FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1988 » No. 409/410
Jürgen Langenbach

Preußische Kinderstube

Die Charakterstruktur der faschistischen Masse liegt nach wie vor ın jenem Dunkel, das die Scheinwerfer älterer und neuerer Bauart — vom immer noch beliebten „Kleinbürger“ bis hin zu den schon wieder vergessenen „Männerphantasien“ — um sich herum verbreiten. Die folgende Annäherung sucht stattdessen zu erhellen, warum der Bürger denn klein geworden ist, und wo sie herrühren, die realen Phantasien: Aus der abstrakten Arbeit, sprich: Technik.

Die Geschichte beginnt in der „Preußischen Kinderstube“, bei den „Denkwürdigkeiten“ Daniel Paul Schrebers, der sein und seiner Gesellschaft Heil in der Erstarrung sucht, Erfolg aber einzig bei seinen psychoanalytischen Interpreten findet, die ihre Kategorien gleichfalls durch Totstellen vor dem Tod retten wollen.

Im Frühjahr 1911 stirbt Daniel Paul Schreber während eines dritten Aufenthalts im Irrenhaus. Zweimal hatte er sich zurückretten können aus seinem Privatwahn in jene vor Gesundheit fiebernde Gesellschaft, die im August 1914 dann sich eine andere Kur verordnet hat. „Die Haltung und der Gang sind starr, die Bewegungen steif und eckig“, überliefern die Krankenblätter, „Patient ist einige Stunden außer Bett, sitzt dann in derselben Haltung bis 1 Stunde starr da, um plötzlich mit eckigen Bewegungen sich zu erheben und im Zimmer auf und ab zu gehen“. [1] Wie auf dem Kasernenhof.

Aber der Irre ist kein Soldat. Und auf dem Höhepunkt seiner Krise ist das Ventil des Krieges, das die starre Haltung der Stillgestandenen löst und den eckigen Bewegungen ein Ziel weist, noch nicht geöffnet, erst die nächste Generation wird ihr Heil in der Flucht nach vorn finden. Schreber sucht ein Entkommen in der Gegenrichtung, er will die Spannung zwischen Starre und Bewegungsdrang, die ihn wie seine Gesellschaft zu zerreißen droht, zugunsten der Starre schlichten, zugunsten des unverbrüchlichen Rechts. Dessen Ordnung bot ihm Halt, Schreber war Senatspräsident am sächsischen Oberlandesgericht, dann ist ihm Unrecht geschehen, beim zweiten Schub seiner Krankheit ist er wider das Gesetz entmündigt worden. Aus der Anstalt führt er seinen Prozeß, er legt Beweismittel und Schriftsätze vor, unter anderem die autobiographischen „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, die ihm vor Gericht sein Recht und in der psychoanalytischen Literatur die Unsterblichkeit eingetragen haben.

Geholfen hat ihm beides nicht. Freud hat ihm eine Paranoia andiagnostiziert, und das Recht, das er bekommt, sieht seiner Krankheit zum Verwechseln ähnlich, spaltet gut bürgerlich den Menschen auf: Zur einen Hälfte ist er abstrakte Rechtsperson, die andere bleibt seinem privaten Belieben überlassen. Exakt entlang dieser Bruchlinie hat Schreber sein Plädoyer in eigener Sache vorgetragen: Er sei wohl nervenkrank und trage ganz eigene Ideen in seinem Kopf, über deren Qualität jedoch habe das Gericht nicht zu befinden. Sondern nur darüber, ob er im Sinne des Gesetzes „zur Besorgung der eigenen Angelegenheiten“ in der Lage, ob er ein zurechnungsfähiges Rechtssubjekt sei. Das Gericht ist dieser Linie gefolgt, die Trennung ist juristisch einwandfrei.

Aber gesellschaftlich nicht einlösbar, der vom Recht gewährte Freiraum bleibt Schein. Schrebers Arzt ist als Gutachter zum Prozeß zugezogen und muß seinem Patienten bestätigen, in dessen gespaltenem Hirn herrsche „neben einem mehr oder weniger fixierten, folgerichtig aufgebauten Wahnsystem völlige Besonnenheit und Orientiertheit“(378(385). Aber der Gutachter kommt seiner Pflicht mit unverhohlenem Widerwillen nach. Denn Schreiber will mit seiner Selbstanalyse in den „Denkwürdigkeiten“ nicht nur seine Rechtsmündigkeit zurückerlangen, er will umgekehrt auch die Rechtsmündigkeit, um seine „Denkwürdigkeiten“ publizieren zu können. Das geht dem Gutachter zu weit, von den Inhalten her widerruft er, was er formal anerkennen hat müssen. Offenkundig sei seines Patienten Blick „für die den Menschen in der Gesellschaft gezogenen Grenzen getrübt“(392(403): Wer derartiges publizieren wolle, möge wohl rechts- und geschäftsfähig sein, seinen Verstand könne er jedoch nicht beieinander haben.

Trotzdem hat Schreber den Prozeß gewonnen und einen Verleger gefunden. Daß der Skandal ausgeblieben ist, hat seinen Grund in der kleinen Auflage der „Denkwürdigkeiten“ und deren weitgehendem Ankauf durch besorgte Familienmitglieder. Am Inhalt hat es nicht gefehlt: Senatspräsident Schreber, der fünfzigjährige Mann und Diener seines Staats, will sich in eine Frau verwandeln. Und nicht etwa deshalb, weil er in seinem Wahn nicht mehr weiß, was er tut. Sondern umgekehrt, er betreibt seinen Wahn mit Wille und Bewußtsein — weil das Gesetz es befiehlt.

Das Gesetz, nicht irgendein Gesetz. Schreber kämpft an zwei Fronten zugleich. Äußerlich führt er seinen Prozeß vor der irdischen Instanz, im Inneren führt er denselben Prozeß noch einmal, im Weltmaßstab und (nicht vor der, sondern) um die letzte Instanz.

Dort muß er gegen Gott selbst antreten, gegen einen toll gewordenen Gott, der „wie nur irgend ein Raubtier“(355(359) über sein Opfer herfällt. Nicht ein Glied bleibt heil, Seuchen zerfressen den Leib und Kleingetier das Hirn, der „Kot in den Därmen“ wird „vorwärts (manchmal auch rückwärts) gedrängt“ (247(225), „Engbrüstigkeitswunder“(188(151) ersticken den Atem und „das abscheulichste aller Wunder ...: die ‚Kopfzusammenschnürungsmaschine‘“(194(159) zerdrückt den Schädel. Der Schrecken gipfelt im Versuch der „Entmannung (Verwandlung in ein Weib)“(102(45), beschränkt sich jedoch keineswegs auf den Körper, der teuflische Gott zielt auch auf die „Zerstörung des Verstandes (Blödsinnigmachen)“(142(94). Unaufhörlich reden Stimmen auf den Geplagten ein, ein „ödes Phrasengeklingel von eintönigen, in ermüdender Wiederholung wiederkehrenden Redensarten“(197(162) läßt ihn weder zur Ruhe noch zu sich selbst kommen. Erst allmählich kann der Verstörte ein Bild seiner mißlichen Situation gewinnen.

Ein düsteres Bild, die ganze Welt steht auf dem Spiel. Mit seinem Angriff auf Schreber bricht Gott die von ihm selbst gesetzte Ordnung und reißt jene Grenze nieder, die Gott von den Menschen trennt und die Menschen dadurch erst zu Menschen macht, die Grenze um die menschliche Freiheit. In Schrebers System sind Gott und die Menschenseele aus demselben Stoff, aus Nerven, die einen ewigen Kreislauf durchwandern. Gott ist rein Nerv, er entläßt bei jeder Geburt eines Menschen Teile seiner selbst ins irdische Leben und holt sie nach dem Tod des Körpers wieder zurück. Nur dann. „Ein unmittelbares Eingreifen Gottes in die Geschichte der einzelnen Menschen und Völker ... fand im weltordnungsgemäßen Zustand in der Regel nicht statt“(74(10), der Mensch ist frei, solange er lebt, erst seiner „Leiche konnte Gott sich ohne Gefahr nähern“(75(12) — ohne Gefahr für sich selbst: „Die Nerven lebender Menschen besitzen namentlich im Zustande einer hochgradigen Erregung eine derartige Anziehungskraft auf die Gottesnerven, daß Gott nicht wieder von ihnen hätte loskommen können, also in seiner eigenen Existenz bedroht gewesen wäre“(75(11). Unter dem Mäntelchen des göttlichen Rechts regt sich mithin mancherlei.

Bis das Gewebe bricht. „In diesen ‚wundervollen Aufbau‘ ist nun seit neuerer Zeit ein Riß gekommen“(83(22), zu Lebzeiten schon soll Schreiber seine göttlichen Teile fahren lassen, Gott plant einen „Seelenmord“(83(22), er überhäuft sein Opfer mit Gottesnerven, um es vom selbstbestimmten Subjekt (= Mann) ins rechtliche Objekt Frau erst zu verwandeln, dann zu Tode zu vergewaltigen und schließlich die Seele einzustreichen. Diese „maßlose Verletzung der ursprünglichsten Menschenrechte“(244(222) belehrt den Richter Schreber neuerlich über die Grenzen des Rechts. Waren die Einlassungen des ärztlichen Gutachters noch abwehrbar, und zwar mit Hilfe des Rechts, so drängt die Willkür Gottes den Verdacht auf, daß mit der Rechtsordnung selbst etwas nicht stimmt: Hinter der „absoluten Vollkommenheit“ der letzten Instanz regiert als allerletzte Instanz der nackte „Selbsterhaltungstrieb“(89(30), das vorgebliche Recht ist ein Spielball der Macht.

Aber Schreber will seinen eigenen Augen nicht trauen, er durchschaut die Illusion und hält doch an ihr fest, will den geplatzten Wechsel ziehen. An diesem Widerspruch wird sein Bewußtsein am Ende zerbrechen.

Zunächst jedoch nimmt er die Herausforderung an, er wehrt sich, was er kann. Und er kann einiges: Den Angriffen auf seinen Körper nimmt er dadurch die Spitze, daß er ihnen keinen Widerstand entgegensetzt — den Attacken auf seinen Geist gibt er keine Angriffsfläche, ihnen hält er einen Spiegel entgegen. Das Stimmengeschwätz beispielsweise übertönt er durch eigenes Geschwätz, die andrängenden Phrasen wirft er „durch einfache Wiederholung“(243(222) zurück. Im Gegenzug gibt er den Körper preis. Auch hier macht er sich dem Aggressor gleich, hier weist er ihn jedoch nicht ab, hier lockt er ıhn. „Aus Vernunftgründen“ schreibt er „die Pflege der Weiblichkeit ... auf meine Fahne“(209(178): Er läßt die Nerven, die ihn in eine Frau verwandeln sollen, nicht mehr los, zieht immer größere Anteile Gottes in seine Arme und hält sie in „Seelenwollust“(210(180) fest. Das Opfer des Leibes ist der Preis für die Freiheit des Geistes. Weil und während Schrebers Sinnlichkeit Gott orgiastisch bindet, kann Schrebers Vernunft die Weltordnung noch einmal in ihre Rechte setzen.

Der Schachzug ist genial, seinem Gelingen kommen allerdings ganz ungöttliche Eigenheiten des Gegners entgegen. Gott weiß nicht so recht, was er will, er handelt einmal streng nach dem Gesetz, läßt sich das andere Mal von seinen Launen treiben. Und Gott weiß nicht so recht, was er redet, er spricht eine „Grundsprache“, die weithin das Gegenteil von dem meint, was sie sagt, „so z.B. Lohn in der gerade umgekehrten Bedeutung für Strafe, Gift für Speise“(77(13). Die Zweideutigkeit ist Gottes Element, mit der Technik des double-bind will er sein Opfer (wahrscheinlich auch sich selbst) darüber hinwegtäuschen, daß er nur so tut, als wisse er nicht, was er will. Im Grunde will er immer nur das eine: „Männliche Todesverachtung ist nun einmal den Seelen (Gott J. L.) ... nicht gegeben. Sie gleichen insoweit kleinen Kindern, die auf ihre Naschware — die Seelenwollust — nicht einen Augenblick verzichten können ... Daraus ergibt sich, daß Gott ... mir überwiegend lächerlich oder kindisch erscheint.“(336(333)

Schreber ist des Schreckens Herr geworden, er hat den Spieß umgedreht, läßt Gott vom „Gesetz“ schwadronieren und „Lust“ meinen und echot „Lust“ zurück, um das Gesetz zu retten. Seine Persönlichkeitsspaltung heilt den Riß in der Weltordnung: Die private Hälfte schläft als Frau mit Gott und wird in der restlichen Zeit, wie eingangs geschildert, zwischen Erstarrung und eckiger Bewegung hin- und hergetrieben; und die öffentliche Hälfte hat mit der List der Vernunft die Macht der Vernunft verteidigt. Der Patient wird zwar nicht als geheilt, wohl aber als mündig entlassen.

Soweit in Kürze das Krankheitsbild. Noch kürzer ist die erste Ferndiagnose ausgefallen. „Wir befinden uns ... auf dem wohlvertrauten Boden des Vaterkomplexes“, hat Sigmund Freud — nach seiner Lektüre der „Denkwürdigkeiten“ — das Unvertraute zur Ordnung gerufen und dabei einen allwissend-drohenden Unterton angeschlagen: „Die infantile Einstellung des (jeden J. L.) Knaben ist uns genau bekannt; sie enthält die nämlıche Vereinigung von verehrungsvoller Unterwerfung und rebellischer Auflehnung, die wir im Verhältnis zu seinem Gott gefunden haben.“(180(177) [2] Auf dem wohlvertrauten Boden gedeihen allerdings die unterschiedlichsten Verrücktheiten, mit dem Vaterkomplex allein ist Schrebers Besonderheit nicht erklärt. Freud entwickelt am Fall Schreber seine Theorie der „Paranoia“: Die frühkindliche Libidoentwicklung bleibt auf der Stufe einer „femininen (passiv homosexuellen) Wunschphantasie“(173) stehen, wird ein erstes Mal abgewehrt (durch Verdrängung), kehrt wieder, wird ein zweites Mal abgewehrt, diesmal mittels Projektion: Der „Paronoiker“ nimmt seine eigenen Gefühle nicht als eigene, vielmehr als Gefühle seiner Umwelt wahr; und er verkehrt diese Gefühle in ihr Gegenteil, erlebt statt eigener Liebe fremden Haß.

Schreber wäre demnach als Kind in seinen Vater verliebt gewesen, hätte seine Regung aber lange vor sich und der Welt verborgen gehalten; aus irgendeinem Anlaß wäre die Abwehr in sich zusammengebrochen und durch ein Wahnsystem ersetzt worden, das die Person und ihren Bezug zur Welt neu ordnet. Schreber hätte einen „Ausweg gefunden, der beide streitenden Teile befriedigt. Das Ich ist durch Größenwahn entschädigt, die feminine Wunschphantasie aber ist ... akzeptabel geworden.“ (173)

Die Deutung geht elegant auf, sie bringt sogar die Strategie der „infantilen ‚Retourkutsche‘“ unter, die einen „empfangenen Vorwurf unverändert auf den Absender zurückwendet“(177). In der Tat spricht Schreber oft genug mit seinem Gott wie ein Lehrer mit seinem Schüler oder ein Vater mit seinem Sohn, er hat beispielsweise den „Gedanken, daß Gott durch Erfahrung nichts lernen könne ..., dahin formuliert: ‚Jeder Versuch einer erzieherischen Einwirkung (auf Gott J. L.) ... muß als aussichtslos aufgegeben werden‘“.(217(187/188)

Die Deutung geht nachgerade wünschenswert elegant auf, sie unterschlägt nur, daß die Kutsche irgendwoher gefahren sein muß, bevor sie retour geschickt werden kann. Und sie bemerkt gar nicht, daß sie unterschlägt. Und sie fragt deshalb schon zweimal nicht, wessen Wunsch der Vater der eleganten Deutung sein könnte, oder: wessen Vater?

Jedes Kind folgt dem „alles umfassenden Wahlspruch: ‚Sei fest und rein wie Gott!‘ Diese innere Stimme wird in allen Fällen sein sicherster Schutz, sein treuester Wächter sein.“(288)

Der Spruch, der keine Wahl läßt, entstammt nicht den irren Phantasien Daniel Paul Schrebers, er ist einem der unzähligen Handbücher der Normalität entnommen, die Daniel Gottlob Moritz Schreber verfaßt hat, der Vater des Verrückten. [3] In seinem Schrifttum findet sich alles: Kein Krankheitssymptom des Sohnes, das in der Gesundheitslehre des Vaters nicht als Heilmittel verzeichnet wäre.

Schreber senior hat nicht nur den zur Ordnung gerufenen Garten erfunden, er war als Arzt und Volkserzieher unermüdlich mit der Nachbesserung der Natur beschäftigt, damit, die „physische und moralische Lebensfähigkeit“ des Bürgertums auf die Höhe der „mächtigen Fortschritte der intellektuellen Seite“ (18) zu heben. Die Körper sollen sich strecken und die Moral soll wachsen, ganz wie der Garten, „die edlen Keime der menschlichen Natur spriessen in ihrer Reinheit fast von selbst hervor, wenn die unedlen (das Unkraut) rechtzeitig verfolgt und ausgerottet werden“ (104).

Die rechte Zeit beginnt mit der Geburt. Der Arzt Schreber hat ein ganzes Arsenal von Körperregulierungsapparaten — Geradehalter, Fußschienen, Kopfzwingen etc. — ersonnen, um den künftigen Bürger in Form zu bringen und dort reglos zu halten, zur Verhinderung nächtlicher Erregung beispielsweise empfiehlt sich das Festbinden der Kinder im Bett. Und wenn sich doch noch etwas regt, ist der Vergewaltiger mit dem Hinundherschieben des Kots in den Gedärmen nicht eben kleinlich, „gegen schädliche Häufigkeit der Pollution“ hilft ein kaltes Bad „oder ein einfaches Wasserklystier“ (ZG 95/96). Die methodische Folter pocht auf ihren wissenschaftlichen Status und hat ihre Werkzeuge im Experiment überprüft, jede einzelne Empfehlung ergeht „nach mehrfachen Proben an meinen eigenen Kindern“(203).

Einen seiner Söhne hat die Kur in den Selbstmord getrieben, den anderen in den Wahnsinn. „‚Keine kleinste Bewegung", lautete das oft (von den Stimmen J. L.) gegen mich wiederholte Stichwort“(180(142), erinnerte sich der Verfasser der „Denkwürdigkeiten“ und schließt daraus, „daß Gott mit lebenden Menschen ... nicht umzugehen wußte, sondern nur den Verkehr mit Leichen ... gewöhnt war“(ebd).

Nun sind wir doch auf dem Kasernenhof. „Kadavergehorsam“ heißt treffend der terminus jener Technik, mit der das Militär seine Rekruten zunächst einmal selbst zu Leichen zurichtet, bevor es sie in den Krieg und andere Kadaver herstellen schickt. Vater Schreber liefert das Halbfertigprodukt. Daß dies eines militärischen „Schliffs“ überhaupt noch bedarf, hat seinen Grund in den Zweideutigkeiten der Kinderstube. Der fertig gemachte Soldat darf nichts denken und nichts empfinden, er hat es einfach. Das unfertige Kind hat es schwer, es soll etwas denken und es soll etwas empfinden, und zwar jeweils das Gegenteil von dem, was es spürt: Es soll den Zwang in Freiheit umdenken und den Gehorsam aus Liebe erweisen.

Denn Schreiber senior ist kein schlichter Teufel, er will in seiner Werkstatt gerade keine „hohlen Drahtpuppen“(157) herstellen, sondern freie Bürger. Und er ist kein verschrobener Sonderling, die hohen Auflagen seiner Bücher belegen, daß der Volkserzieher auf der Höhe seiner Zeit steht — und daß diese Zeit ihrer eigenen Höhe nicht mehr gewiß ist und ihre Selbstzweifel durch Schrifttum zur Lebenshilfe beschwichtigen muß:

„Der Mensch soll seiner hohen Bestimmung gemäß immer mehr und mehr zum Siege über die materielle Natur gelangen, der einzelne Mensch zur Herrschaft über seine eigene Natur, die Menschheit im Ganzen zur Herrschaft über die Natur im Großen.“ (21)

Das Credo des Fortschritts gilt noch ungebrochen, aber mit dem Credo allein ist die widerspenstige Natur nicht zu beherrschen, Schreber senior bringt System in die Herrschaftstechnik. „Eine sehr gute, dieser Altersstufe (dem ersten Lebensjahr J. L.) ganz zeitgemäße Uebung in der Kunst sich zu versagen ist die, daß man dem Kind oft Gelegenheit gibt, andere Personen in seiner nächsten Umgebung essen und trinken zu sehen, ohne daß es selbst danach begehrt.“(63)

Der Hunger wird geweckt und mit Verweigerung gespeist, das Kind lernt fürs Leben Dreierlei. Es lernt Ordnung, Ordnung und noch einmal Ordnung. Von der „Einteilung seiner Zeit“ (300) bis zum Verbot sämtlicher „Launen“ (167) bleibt nichts vergessen. „Nur keine Ausnahme gemacht!“ (63) Wenn ein Kleinkind beispielsweise schreit, obgleich nach des Erziehers Uhr Schreien gar nicht an der Zeit ist, dann möge man es so lange prügeln — „beharrlich wiederholte körperlich fühlbare Ermahnungen“ (61) —, bis es Ruhe gibt. „Eine solche Procedur ist nur ein- oder höchstens zweimal nöthig — und man ist Herr des Kindes für immer. Von nun an genügt ein Wort, ein Blick, eine einzige drohende Geste, um das Kind zu regieren.“ (61) Bald wird der Wink mit dem Rohrstock ganz überflüssig, die Herrschaftsinstanz nistet sich als Untertanengeist — oder auch: Über-Ich — ım Kopf des Kindes ein und macht es irre: Seine eigene Natur wird von einer anderen Natur zusammengeprügelt, aber die Prügel behaupten, sie seien gar nicht Natur, sondern Vernunft, und sie seien auch nicht Zwang, sondern Freiheit.

Aus dieser Falle bleibt dem Kind nur ein Ausweg: Es kann und soll seinen Körper mit einem „Panzer gegen das Unglück“ (148) vor jeder Triebregung und der ihr folgenden Strafe schützen; und es kann und soll seinen Geist vor jeder Nachdenklichkeit bewahren: „Wenn einem Kinde geheißen ist, Etwas mit einer bestimmten Hand zu reichen, es beharrt aber eigenwillig darauf, statt dieser die andere Hand zu nehmen — was in der Welt könnte wohl gleichgiltiger sein, als das Aeusere dieser Handlung: der vernünftige Erzieher aber wird nicht eher ruhen, als bis die Handlung dem Geheisse vollkommen entsprechend ausgeführt, und der unreine Beweggrund ihr genommen ist.“(137) Das aus der Angst geborene Gewissen, das Innerste des Bürgers, findet seinen Inhalt und seine Beruhigung einzig im Äußerlichen, in der Reinheit (noch nicht der Rasse, aber schon) des Funktionierens. Dort trifft es sich mit dem gepanzerten Körper, der gleichfalls keine Ruhe findet und seine Energie in ruckartigen Bewegungen ausagiert, deren Präzision zu überwachen wiederum die letzte Aufgabe des Gewissens ist.

So weit, so vernünftig. Aber Schreber senior will mehr: „Um Gehorsam zu erlangen, appelliere man an die Liebe“ (236). Die ausgetriebene Natur schleicht sich durch die Hintertür wieder ein, die Kinder sollen ihre Züchtiger lieben und umgekehrt „fühlen lernen, daß selbst ... hinter Eurer Strenge ... nur die Liebe steht, wie die Sonne hinter den Wolken“ (132). Ersichtlich ist er liebesbedürftig.

Allerdings teilt der Vater nichts darüber mit, was er — außer der Gewaltanwendung — mit dem Körper seines Sohnes getrieben hat. Und der Sohn hat in den „Denkwürdigkeiten“ das Kapitel über Jugend und Familie der Selbstzensur geopfert. Bleibt der Rückschluß aus der Selbstheilungsstrategie des Irren: Er zerschlägt den Knoten des „liebenden Gehorsams“, er gibt Liebe, um den Gehorsam aufzukündigen, um dem Gehorsam in Wahrheit die Treue zu halten: Der Sohn ist die Verbesserung des Vaters, er überbietet ihn in dessen (und des Fortschritts) eigener Logik, seine „Weltordnung“ ist reiner als die väterliche Zweideutigkeit, in der Erstarrung/ruckartigen Bewegung seines Körpers krönt die Naturbeherrschung ihr Werk. Mit ihrer letzten List opfert die Vernunft den eigenen Leib.

Es gibt noch eine allerletzte List. Zur selben Zeit, in der der „Paranoiker“ Schreber sich seine „Denkwürdigkeiten“ abringt, sitzt der Idealist Weininger über seinem „Geschlecht und Charakter“ (Wien und Leipzig 1903). Daß er dabei „auf“ oder „über“ irgendetwas gesessen habe, ist eine aushilfsweise Rede, der Philosoph zweckt nichts Geringeres ab als den Endsieg der Vernunft über die Natur, die Befreiung des Kopfes vom eigenen und fremden Leib.

Denn die Sexualität ist „tierisch, schweinisch, ekelhaft“ (385), und unter ihrem Joch kann kein „zeitloses, intelligibles, freies Ich“ (367) gedeihen. Dessen Freiheit ist zwar der einen Hälfte der Menschen von vornherein verwehrt, die Frauen bleiben immer Natur, die andere Hälfte hingegen kann und muß sich hinaufarbeiten. „Das Prinzip aller Wahrheit sind die logischen Axiome ... Die Logik ist ein Gesetz, dem gehorcht werden soll, und der ganze Mensch ist erst dann er selbst, wenn er ganz logisch ist.“ (205)

Weininger reiht sich — unvermerkt, weil sein Denken wie über den Körper so auch über die Geschichte erhaben ist — ein in die Reihen des Fortschritts und dessen stimmige Definition durch Schreber senior. Auch er bleibt, ähnlich Schreber junior, nicht auf einer unreinen Stufe der Naturbeherrschung stehen, hinter den Züchtigungen seiner Vernunft lacht keine Liebe, beim Prügeln des Körpers schaut er nicht auf die Uhr. Sondern über alle Zeit hinaus, auf „das identische Gleichheitszeichen A = A. Dieser Satz ist identisch mit dem Satz: Ich bin“ (204). So jedoch einer werden will wie das Gleichheitszeichen, muß die Gleichung um all jenes gekürzt werden, was in ihr nicht aufgeht. „Die Verneinung der Sexualität tötet bloß den körperlichen Menschen und ihn nur, um dem geistigen erst das volle Dasein zu geben“ (458).

Schreber junior hat in seiner halben Konsequenz seine Sexualität zwar abgespalten, aber bisweilen doch mit Gott geschlafen, er hat zudem eine „Weltordnung“ gerettet, die mit dem menschlichen Leben noch etwas zu tun hat. Beide Unreinheiten haben ihn noch eine Zeitlang überleben lassen. Der rigidere Philosoph hingegen kann sich nur eine Zeitlang über den nächsten Schritt auf dem Wege zur reinen theoretischen Vernunft hinwegtäuschen, dann wird er die Tautologie A = A wahr machen und die Gleichung mit der Kugel kürzen. Mit einiger Folgerichtigkeit hat Weininger sich erschossen.

Zur selben Zeit wie Schreber über seinem Wahnsystem und Weiniger über seinem Vernunftsystem sitzt noch einer über einem Standardwerk des Fortschritts, Taylor entwirft sein „Kraftsparsystem“, die Wissenschaft von der Teilung der Arbeit („Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung“, Nachdruck Raben-Verlag, o. J.). Taylor findet aus den Doppelbödigkeiten des alten Schreber resp. des Fortschritts einen anderen Ausweg als die Erstarrung, er hält es mit der eckigen Bewegung und läßt unter dem Ansturm der Produktivkräfte alles Stehende und Ständische verdampfen:

„‚e‘Ein erste Kraft‘ ıst ein Arbeiter, der genau tut, was ihm gesagt wird, und nicht widerspricht. Verstehen sie mich? Wenn dieser Mann zu Ihnen sagt: Gehen Sie!, dann gehen Sie, und wenn er sagt: Setzen Sie sich nıeder!, dann setzen Sie sich und widersprechen ihm nicht.

Das scheint wohl eine etwas rauhe Art, mit jemandem zu sprechen, und das würde es auch tatsächlich sein, einem gebildeten Mechaniker oder auch nur einem intelligenten Arbeiter gegenüber.“ (49) Geschweige denn gegenüber einem deutschen Arzt und Volkserzieher. Taylor dirigiert seine Arbeiter ganz genau so wie Schreber senior seine Zöglinge, aber er räumt den bildungsbürgerlichen Ballast ab, winkt nicht mit dem Rohrstock und anderen ewigen Werten, sondern lenkt „sein (des angesprochenen Arbeiters J. L.) Augenmerk auf die hohen Löhne, die ihm ins Auge stachen und ihn ablenkten von dem, was er wahrscheinlich als unmöglich harte Arbeit bezeichnet hätte, wenn er darauf aufmerksam geworden wäre.“ (ebd)

Taylor kauft dem Subjekt ab, was ihm ohnehin genommen wird und was es nur mehr um den Preis des Irrsinns aufrecht halten kann: das Subjekt. Als „erste Kraft“ wird es frei von der Bürde des Gewissens, des Urteils, gar der Wahrnehmung, das „Kraftsparsystem“ erspart jede Eigenständigkeit, erspart mithin jene Mühen, mit denen Relikte wie Schreber junior in ihrer Person vergeblich die Welt zusammenzuhalten suchen. Aber auch Taylor ist nicht der Weltteufel, sein Paradigmenwechsel ratifiziert nur den Fortschritt des Subjekts, das fort von den Menschen schreitet: Die Weltordnung findet nicht mehr im Kopfe statt, sie wird Gegenstand in der Großen Industrie. Deren wissenschaftlich analysierte und synthetisierte Arbeitsteilung ist nicht weniger vernünftig als das Subjekt der Deutschen Idealisten und Exerziermeister, ganz im Gegenteil, es ist reinere theoretische und praktische Vernunft, als in Weiningers Studierstube und auf den Preußischen Kasernenhöfen je möglich war. Die Große Vernunft der Technik leidet nicht an einem ihr widerwärtigen Leib, sie schafft auch die anderen Störfaktoren ab, erteilt ihre Befehle nicht durch launische Feldwebel oder Volkserzieher, sondern ganz stumm und um so unwidersprechbarer, selbst der Legitimationsbedarf wird hinfällig, gearbeitet wird für Geld, nicht für Gott, Kaiser oder Vaterland.

Von den ehemaligen Subjekten bleibt nicht viel übrig. Taylors Fabrik ist mit dem Kasernenhof darin identisch, daß die zum Handgriff „geschliffenen“ Menschen nichts anderes mehr können noch wollen noch wollen können als die unentwegte Wiederholung ihrer selbst: eben des Handgriffs. Militär und Fließband treffen sich in der Bewegungswut.

Die Alte Welt spürt die Gefahr und wehrt sich, daraus mag Freuds rätselhaftes Paktieren mit Schreber senior zu entschlüsseln sein. Vielleicht will Freud die todgeweihte bürgerliche Gesellschaft wenigstens kategorial in ihrer besseren Vergangenheit verankern, (personell:) durch sein Vorurteil zugunsten des Arztkollegen Schreber, der (strukturell:) das Bürgertum in seiner Blüte repräsentiert, in jener Blüte, in der es dem festgefügten Persönlichkeitsmodell der Psychoanalyse noch zum Staunen ähnlich sah.

Freud schreibt seinen „Schreber“ 1910. Ein Jahr später, der Krieg klopft schon vernehmlicher an, schiebt er einen „Nachtrag“ (201 ff.) auf seine Schale der Waage und setzt (zusätzlich zur kategorialen Festschreibung des Bürgers) das Dunkel urgeschichtlicher Mythologien — Reflexionen zum Totemismus — gegen den immer heller sich abzeichnenden Lauf der Welt.

Die alten Mären halten sich lange in der Psychoanalyse, erst Alice Miller („Du sollst nicht merken“, Frankfurt 1983) bricht den Hauptmythos auf und stellt den Knaben Ödipus auf jene Beine, deren Sehnen seine Eltern durchschneiden ließen, bevor sie ihn den wilden Tieren und der Wissenschaft zum Fraß vorwarfen: Erst wird dem Kind Gewalt angetan, dann muß es sie vergessen; schließlich muß es, wenn das Vergessen mißlingt, Ursache und Wirkung vertauschen und sich selbst als Urheber der Gewalt verantworten, auf der Couch: Nicht das Kind hat reale Gewalt erlitten, seine Sexualität hat vielmehr die Gewalt des strafenden Vaters herbeiphantasiert. So die unterschiedlich variierte Leitmelodie der äonenalten „Schwarzen Pädagogik“, in die die Psychoanalyse um so kräftiger einstimmt, als sie ihre eigene Kindheit zu übertönen hat. Freud selbst hatte schließlich zunächst die reale Gewalt der Eltern für die Neurosen der Kinder verantwortlich gemacht. [4]

Der Fall Schreber wie seine Deutung durch Freud gibt Millers Plädoyer für eine nicht länger „triebtheoretische“ (51), also nochmals auf das Kind und seine bösen Phantasien einschlagende Psychoanalyse reichlich Bestätigung — weckt aber ebensoviel Skepsis gegen Millers Inthronisation des Kindes („bedarf keiner Fremdsteuerung und Erziehung“ (83)) und einer endlich „pädagogikfreien“ (51) Psychoanalyse. Denn die neue Zauberformel ist nicht minder überdehnt als die alte, nun regiert statt des Ödipuskomplexes die Schwarze Pädagogik, und Geschichte wie Gesellschaft bleiben neuerlich aus der Reflexion ausgesperrt.

Die Umkehrung der Schuldverhältnisse reicht die Erklärungsbedürftigkeit der ganzen Verstrickung lediglich von den Kindern an die Eltern weiter und verliert sie dort aus dem Blick.

Aber der Fortschritt kümmert sich wenig darum, daß er nicht einmal ignoriert wird. „Jede Bewegung (des Körpers) muß rein und glatt sein“ (ZG 41) und jede Bewegung im Kopfe „durch feste Consequenz gereinigt“ (167): Noch einmal Schreber, der Volkserzieher.

Er hat nicht nur die Weltordnung seiner Uhr in die Gehirne eingeprügelt, er hat auch die sogenannte schwedische Heilgymnastik, bei der die Kranken von Helfern bewegt werden, gereinigt zur sogenannten deutschen, einem „System der ... reinactiven Gymnastik“ (ZG 7). Jeder soll sie ausüben, oder: sich in sıe einüben, und dies so lange, bis auch die letzte Normabweichung sich geschlagen gibt. „Armwerfen vor- und rückwärts“ etwa „empfiehlt sich als Ermunterungsmittel bei jeder körperlichen oder geistigen Lassheit, die uns zuweilen, namentlich beim Wechsel der Witterung ... oder als Folge von jeweiliger Verstimmung des Unterleibs-Nervensystems ... zu beschleichen pflegt. Man vollführe dann die Bewegung, wo nötig 200-, 300-, 400-mal ..., so wird jeder endlich den Punkt erreichen, wo dieser lästige Feind besiegt ist“ (ZG 75) und der Leib sich zum Uhrperpentikel gereinigt hat. Wiederum wie auf dem Kasernenhof, wiederum wie am Fließband.

Die scheinbaren Extreme treffen sich. Je reiner — von Inhalt, Ziel und Zweck — Ordnung und Bewegung werden, desto unmittelbarer gehen sie ineinander über, reine Ordnung ist erstarrte reine Bewegung, reine Bewegung ist entfesselt reine Ordnung. Oder auch: Reine Vernunft ist reine Natur. Allerdings stehen die beiden Seiten nicht komplementär, der gemeinsame Imperativ „Reinheit“ gehört selbst auf die Seite der Bewegung, „Reinheit“ meint „Reinigung“, meint immer noch mehr Reinheit. Und dies um so dringlicher, je weniger noch zu reinigen ist. Weiningers Totenstarre ist nicht das letzte Wort der Weltgeschichte, auch über die reinste Ordnung drängt die noch reinere Bewegung hinweg. Sie hat sich dann auch „Die Bewegung“ genannt. Schreber senior hat etwas davon geahnt. Nimmt man sein Wüten gegen die Unreinheit als Indiz dafür, wie weit es mit seiner Reinheit her ist, dann kann er noch von seinen Beständen (an Unreinheit) zehren. Aber der Teppich unter den Füßen wird dünn, die „endgültige Vertilgung jeder Spur des Unreinen“ (145) ließe auch vom Reinen nichts mehr übrig:

„Zwar sind die unedlen (Keime) im Leben nie ganz zu unterdrücken, weil ihr oppositionelles Forthwirken nothwendig ist zur Erregung der immer höheren Entwicklung der edlen ...“ (23)

Aber? Kein aber. In lichten Momenten graut dem Fortschritt vor sich selbst. Dann bleibt ihm nur Zweierlei.

Bleibt ihm einmal die Hoffnung auf seine eigene Unabschließbarkeit: Auf der „vielleicht unendlichen Bahn des Weiter- und immer Weiterstrebens“ (17) wird „der Mensch — und wenn er Jahrhunderte lebte — nicht fertig, an sich zu arbeiten“ (23).

Bleibt ihm zum zweiten das Pfeifen im Walde:

„Also auf und vorwärts! Damit wieder ein ... lebens- und thatkräftiges Geschlecht erblühe, das seichte, matte und marklose Leben der Menschheit in freudiges Schaffen und Wirken sich verwandle!“ (306)

„Es gibt kein Verharren und Stillstehen. Die Parole lautet: ‚Vorwärts!‘“ und „bei uns wird der Mensch nie fertig. Nie!“ Das späte Echo stammt von Robert Ley, dem Propagandisten der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront. „Die Bewegung“ von morgen macht die Phrasen von gestern wahr.

Und zwischen gestern und morgen? Inzwischen wird ausgekämpft, welche Bewegung die Phrasen wahr macht. Die Generation nach Schreber hat genug vom ewigen und ewig uneingelösten Vorwärts-Geschrei ihrer Väter, sie gibt sich mit der reinen Bewegung der Worte nicht mehr zufrieden. Aber sie ist sich deshalb untereinander noch lange nicht einig, die einzelnen Bewegungsmodelle konkurrieren bis aufs Blut: Zur Generation nach Schreber gehören, grob gerechnet, E. v. Salomon und W. Rathenau. Salomon findet seine Bewegung im Krieg und dessen Legitimation im Staat, Rathenau, der Großindustrielle und -schriftsteller setzt auf die Bewegung der Produktion und allerlei rassentheoretische Philosopheme. Am 24. Juni 1922 wird Rathenau ermordet, Salomon gehört zum Mordkommando, hat aber selbst die Partie längst verloren.

Denn zur Generation nach Schreber gehören, grob gerechnet, auch Hitler und die seinen, und ihre „Bewegung“ bleibt erfolgreich, weil sie reinere Bewegung ist, weil sie auf jeden legitimatorischen Überbau verzichtet.

[1Die Krankenblätter hat F. Baumeyer in PSYCHE 9 (1955/55) publiziert (S. 513 ff.), Schrebers „Denkwürdigkeiten“ und das Gutachten seines Arztes zitiere ich nach der Ullstein-Ausgabe (1973) und gebe in der zweiten Klammer die Originalpagina.

[2„Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia“, 1911, in: S. Freud, Studienausgabe (Fischer), Band VII, S. 133 ff.

[3Schreber senior war ein erfolgreicher Vielschreiber. Ich ziehe zwei Schriften heran: „Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung normaler Körperbildung, lebenstüchtiger Gesundheit und geistiger Veredelung und insbesondere durch möglichste Benutzung specieller Erziehungsmittel“, Leipzig 1858 (zitiert nach Seitenzahlen); „Aerztliche Zimmergymnastik oder System der ohne Geräth und Beistand ausführbaren heilgymnastischen Freiübungen als Mittel der Gesundheit und Lebenstüchtigkeit für beide Geschlechter, jedes Alter und alle Gebrauchszwecke“, Leipzig 188621 (zitiert als ZG)

[4Detailhungrigen darf ich ausnahmsweise meine Rezension der Freud-Briefe an Fließ im vorigen FORVM (Heft 406-408) anempfehlen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1988
, Seite 12
Autor/inn/en:

Jürgen Langenbach:

Geboren 1950 in Lahr (Deutschland). Studierte Philosophie und Sozialwissenschaften in Freiburg im Breisgau und schloss 1980 seine Dissertation an der Uni Wien ab. Als Wissenschaftsjournalist arbeitete er u.a. für „Falter“ und „Standard“. Seit 2002 schreibt Langenbach für „Die Presse“ und ist auch als Buchautor tätig, unter anderem über den Philosophen Günther Anders.

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