immer klarer, vor immer mehr Menschen enthüllt und sie dazu anleitet, selbst nach einem Sinn ihres Lebens zu suchen.

Ideestreit statt Weltkrieg

Niemand kann heute die konkreten Formen der ideologischen Kämpfe in der kulturellen Koexistenz voraussehen. Wir stehen heute am Anfang eines langwierigen Prozesses. Es scheint uns aber gewiß, daß ihre Bedeutung größer sein wird als bei den früheren Übergängen aus einer gesellschaftlichen Form in die andere. Schon das Verschwinden des Kriegs sorgt dafür, und die Tatsache, daß damit Bürgerkriege nicht prinzipiell ausgeschaltet sind, ändert nichts an dieser wachsenden sozialen Bedeutung der Weltanschauungsfragen, ja kann diese Tendenzen noch steigern. (Die konkreten Formen dieser Übergänge sind heute noch so unübersehbar, daß es sich nicht lohnt, über sie zu sprechen.) Denn gerade die Zuspitzung der inneren Klassengegensätze ist eine Gegebenheit, bei der sich die Widerstandskraft oder Gebrechlichkeit, die Elastizität oder die Starrheit der Weltanschauungen an die sichtbare Oberfläche des Menschenlebens drängt.

Natürlich wird das reale Handeln der Menschen — letzten Endes — von ihrem gesellschaftlichen Sein bestimmt. Aber der Umschlag aus dem Sein ins Bewußtsein ist nicht nur unvermeidlich und bedeutsam, sondern auch sehr kompliziert, dialektisch-widerspruchsvoll, ungleichmäßig. Und bei diesem Umschlag, glauben wir, wird die Rolle der Weltanschauungen in der kommenden Koexistenz größer sein als je früher in der Geschichte.

Endlich noch einige Bemerkungen über die Rolle der Kunst, vor allem der Literatur in diesem Problemkomplex der kulturellen Koexistenz. Will man hier ein wirklichkeitstreues Bild erhalten, so muß man noch nachdrücklicher als bis jetzt vor monolithischen Verallgemeinerungen warnen. Solche sind heute noch in beiden Systemen vorherrschend, vor allem insoferne, als man von den inneren Richtungskämpfen im Lager des Gegners abzusehen geneigt ist. Daß dies in der Stalinzeit so war, war unvermeidlich; auf einige Folgen, die auch heute noch wirksam sind, habe ich hier in anderen Zusammenhängen bereits hingewiesen.

Die wichtigste und für die sozialistische Literaturentwicklung gefährlichste Folge ist, daß man den im Westen nie unterbrochenen, sich sogar verstärkenden Kampf zwischen Realismus und Antirealismus übersieht. Im Westen sind ebensolche Vorurteile mit Bezug auf den sozialistischen Realismus vorherrschend. Man vergißt dabei, daß die vorstalin’sche Periode der Revolution, deren Nachwirkungen in der Literatur bis zur Mitte der Dreißigerjahre dauerten, nicht nur epochemachende Filme, sondern auch Schriftsteller wie Scholochow und Makarenko, Werke wie die letzten Dramen Gorkis, wie seinen „Klim Samgin“ hervorgebracht hat.

Und man vergesse nicht, daß die Opposition gegen die Stalin’sche Methode, obwohl sie bis jetzt noch in den ersten Anfängen steckt, Schriftsteller wie Solschenizin oder Nekrassow vor die Öffentlichkeit brachte, deren Werke keineswegs einen Bruch mit dem sozialistischen Realismus überhaupt bedeuten, vielmehr dessen aktuelle innere Erneuerung. Das ist der Weg, auf dem die sozialistische Literatur ihre Bedeutung wiedergewinnen kann.

Das Ästhetische entscheidet

Alle Fragen, die sich aus dieser Lage, aus ihrer künftigen Überwindung ergeben, behandeln wir nicht von einer rein ästhetischen Warte, sondern bloß als Teile jenes Komplexes, den wir früher als Kampf der Weltanschauungen zu verstehen versuchten. Das Ästhetische wird damit nicht ausgeschaltet. Im Gegenteil. Es spielt eine entscheidende Rolle, denn eine allgemeine, tiefe und dauernde weltanschauliche Wirkung geht nur in seltenen Ausnahmefällen von künstlerisch minderwertigen Werken aus.

Gerade wenn man, wie hier, die Wirkungen der Kunst als einen — höchst wichtigen — Teil der früher analysierten weltanschaulichen Kämpfe betrachtet, ist ihre geistig-sinnliche Durchschlagskraft von höchster Wichtigkeit, und in dieser sind entscheidende Momente des Ästhetischen enthalten.

Was vom Standpunkt dieser Betrachtung die künstlerischen Wirkungen von den wissenschaftlich-weltanschauungsmäßigen Wirkungen unterscheidet, ist vor allem, daß viel häufiger, viel vehementer die Klassenschranken in der Rezeptivität überwunden werden können, als dies sonst der Fall zu sein pflegt. Wenn eine gedankliche Auseinandersetzung auf das weltanschauliche Verhalten der Menschen einzuwirken beginnt, so ist dabei eine mehr oder weniger auch gesellschaftlich bewußt gewordene innere Kontroverse im Menschen selbst fast unvermeidlich. Entsteht dagegen die Wirkung durch gestaltete Menschen und Menschenschicksale, so kann ihre Unmittelbarkeit viel leichter Klassenschranken oder Klassenhemmungen durchbrechen. Von Beaumarchais’ „Figaro“ bis zum „Potemkin“-Film zeigt die Geschichte eine Fülle von Beispielen für diese Wirkungsart. Allerdings — vom Standpunkt des Kampfs der Weltanschauungen — mit dem Vorbehalt, daß solche Eindrücke viel leichter in das alte Überzeugungssystem wieder eingebaut und damit sozial „unschädlich“ gemacht werden können als direkte gedanklich-weltanschauliche Einwirkungen.

Jedenfalls darf man die weltanschaulich erschütternden oder beruhigenden, Auflehnung oder Apathie, Begeisterung oder Zynismus auslösenden Wirkungen der Kunst nicht unterschätzen. Ja wir glauben, daß die entscheidend großen Erschütterungen, die von ihr ausgehen, gerade im Gebiet des Menschlich-Weltanschaulichen ihre tiefsten Wurzeln haben. Tritt die rein formelle Seite der Kunst allzu sehr in den Mittelpunkt des Interesses, so ist dies zumeist entweder ein Zeichen der Lockerung im wesentlichen Verhältnis zwischen Kunst und Publikum oder die Konzentration ihrer Wirkungen auf ein apathisch-zynisches Sich-Abfinden mit den jeweils gegebenen Lebensformen, während der echte Realismus — in immer verschiedener Weise — einen aufrüttelnden, zur Bewahrung der ethischen Integrität des Menschen auslösenden Einfluß auszuüben pflegt.

Bei alledem muß natürlich noch berücksichtigt werden, daß hier ausschließlich von den Ausstrahlungen der Werke selbst und nicht von den Absichten der Verfasser die Rede ist. Eine ungleichmäßige, widerspruchsvolle Verbindung zwischen subjektiver Intention und objektiver Richtung und Wucht im Beeinflussen der Menschen ist natürlich auch auf dem Gebiet der Theorie vorhanden. Diese Widersprüchlichkeit erhält jedoch eine qualitative Steigerung im Bereich der Kunst. Es ist eine für sie ungünstige Tendenz der Gegenwart, daß dieses Moment der Dialektik von Absicht und Vollendung vernachlässigt wird.

Verbote machen attraktiv

Besonders die Stalin’sche Periode leugnete die Möglichkeit von künstlerischen Gestaltungen, die widerspruchsvoll zu ihren bewußten Absichten standen. Eine von solchen Voraussetzungen ausgehende Lenkung muß daher einen lähmenden Einfluß ausüben. Und wenn sie sich sogar bis zu Verboten steigert, so kann sie sehr leicht dazu führen, an sich oberflächlichen, vorübergehenden Tendenzen eine überspannte Anziehungskraft zu verleihen, ihren Einfluß tiefer und dauernder zu machen, als er in seiner Spontaneität wäre. Sehr ähnlich werden sich, letzten Endes, im Westen die Versuche auswirken, den Realismus ästhetisch zu diffamieren.

Diese flüchtigen Bemerkungen erheben nicht den Anspruch, zur Kunst unserer Tage und zur Perspektive ihrer Entwicklung bei der Entfaltung der kulturellen Koexistenz ästhetisch Stellung zu nehmen. Es sollte nur auf einige Wesenszeichen hingewiesen werden, die die eigenartige Rolle der Kunst innerhalb der ideologischen Kämpfe der kulturellen Koexistenz bestimmen.

Auf dem ganzen Gebiet versuchten wir aber über die gegenwärtigen, spezifischen und voraussichtlich von einer späteren Entwicklung zum Überholtwerden verurteilten Schwierigkeiten hinausgehend auf ihre Perspektiven hinzuweisen, die — unter Eliminierung kleinlicher Plänkeleien von heute — voraussichtlich einen wesentlichen und scharfen ideologischen Kampf der beiden Systeme anzeigen. Der Verfasser dieser Zeilen will seine Überzeugung, daß aus diesem Wettbewerb der Weltanschauungen in der kulturellen Koexistenz der sich wiedergefundene, wieder echt gewordene Marxismus als Sieger hervorgehen wird, nicht verhehlen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1964
, Seite 241
Autor/inn/en:

Georg Lukács:

Geboren 1885 in Budapest. Philosoph, Literaturhistoriker und politischer Theoretiker. Seit 1918 war Lukács Mitglied der ungarischen KP, 1919 wirkte er als stellvertretender Volkskommissar für das Unterrichtswesen in der Räterepublik. Lukács emigrierte nach Wien, Berlin und Moskau. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Ungarn zurück und arbeitete als Professor. Lukács war führendes Mitglied des Petöfi-Klubs und beteiligte sich am Ungarnaufstand 1956.

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