FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1973 » No. 230/231
Alice Schwarzer (Übersetzung) • Susan Sontag

Männer als Kolonialherren
Frauen als Eingeborene

Zur Struktur des Sexismus

1 Biologie und Geschichte

Ohne Zweifel ist die Unterdrückung der Frau vorgeschichtlich und hat ihren Ursprung in gewissen Sitten, die ihr erlauben sollten, ihrer besondern biologischen Verantwortung — der Schwangerschaft — nachkommen zu können. Und wie auch immer die komplexeren Formen, die ihre Unterdrückung heute annimmt, aussehen mögen (psychologisch, ökonomisch, politisch, kulturell), sie alle führen auf diese biologische Arbeitsteilung zurück.

Aber diese spezifische biologische Rolle ist kein Beweis für einen fundamentalen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Die Untersuchungen der Vorgänge in der „Natur“ zeigen eher die Zerbrechlichkeit der These, die physiologische Funktion der Frau determiniere den Sinn ihres gesamten Lebens und setze ihrem Charakter, ihrer Psychologie enge Grenzen. Doch auch die physiologische „Natur“ ist keine unveränderliche Größe mit unveränderlichen Folgen. Auch sie ist Teil der Geschichte und entwickelt sich mit ihr. Wenn die Natur den Vorwand zur Unterwerfung der Frauen geliefert hat, so liefert die Geschichte jetzt die objektiven Bedingungen zu ihrer sozialen und psychischen Befreiung.

Mit der industriellen Revolution erschien die Frage der Sklavenschaft in einem neuen Licht. Man erfand Maschinen, die produktiver und wirksamer waren als nicht bezahlte Arbeiter. Es wurde also vernünftig, der legalen Knechtschaft ein Ende zu setzen. Heute sind wir an der entscheidenden Wende der ökologischen Umwälzungen (vermehrte Langlebigkeit, demographische Explosion, rapide Verarmung der Bodenschätze). Es wird nicht nur möglich, sondern unumgänglich, die Mehrheit der Frauen von dem größten Teil ihrer biologischen Verantwortung zu befreien.

Männer und Frauen sind der Unterdrückung anderer Menschen ausgesetzt. Aber man darf nicht vergessen, daß zusätzlich alle Frauen von allen Männern unterdrückt werden.

Die Herrschaft der Männer über die Frauen dient den Männern, und die Befreiung der Frauen wird folglich auf die Kosten der männlichen Privilegien gehen.

Einmal erreicht, werden vielleicht auch die Männer davon profitieren, das heißt, sie werden von der peniblen Pflicht befreit sein, ihre Virilität beweisen zu müssen. Aber daß den Unterdrückern auf diese Weise gestattet wird, die Bürde ihrer Verantwortung niederzulegen, kann nur ein Nebenaspekt der Befreiung sein, von der wir reden. Geht es nicht zunächst darum, die Unterdrückten zu befreien?

Es gibt in der Geschichte kein Beispiel dafür, wo die Forderungen der Unterdrücker und der Unterdrückten sich als vereinbar erwiesen hätten. Auch in diesem Fall ist nicht die Ausnahme von der Regel zu erwarten. Keine Frau entgeht einer Art von Imperialismus, in der die Männer die Rolle des Kolonialisten spielen und sie die des Eingeborenen.

Ein Programm, das auf die Befreiung der Frauen zielt, darf nicht auf der Suche nach Gleichheit basieren (das ist die liberale Illusion), sondern muß auf dem Konzept der Macht beruhen. Nur so können die Frauen einen großen Teil der von den Männern monopolisierten Macht wiederbekommen. In einer zweiten Phase muß die Beschaffenheit der Macht an sich verändert werden, da sie immer in einer „sexistischen“ Perspektive konzipiert war.

Der Aufruf der Frauen zur gemeinsarnen Sache mit den Männern bei der Frauenbefreiung bedeutet wieder einmal die Ignoranz der harten Realität der Machtbeziehungen, die jeden Dialog zwischen den Geschlechtern determinieren. Es ist nicht an den Frauen, die Männer zu befreien. Sie haben sich zunächst selbst zu befreien. Mögen die Frauen sich ändern — dann werden die Männer zur Veränderung gezwungen sein.

3 Beruf als Befreiungsschritt

Man muß damit rechnen, daß die meisten Frauen arbeiten möchten, daß sie — ob verheiratet oder ledig — wirtschaftlich unabhängig sein möchten wie die Männer. Ohne Berufsarbeit werden sie niemals die Bindungen, die sie an die Männer fesseln, sprengen. Die Arbeit ist die elementare, aber unerläßliche Voraussetzung zum Erwachsenwerden der Frauen. Wie soll eine Frau, die nicht arbeitet (oder deren Arbeit keinen vergleichbaren Wert mit der ihres Mannes hat), auch nur die geringste Chance haben zur Verfügung über ihr Leben und damit letztlich auch seine Veränderung.

Aber wenn eine Frau berufstätig ist, ist sie meistens weiterhin von Männern abhängig. Sie kann der anti-feministischen Struktur nicht entgehen. Die Arbeitsteilung unter dem sexistischen Aspekt bestätigt, ja verschlimmert den kolonialistischen Status der Frauen. Da sie in der Wirtschaft nur eine Zuschußfunktion haben, nehmen sie nicht gleichberechtigt an der modernen Arbeit teil. Solange Frauen nicht in alle von Männern gehaltene Arbeitsbereiche eingedrungen sind — unter gleichen Bedingungen in bezug auf Lohn, Aufwand, Risiko und Kompetenz — solange ist es schwierig zu behaupten, Frauen seien ökonomisch befreit.

4 Fragwürdige Sexrevolte

Die Vorstellung der sexuellen Befreiung scheint mir noch suspekter. Es ist klar, daß die alte Konzeption, nach der Frauen über weniger sexuelle Energie und weniger Lust verfügen (was zur Folge hat, daß man bei ihnen ein Benehmen verurteilt, das man beim Mann verzeiht) eine Art Bevormundung der Frauen darstellt. Aber das heißt nicht, daß die Forderung, Frauen müßten die gleichen Möglichkeiten haben, Erfahrungen zu machen, wie die Männer, ausreicht. Die Sexualität an sich ist noch immer ein Instrument der Repression. Die meisten der Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind nichts als die Zurschaustellung der überlieferten Vorstellungen, die die Unterdrückung der Frauen und die Perpetuierung der männlichen Privilegien rechtfertigen.

Es wäre ein Sieg ohne große Bedeutung, würde man erreichen, daß die Frauen nicht mehr unter der Verurteilung des Ausdrucks ihrer Lust leiden — solange diese sogenannte Möglichkeit, ihr Leben zu leben, nicht gleichzeitig die Liebesbeziehungen ändert, in denen die Frau immer noch Opfer ist. Die Sitten werden in der verstädterten und kapitalistischen Gesellschaft immer „lockerer“. In diesem Zuge können Frauen sich erlauben, ihre Sexualität außerhalb der Ehe zu leben. Aber diese angeblich freiere Sexualität spiegelt lediglich eine trügerische Konzeption der Freiheit, die für jeden die Ausbeutung oder Verleugnung seines Nächsten möglich macht.

Wenn wir nicht wollen, daß die sexuelle Befreiung ein Ziel ohne Sinn wird, müssen wir die Sexualität selbst neu definieren. Denn weder die sexuelle Betätigung an sich noch vermehrte Erfahrungen sind befreiend. Eine wirklich befreiende Ethik auf diesem Gebiet muß das Dogma der Vorrangigkeit der Heterosexualität (mit genitaler Zielsetzung) verwerfen. Eine nicht repressive Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der die Frauen auf der subjektiven und objektiven Ebene den Männern gleich sind, wird zwangsläufig eine „androgyne“ (doppelgeschlechtliche) Gesellschaft sein.

Zunächst muß die Unterscheidung in der Arbeitswelt beseitigt werden, dann mehr und mehr in den sexuellen Beziehungen. Ohne Zweifel wird man mit der Abschwächung der „anziehenden Ergänzung“ einen Teil der Gewalt der gegenseitigen Anziehung verlieren. Aber die körperliche Anziehung wird deswegen nicht verschwinden. Ebensowenig die Zweierbeziehung. Doch Männer und Frauen werden aufhören, sich unverzüglich wie sexuelle Partner zu betrachten. In einer nicht repressiven Gesellschaft wird die Sexualität dennoch eine wichtigere Rolle spielen, weil sie diffuser sein wird. Man wird der homosexuellen Verbindung eine vergleichbare Wichtigkeit mit der heterosexuellen Wahl zugestehen. Sie werden uns beide gleich respektierbar erscheinen — warum nicht? — weil sie auf einer authentischen Bisexualität beruhen. (Wir meinen damit, daß Homosexualität und Heterosexualität in ihrer Exklusivität nicht angeboren, sondern anerzogen sind. Sie werden als solche in einer nicht-sexistischen Gesellschaft einen Hang zur Auflösung haben.)

Unter einer anderen Perspektive betrachtet, würde die Sexualität in einer nicht repressiven Gesellschaft weniger wichtig sein: die sexuellen Beziehungen würden nicht mehr Gegenstand einer hysterischen Suche sein. Wenn man ihnen heute soviel Wichtigkeit zugesteht, dann auch, weil sie dazu dienen, die Abwesenheit einer authentischen Freiheit und anderer Annehmlichkeiten (Intimität, Zugehörigkeitsgefühl, Lebensintensität) zu vertuschen, die von dieser Gesellschaft der Frustration überlassen werden.

5 Frauenkampf und Klassenkampf

Zur angeblichen Stunde sehe ich kaum eine Beziehung zwischen Klassenkampf und Frauenkampf. Die revolutionäre Linke zielt einerseits auf den Umsturz einer Klasse durch eine andere innerhalb einer Nation, andererseits auf die Befreiung der kolonialisierten Völker von der imperialistischen Kontrolle. Diese Ziele betreffen die Frauen nicht in ihrer Eigenschaft als Frauen, da sie weder eine Klasse sind, noch eine Nation. Gewisse Frauen ziehen vor, in den revolutionären Bewegungen zu militieren und fürchten, an Prestige zu verlieren, wenn sie sich zum Frauenkampf gesellen. Sie müßten merken, daß die Programme, für die sie sich schlagen, den Frauen nur Verbesserungen reformistischen Typs und die vage Versprechung einer rein formellen „Gleichheit“ bringen.

Die Frauenbefreiung erfordert eine kulturelle Revolution, die die Lebens- und Denkgewohnheiten gründlich in Frage stellt, aber die Schaffung neuer ökonomischer Strukturen ist keine Garantie für die Beseitigung der Lebens- und Denkgewohnheiten. Doch auch wenn wir anerkennen, daß der Sozialismus nicht unvermeidlich zur Befreiung der Frauen führt, sehen wir, daß es nur in einer Gesellschaft, die wir in Ermangelung einer besseren Bezeichnung „sozialistisch“ nennen müssen, möglich ist, innerhalb der Institutionen neue Lebensformen zu erfinden und anzumelden, die die Befreiung der Frauen möglich machen.

Folglich haben die Feministinnen ein gewisses Interesse an der revolutionären sozialistischen Bewegung — auch wenn der Kampf zum Aufbau des Sozialismus und der Kampf um die weibliche Freiheit weit davon entfernt sind, identisch zu sein.

Die Tatsache, daß die Hausarbeit, die man als Frauenarbeit definiert, eine Sklavenarbeit ist und — im Unterschied zu der „draußen“ verrichteten Arbeit — nicht entlohnt ist, beweist noch nicht, daß die Frauen eine gesonderte Klasse sind. In ihrer Gesamtheit ist die Klassendefinition für Männer nicht zutreffender als für Frauen, die sich in die verschiedenen Klassen aufteilen. Als Ehefrauen, Schwestern und Töchter der Reichen nehmen sie an der Unterdrückung der Armen teil. Als Zugehörige zu einer Klasse unterdrückt eine Minorität von Frauen andere Frauen. Wir finden im Vokabular der sozialen Analyse keine Bezeichnung, die der Frauenunterdrückung genau entsprechen würde.

Zu allen Zeiten wurden die Frauen wie minderwertige Wesen behandelt. Sie waren politisch und kulturell immer nur Randerscheinungen (marginal). Mit der Unterdrückung der Frauen entdecken wir die fundamentalste repressive Struktur in den organisierten Gesellschaften. Das heißt, sie ist die älteste Form der Unterdrückung — vor aller Unterdrückung basierend auf einer Klasse, Kaste oder Rasse. Gleichzeitig ist sie die primitivste Form des hierarchischen Systems.

Ich bin davon überzeugt, daß der Faschismus weit davon entfernt ist, eine politische Irrung zu sein, die wie ein Unfall zu einer außergewöhnlichen Konstellation im Europa zwischen den Weltkriegen führte. Ich denke im Gegenteil, daß der Faschismus die wirkliche, die normale Natur des modernen Staatswesens ist. Alle entwickelten Industrieländer gehen in diese Richtung. Der Faschismus ist die natürliche Erfüllung der Werte des patriarchalischen Regimes, angewandt auf die Konditionen (und Kontradiktionen) der „Massen“gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Unter dieser Perspektive hatte Virginia Woolf recht, als sie in einem bemerkenswerten, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen Text mit dem Titel „Three Guineas“ versicherte: Der Kampf zur Befreiung der Frauen ist der Kampf gegen den Faschismus.

6 Provokation ist nötig

Sicher, 1972 können Frauen, die sich befreien wollen, hoffen, unter den linken Männer mehr Alliierte zu finden. Aber deshalb darf man nicht glauben, es reiche aus, in den existierenden revolutionären Organisationen zu militieren. Ich würde eher das Gegenteil sagen: An dem Punkt, wo wir angekommen sind, ist der Kampf mit den Männern gemeinsam weit davon entfernt, der für die Frauen prioritäre Kampf zu sein! Es ist heute in ihrem Interesse, zunächst in den feministischen Bewegungen zu kämpfen. Wenn Frauen in der augenblicklichen Situation ihrer politischen Unterentwicklung mit Männern (auch wenn sie verständnisvoll sind) an ihrer Befreiung arbeiten, kann das ihren Lernprozeß, der sie zur politischen Reife führen soll, nur bremsen.

Die integrierten Aktionen an der Seite der Männer beschneiden zwangsläufig die Entscheidungsfreiheit der Frauen und ihre Vorstellungskraft für neue Lösungen. Ihre einzige Chance, die so notwendige Erschütterung der üblichen Denkweise zu erreichen, liegt in den von ihnen allein geführten Aktionen. Die Denkweisen werden sich nur in der direkten Konfrontation ändern — wo ein Kompromiß nicht mehr möglich ist.

Gewisse Aufgaben und Aktionsformen können übrigens nur durch reine Gruppen erfüllt werden, die fähig und willens sind, ausreichend unterschiedliche und extreme Taktiken anzuwenden. An Beispielen für zu führende Aktionen mangelt es nicht:

  • Delegationen, Manifestationen und Lobbies organisieren;
  • Karateunterricht nehmen;
  • Männern auf der Straße nachpfeifen;
  • Kommandoattacken gegen Schönheitsinstitute führen;
  • Streikposten vor Spielzeugfabriken mit sexistischem Spielzeug stellen;
  • zum militanten Lesbianismus übertreten;
  • kostenlose Krankenhäuser und Abtreibungskliniken für Frauen eröffnen;
  • legale Schützenhilfe bei Scheidungen leisten;
  • Anti-Schmink-Zentren eröffnen;
  • seinen Mädchennamen wieder annehmen;
  • Reklamen, die Frauen benutzen und beleidigen, zerreißen;
  • öffentliche Veranstaltungen stören (zum Beispiel, in dem man Lieder zu Ehren der demütig-abwesenden Frauen der anwesenden Männer singt);
  • gegen die sogenannten Frauenzeitschriften angehen;
  • Schönheitswettbewerbe für Männer ausschreiben; .
  • Kandidatinnen zu allen Wahlen aufstellen;
  • und ichweißnichtwasnochalles.

Einzeln gesehen ist keine dieser Aktionen unbedingt notwendig, aber zusammen haben „extreme“ Aktionen einen Wert, weil sie den Frauen helfen, sich ihrer Probleme bewußt zu werden.

Ohne sich einschüchtern zu lassen von den sexistischen Klischees sollten die militanten Frauengruppen Aktionen wagen, die im totalen Gegensatz zur Stereotype der Weiblichkeit stehen. Je weniger sie sich um die guten Manieren kümmern, je mehr sie nach Sexisten-Maß hysterisch sind, um so wirksamer und politischer werden ihre Aktionen sein.

7 Familie als Gefängnis

Sicher ist die moderne Kernfamilie Teil der Unterdrückung der Frauen. Auch ist die Familie die erste sexistische Schule und ihr Unterricht ist auf der psychologischen Ebene besonders schwer bekämpfbar. Die Familie ist eine organisierte Institution, die von der Ausbeutung der Frauen als Vollzeit-Bewohnerinnen des Familienraumes ausgeht. Unter diesem Aspekt bedeutet eine außerhäusliche Arbeit der Frau geminderte Unterdrückung. Die Lohnarbeit nimmt ihr die Definition als ausschließliches Familienwesen. Doch niedergedrückt von den Familienaufgaben und den außerhäuslichen Pflichten kann sie nun noch mehr, kann sie doppelt ausgebeutet werden. Eine erste Unterdrückung der Frauen durch das Familienleben wird aufgehoben sein, wenn der Mann an allen Hausarbeiten teilnimmt. (Gleichzeitig wird es selbstverständlich sein, daß die Frau außerhäusliche Aktivitäten hat, die nichts mit der Familie zu tun haben.)

Eine reine Anpassung des Mannes wird nicht ausreichen: die Hausarbeit muß neu überdacht werden. Warum soll die Familie über sich selbst gebeugt bleiben! Ein großer Teil der Hausarbeit könnte wirksamer und angenehmer in einer Wohngemeinschaft verrichtet werden — wie es in den vorindustriellen Gesellschaften noch oft der Fall ist. Nichts würde einer Kollektivierung dieser Maschinen im Wege stehen, wenn das Ehepaar als Konsumeinheit nicht das oberste Prinzip dieser Gesellschaft wäre. Die Demokratisierung der Hausarbeit ist eine der notwendigen Etappen. Mit dem gleichen Schlag würden die Mauern eingerissen, die jede Familienzelle von der anderen trennen und isolieren. Das würde auch die psychologischen Spannungen zwischen den Mitgliedern einer zu engen Gruppe ans Licht bringen.

Die moderne Familienzelle ist eine Gefängniszelle mit repressiven Zügen auf der sexuellen Ebene. Ein Spielplatz ohne wirkliche Freude mit vagen Regeln. Der Bewahrer des Besitzinstinktes. Der Produzent des Schuldbewußtseins. Die Schule des Egoismus. Also der Ort der fatalen psychologischen und moralischen Konflikte.

Die Kernfamilie stellt als vollendete Erfindung der städtischen Industriegesellschaft die überflüssige Familie dar. Sie ist all ihrer ökonomischen, religiösen und erzieherischen Funktionen entkleidet und existiert nur noch als Zufluchtsort, als sentimentale Wärmequelle in einer vereisten Welt.

Sinn der modernen Familie ist die Manipulation ihrer Mitglieder — was aber nicht heißt, daß wir alles, was in ihr passiert, verwerfen könnten. Ohne Familienleben — selbst in dieser sichtlich verarmten Form, die wir heute kennen — liefen viele Menschen Gefahr, eine noch entfremdetere Existenz zu fristen.

Die Familie soll das Museum der Werte sein, die sich in der industriellen Massengesellschaft auflösen.

Man hört oft, die Familie müsse zerstört werden, da sie in ihrer Grundbeschaffenheit autoritär sei. Aber das ist zu einfach. Der zweifelhafteste Fehler der Familie ist nicht ihre autoritäre Beschaffenheit, sondern die Tatsache, daß ihre Autorität per se auf Besitz basiert: die Ehefrau gehört dem Mann, die Kinder gehören den Eltern.

Die Zerstörung des unterdrückenden Charakters der Familie ist allerdings nicht gleichzusetzen mit der Auflösung der Familie.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1973
, Seite 31
Autor/inn/en:

Alice Schwarzer:

32 Jahre alt, Journalistin, ledig, kein Kind. Lebte längere Zeit in Frankreich, jetzt in Berlin. Bücher: Frauenarbeit — Frauenbefreiung (ed. suhrkamp, DM 6); Frauen gegen § 218 (ed. suhrkamp, DM 5); Der kleine Unterschied und seine großen Folgen (Fischer Verlag, Frankfurt, DM 14,80; in Druck). Interviews mit Simone de Beauvoir im NF Februar 1972 und Kursbuch 35.

Susan Sontag: Wurde 1933 in New York geboren, wuchs auf in Arizona und Kalifornien. Studierte an der University of Chicago und an der Harvard Graduate School. Bereiste 1964 mit der Unterstützung der Rockefeller-Stiftung und 1965 mit Unterstützung der Merrill-Stiftung England und Frankreich. Lebt heute in Paris. Bisher bei Rowohlt erschienen „Der Wohltäter“ (1966), „Kunst und Antikunst“ (1968).

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