FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1965 » No. 138-139
Alfred M. Missong

E. K. Winter — Mitschöpfer der Zweiten Republik

(II.)

Für Winter war somit jeder gegebene Staat besser als der erst kommende, utopische, durch die Revolution erzeugte. Daß man durch politische auch soziale Revolutionen vorantreiben könne, sei ein verhängnisvoller Irrglaube der Sozialdemokratie. Es habe sich vielmehr erwiesen, daß politische Umstürze auf längere Sicht die größte Gefährdung der sozialen Errungenschaften bewirkten: „Je eingelebter und verpflichtender eine Rechtsordnung ist, um so eher ist die notwendige Umwälzung der Besitzverhältnisse zu erreichen ...“ [24]

Der scharfe ideologische Gegensatz, der trotz aller persönlichen Zuneigung zwischen Winter und Otto Bauer bestand, wird nicht an den sozialen und ökonomischen Forderungen, die beide gleichermaßen anmeldeten, sichtbar, sondern an dieser Frage der sozialen Revolution. [25] Winters Idee des Staates ist vom Rechtspositivismus Kelsens charakterisiert, während Bauer den Marx’schen Irrtum übernimmt, eine bestimmte historische Funktion des Staates — den Schutz der kapitalistischen Ausbeutung — mit dem Wesen des Staates schlechthin gleichzusetzen. [26]

Winter erblickt im Staat den notwendigen organischen Ausgleich der Interessen verschiedener Gesellschaftsgruppen; keine für sich allein, sondern erst ihre Gesamtheit mache den wirklichen Staat aus. Die Demokratie, vor allem die parlamentarische Demokratie der Republik Österreich, sei nur von der Idee des Proportionalismus her zu begreifen, die sich in der politischen Wirklichkeit als Technik des Kompromisses ausweise. [27]

Nicht zu Unrecht hielt Winter Seipel entgegen, daß in Österreich nicht etwa der Parlamentarismus versagt habe, sondern daß in Wahrheit ein Widerspruch bestand „zwischen der Staatsmitbegründung und der späteren Verneinung dieser Tatsache durch den politischen Katholizismus. Seipel und die Seinen haben sich selbst seinerzeit freiwillig auf den Boden der Grundidee der österreichischen Verfassung, des Proportionalismus, gestellt, in dem die selbstverständliche Führung des Staates durch die Mehrheit aufgewogen wird durch ein weitgehendes Mitbestimmungsrecht der Minderheit.“ [28]

Seipel hatte als Mitbegründer der Verfassung den Proportionalismus anerkannt. In seiner politischen Praxis wollte er jedoch auf die einseitige Durchsetzung seiner spezifischen Mehrheitsideen nicht verzichten. Nicht die Demokratie, sondern die Mehrheit hat in Österreich versagt. Gegenüber dieser von Winter festgestellten historischen Schuld der Mehrheit trat das kleinliche Interesse der Opposition ganz in den Hintergrund, welche an den Minderheitsvorteilen der Verfassung partizipieren wollte, ohne auch die Verantwortung einer qualifizierten Minderheit vor allem bei der Regierungsbildung tragen zu wollen. Die Ereignisse der Jahre 1933 und 1934 begriff Winter daher als logische Konsequenzen eines geistig längst antizipierten Verfassungsbruches.

Contra Dollfuß

Winter hatte in seinen Jugendjahren den Verrat am Kaiser, den für ihn die Rechte wie die Linke 1918 gleichermaßen begangen hatte, aus tiefster Überzeugung abgelehnt, der neuerstandenen Republik nur Hohn und Verachtung entgegengebracht: „Wir verneinen diesen freiwilligen Kadaverstaat, der kein geschichtlicher, kein sittlicher Organismus ist“, schrieb er noch 1922. [29] Dennoch war er einer der wenigen nichtsozialistischen Intellektuellen, der die „Selbstausschaltung des Parlaments“ durch Dollfuß am 15. März 1933 als das bezeichnete, was sie war: als nackten Verfassungsbruch, als Staatsstreich, „der vom Standpunkt der geschriebenen Verfassung ein Verbrechen“ [30] ist.

Trotz aller historischen Unterschiede sah Winter in den Vorgängen der Jahre 1918 und 1933 als wesentliche Parallele „das gleichartige Verhalten des politischen Katholizismus in beiden Fällen ... wie rasch beide Male die führenden Köpfe des politischen Katholizismus bereit waren, die bisherigen Rechtsgrundlagen, die sie doch beschworen hatten, preiszugeben, um ihr Interesse wahrzunehmen“. [31]

Die ideologischen Wurzeln dieses Verhaltens hatte Winter in seinen kritischen Untersuchungen bereits vor Jahren bloßgelegt.

In den entscheidenden Tagen des Jahres 1933 erblickte Winter seine Aufgabe nicht mehr in wissenschaftlicher Arbeit, sondern im persönlichen, unmittelbaren Dienst für den Staat, der zu zerbrechen drohte. In zwei offenen Briefen an Bundespräsident Miklas, vom 10. März und vom 1. April 1933, [32] beschwor er das Staatsoberhaupt, am Staatsstreich nicht mitschuldig zu werden. In diesen Briefen, die Winter sogleich in weiten Kreisen der Arbeiterschaft bekannt machten, verteidigte er den Anspruch der Sozialdemokratischen Partei, vom Volk ebenso wie vom Bundespräsidenten als Staatspartei anerkannt zu werden.

Vor dem kommenden Bürgerkrieg warnend, schrieb er:

Als katholischer Österreicher muß ich sagen: ich würde das österreichische Proletariat verachten, wenn es die Position im Staate, die es selbst geschaffen hat, nicht auch mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, verteidigen würde ... Wenn ich als bekanntermaßen konservativer Schriftsteller in dieser Frage mich auf die Seite des Sozialismus stelle, so aus einem tiefen Gerechtigkeitsgefühl, das die letzte Wurzel des konservativen Denkens ausmacht.

Die Abwehr des Staatsstreiches gehe in diesem Falle, so schreibt Winter weiter an Miklas, bis zur vollen Entfaltung des Widerstandsrechtes.

Winters Appell an den Bundespräsidenten blieb wirkungslos. Miklas ließ ihn durch seinen Kabinettsdirektor wissen, daß er seine Briefe „mit Aufmerksamkeit einer eingehenden Durchsicht unterzogen“ habe. Am faktischen Verlauf der tragischen Ereignisse vermochte dies nichts zu ändern. Winters historisches Verdienst liegt darin, daß er das katholisch-konservative Österreich vor dem pauschalen Vorwurf einer kollektiven Mitschuld am Austrofaschismus bewahrte.

Nation Österreich

Winter lebte weiterhin in bedrückender wirtschaftlicher Enge und führte einen zermürbenden Kampf um die physische Existenz seiner auf acht Köpfe angewachsenen Familie. Als Mitarbeiter an schweizerischen Zeitschriften und an den von Friedrich Wilhelm Förster in Deutschland herausgebrachten Publikationen verfügte er über das Notwendigste. Die erwähnte bescheidene Erbschaft gestattete 1933 die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, der „Wiener Politischen Blätter“. Winter folgte hier wieder dem Ruf seines politischen Gewissens und schuf sich ein publizistisches Organ, das den Kampf mit dem autoritären Regime aufnahm.

Die „Wiener Politischen Blätter“, die im wesentlichen von Winter allein geschrieben wurden und bis zum behördlichen Verbot im Herbst 1936 in freier Folge erschienen, sind ein Denkmal, an dem keiner, dem Österreichs jüngste Vergangenheit am Herzen liegt, achtlos vorbeigehen sollte.

Winter erhielt von keiner Seite für seine Zeitschrift finanzielle Unterstützung. An diesem Experiment, das ihm und seiner Familie nur finanzielle Lasten und persönliche Feindschaften eintrug, bewies er jenen heroischen Idealismus, dem auch seine schärfsten Gegner und Kritiker die gebührende Achtung nicht versagen konnten.

Nach dem Willen Winters sollten die „Wiener Politischen Blätter“ ein „Organ für die wissenschaftliche Klarstellung politischer Fragen“ sein, welches sich nicht an eine politische Partei, sondern an drei politische Gruppen wandte: an den am Staat orientierten Konservativismus, an den an der Kirche orientierten politischen Katholizismus und an den Marxismus.

In diesen drei Gruppen sah Winter die Bauelemente des österreichischen Staates, dessen Grundlage die Ablehnung des Anschlusses an Deutschland und füglich die Anerkennung der österreichischen Nation sein müsse. „Österreich wird diese geschichtliche Aufgabe, die es Europa und Deutschland gegenüber bindet, am besten lösen, wenn es in der europäischen Blockbildung ein neutraler Staat bleibt ...“ [33]

Winters Ziel war, das religiöse, das konservative und das sozialistische Element in einem gemeinsamen nationalen Bewußtsein zu vereinen, um Österreich vor dem inneren Zerfall und dem Zugriff des nationalsozialistischen deutschen Imperialismus zu bewahren.

Nur das Bewußtsein, einer der wenigen unabhängigen Menschen zu sein, die sich keinem Terror beugen, gab die Kraft, diesen Weg zu beschreiten. Auch wer ihn heute noch als überflüssig erkennen möchte, wird sehr bald vielleicht schon einsehen, daß es nicht ohne tiefere Bedeutung ist, wenn in diesen Tagen ein überzeugter Katholik und Konservativer sich offen für eine gerechte und staatskluge Bewertung auch des Marxismus einsetzt. Selbst wer hier nicht mitkommt, sollte nicht bestreiten, daß man auch aus tiefer und echter Überzeugung so handeln kann, vor allem aber, daß der Staat, der das Erbe der Väter ist, das wir nach bestem Gewissen zu verwalten haben, und der den Konservativismus, den politischen Katholizismus und den Marxismus einschließt, eine geistige Plattform über diesen Gruppen, die ihnen dennoch allen gerecht wird, in allerletzter Stunde nötig hat. [34]

Nur die völlige Verblendung, in der sich Dollfuß befand, macht es verständlich, daß diese Ermahnungen zur Eintracht vom Zensor beanstandet wurden. Bereits die erste Nummer der „Wiener Politischen Blätter“ wurde am Tag vor ihrem Erscheinen konfisziert.

Winters persönliche Tragik, im Scheitern jeweils recht zu behalten, übertrug sich auf seine Werke. Seine philosophischen Studien wurden kaum beachtet, seine historischen Werke bald vergessen. Seine politischen Aufsätze wie auch die Bücher verfielen häufig der Acht irgendeines kleinlichen Polizeibürokraten, dem die Macht verliehen war, darüber zu befinden, was für den Staat gefährlich sei.

Nach dem Februar 1934 war der eine Partner des österreichischen Dialogs zwischen Rechts und Links, den Winter vorbereiten wollte, von der politischen Bühne verbannt. Die Führer der Arbeiterschaft, soweit ihnen nicht die Flucht ins Ausland gelang, saßen hinter Gefängnismauern. Winter hielt Dollfuß immerhin den ehrlichen Glauben zugute, daß die soziale Frage auf berufsständische Weise lösbar sei. Überdies gab es für Winter immer noch den österreichischen Staat, der von außen tödlich bedroht war und für den sich weiterer Dienst lohnte.

Nachdem der Bürgerkrieg eine restitutio in integrum der linken Kräfte im Staat unmöglich gemacht hatte, wollte Winter eine neue Arbeiterbewegung auf dem Boden der vom Staat geschaffenen Gewerkschaftsorganisation schaffen und die Arbeiterschaft solcherart allmählich wieder an der politischen Gestaltung des Staates teilnehmen lassen. Bereits wenige Wochen nach dem 12. Februar 1934 verfaßte Winter im „Arbeitersonntag“ jene Leitartikel, die der Ausgangspunkt der „Aktion Winter“ wurden. Am 6. April 1934 übernahm er, von Dollfuß beauftragt, die Funktion eines dritten Vizebürgermeisters in Wien, um mit offizieller Legitimation die Verständigung von rechts nach links einzuleiten.

In den Volksbildungshäusern Ottakring und Margareten hielt der neue Vizebürgermeister eine große Zahl von Vorträgen, die sich größter Beliebtheit bei den Arbeitern erfreuten. Die Loyalität des Vortragenden stand außer Zweifel. Bei ihm handelte es sich um keine Marionette der Regierung Dollfuß, sondern um einen aufrechten Einzelgänger, der den Geschlagenen einen neuen Zugang zum neuen Staat eröffnen wollte.

Wer noch Schlimmeres — nämlich die Erscheinung des Antichrist — verhindern wolle, habe die Verpflichtung, am Staat auch nach 1934 mitzuarbeiten! Letztlich hänge es von der Arbeiterschaft selbst ab, wie dieser neue Staat aussehen werde! So lauteten die Thesen, die Winter vor den geschlagenen Arbeitern Wiens verkündete.

Linke Konservative und rechte Sozialisten verbanden sich in der „Aktion Winter“, um die zerstörte Arbeiterpartei zu vertreten. Die „Aktion“ verkündete statt der „Vaterländischen Front“ die „Österreichische Front“ von rechts bis links gegen die gemeinsame nationalsozialistische Gefahr und veröffentlichte im September 1934 ein zehn Punkte umfassendes Programm. [35] „Für ein freies, unabhängiges Österreich“ lautete der erste Punkt, dem sich die Forderung nach Gleichberechtigung der Arbeiterschaft und Schaffung einer einheitlichen Arbeiterbewegung anschloß. Das Programm verlangte u.a. auch die „planwirtschaftliche Organisation der gesamten Volkswirtschaft“ (Punkt 8) und bekannte sich damit offen zu sozialistischen Grundsätzen, wie sie mit solcher Eindeutigkeit heute von der Sozialistischen Partei Österreichs wohl gar nicht mehr vertreten werden.

Als Vizebürgermeister versuchte Winter zu helfen, wo immer es ihm möglich war. Täglich wurde er aus Arbeiterkreisen mit Bitten überhäuft. Nach der Zerschlagung des sozialistischen Parteiapparates und der Eliminierung der Sozialisten aus dem Wiener Rathaus war Winter die einzige legale Stelle, an die sich viele Hilfesuchende wenden konnten.

Der völlig harmlose ehemalige Schutzbündler Josef Gerl wurde 1934 nach dem Sprengstoffgesetz wegen bloßen Besitzes von Sprengstoff zum Tode verurteilt. Winter versuchte verzweifelt, durch persönliche Interventionen bei Dollfuß die Exekution Gerls zu verhindern. Dollfuß ließ Winter im Bundeskanzleramt so lange warten, bis die Exekution durchgeführt war. Auf Winters schwere Vorwürfe entgegnete Dollfuß unter Berufung auf staatspolitische Notwendigkeiten wörtlich: „Wir können Gott danken, daß es ein Roter, kein Nazi, war, gegen den wir das neue Gesetz zuerst anwenden mußten.“ [36]

So geschehen am 24. Juli 1934. Tags darauf fiel Dollfuß der Kugel eines Nazimörders zum Opfer. „Der Nationalsozialismus, den er im Sinne des Seipel’schen Antimarxismus dem ‚Bolschewismus‘ vorzog, meuchelte ihn.“ [37]

Die Angst vor dem sozialistischen Klassengegner ließ Dollfuß die echten Gefahren nicht erkennen. Sein Versuch, das deutsche Beispiel mit österreichischen Mitteln zu kopieren, erwies sich als ein historisches Intermezzo, das kraft innerer Logik mit Hitlers Einmarsch abschloß. Österreich ging am „deutschen Macht- und Gewaltstaatsgedanken in der spezifisch neudeutschen Methodik von Blut und Eisen“ [38] zugrunde.

Winters Bemühungen um Verständigung zwischen Arbeitern und Regierung mußten solcherart aussichtslos bleiben. Schuschnigg schränkte Winters Freiheit weiter ein. Seine Versammlungen wurden immer häufiger aufgelöst, seine Aufsätze in der „Aktion“ wurden oft konfisziert, so daß er die Konsequenzen ziehen mußte und seine Tätigkeit in der „Aktion“ im Juni 1935 einstellte. Die „Aktion“, ihres geistigen Führers beraubt, wurde unmittelbar darauf polizeilich verboten.

Winter, dem nun jede unmittelbare Einflußmöglichkeit auf den Lauf der Dinge in Österreich genommen war, zog sich auf seine schriftstellerische Arbeit in den „Wiener Politischen Blättern“ zurück. Eine Fülle brillanter Aufsätze und Studien über ideologische und aktuell-politische Fragen entstammen dieser Zeit. Heute, dreißig Jahre später, hat sich deren Wert kaum verringert. Was Winter damals über „Christentum und Sozialismus“, die „Judenfrage“, den „Anschluß“ und den „Neoliberalismus“ schrieb, würde einen Ehrenplatz im vaterländischen Stammbuch der jungen Generation Österreichs verdienen.

Finis Austriae

Die Kehrtwendung in Schuschniggs außenpolitischer Orientierung durch das Abkommen mit Deutschland vom 11. Juli 1936 war für Winter das letzte Signal zum Kampf für die Unabhängigkeit Österreichs.

Nach unserer Auffassung ist der 11. Juli 1936, falls es bei ihm bleibt, der entscheidendste Tag der österreichischen Geschichte seit dem 12. November 1918 ... Das österreichische Volk wird aus der politischen Apathie, in die es versunken ist, in den nächsten Monaten überraschend erwachen. Die politischen Kräfte in diesem Land rüsten sich zum letzten Absprung ... entweder finis Austriae, der Untergang Österreichs im Dritten Reich, oder eine nova creatura, eine Neuschöpfung Österreichs, durch die wir der Mittelpunkt des Weltkampfes gegen das Dritte Reich werden. Tertium non datur! [39]

Nach Winters Auffassung trug eine bestimmte Spielart des österreichischen Katholizismus — der deutschnationale — die historische Hauptschuld daran, daß die Widerstandskräfte gegen den Anschluß erlahmten. Diese Katholiken hätten einen bestimmten Ausschnitt aus der österreichischen Geschichte — die Situation der karolingischen Ostmark — zu einer eigenen Ostmarkideologie hypostasiert, welche sich mit einer „Reichsmystik kombiniert, die aus einem mißverstandenen Mittelalter das ewige Recht der ‚Deutschen‘ auf das ‚Reich‘ ableitet und an ein katholisches Imperium mit der Achse Köln—München—Wien denkt“. [40]

Durchaus folgerichtig stellt Winter fest, daß, wer Österreich als „deutschen Staat“ betrachtet und vom „deutschen Volk in Österreich“ spricht, früher oder später auch den österreichischen Staat negieren muß.

Schuschnigg selbst war ein Beispiel für diesen deutschnationalen Katholizismus. „Neben dem gefühlsmäßigen Österreichertum ist es die nationale Ideologie, die Schuschnigg, den Sohn eines Tiroler Offiziers aus slowenischer Sippe, immer am stärksten bestimmte, die Ostmarkideologie, die ihn an die ‚Deutschheit‘ Adolf Hitlers glauben läßt.“ [41] Für Seipel, Dollfuß und Schuschnigg war die Zwangsvorstellung des Antimarxismus, als Mittel zur Abwehr der „Weltgefahr des Bolschewismus“, gleichermaßen entscheidend. Was Seipel mit der verhängnisvollen Formel „Nichts ohne Deutschland“ begonnen hatte, fand mit dem Juliabkommen 1936 seinen vorläufigen Abschluß: das Österreichische Volk in deutscher Vasallität als künftiges Kanonenfutter imperialer Aspirationen Hitlers.

Das letzte Kapitel der Psychopathologie der Ersten Republik hatte mit dem Juliabkommen begonnen, das für Winter ideologisch in die kompromißbereite Staatsphilosophie des „si ma no“ gehörte. Als Antwort auf diese Herausforderung Schuschniggs spielte Winter „die letzte Karte“ aus: die „Österreichische Volksfront“, die unter der Parole einer „Volksmonarchischen Aktion“ so weit gefaßt werden sollte, daß sie von allen Gruppen, die gegen den Nationalsozialismus kämpften, unbeschadet deren ideologischer Bekenntnisse, hätte bejaht werden können.

Die von Winter formulierten Volksfrontparolen „Für die Unabhängigkeit Österreichs — Für die Freiheit der menschlichen Person — Für die Kooperation der Nachfolgestaaten im Donauraum — Gegen die Vorherrschaft Deutschlands in Südosteuropa“ gingen von der Erkenntnis aus, daß es für den österreichischen Sozialismus nach dem Juliabkommen nur mehr zwei Möglichkeiten gab: „entweder die Katastrophentheorie, die vermessenerweise von dem zweiten Weltkrieg den Anbruch des Sozialismus erwartet, den Nationalsozialismus als unvermeidlich ansieht, ihm sogar eine historische Funktion (Kampf gegen Pfaffen und Juden) zumißt, oder aber die bewußte und planmäßige Mitarbeit an der Aufrichtung einer Volksfront gegen den Nationalsozialismus, die, wie die Dinge in Österreich konkret liegen, nur auf monarchisch-legitimistischer Basis möglich ist“. [42]

Die Restauration der Monarchie war für Winter kein Selbstzweck, sondern das einzige Mittel, die Volksfront aller antinationalsozialistischen Kräfte für den Kampf gegen Hitler zu mobilisieren. Vor dem Juliabkommen dachte Winter nicht an eine Rückberufung der Habsburger, sondern appellierte an die Sozialisten, im Staat nach 1934 neue Positionen zu erringen. Otto Bauer hatte dergleichen Ansinnen in der Brünner Emigration abgelehnt und die Wiedereinsetzung der Sozialdemokratischen Partei in ihre alten Rechte verlangt.

Die „Volksmonarchische Einheitsfront“ wies Otto Bauer im „Kampf“, September 1936, mit folgenden Worten zurück:

Wir lehnen die legitimistische Front Ernst Karl Winters unbedingt ab ... Was braucht die Arbeiterklasse zunächst und am allerdringendsten, um ihre Interessen wirksam verteidigen zu können? Sie braucht ein gewisses Mindestmaß an Freiheit — an Organisationsfreiheit und an Gesinnungsfreiheit. Was wir zunächst fordern und erkämpfen müssen ... das ist nicht einmal die Legalisierung der sozialistischen Parteien; eine vom Faschismus konzessionierte sozialistische Partei könnte die sozialistische Idee nur kompromittieren. Das Dringendste, Unentbehrlichste, das zunächst erkämpft werden muß, ist vielmehr: daß die Arbeiter ihre Vertrauensmänner in den Betrieben wieder wählen können; daß sie ihre Gewerkschaften frei verwalten, die Gewerkschaftsfunktionäre frei wählen, die Gewerkschaften frei nach ihren Bedürfnissen einrichten können ...

Bitter kommentierte Winter: „Im Grunde fordert Bauer heute das, was wir vor drei Jahren gefordert haben; vielleicht werden, wenn nicht er selbst, so seine Freunde in drei Jahren fordern, was wir heute fordern!“

Es mag heute müßig erscheinen, sich Spekulationen darüber hinzugeben, was geschehen wäre, wenn Winters Vorschläge Verwirklichung gefunden hätten. Eines aber ist außer Streit: daß sich Winters Analysen der Gegenwart und seine Perspektiven der Zukunft im katastrophalen Lauf der Ereignisse bewahrheitet haben. Einer österreichischen Politik, die sich selbst im fortgeschrittenen Stadium des Jahres 1936 an Winters Ideen orientiert hätte, wäre zumindest der unwürdige Untergang erspart geblieben.

Ernte in der Emigration

Als die deutschen Truppen im März 1938 in Österreich einzogen, war Winter noch in Österreich. Als Wallfahrer suchte er sich dem Zugriff der Nazi zu entziehen. Er verabschiedete sich von seiner österreichischen Heimat, indem er ihren Heiligen die Reverenz erwies. Auf seiner Fahrt westwärts in die Schweiz besuchte er zuerst die Reliquien seines Schutzpatrons, St. Ernestus, in der Salzburger Dreifaltigkeitskirche, dann die Stätten jener Heiligen, die ihm persönlich besonders nahestanden; St. Erentrud auf dem Nonnberg, St. Nothburga in Eben am Achensee, St. Pirmin in der Innsbrucker Jesuitenkirche, St. Fidelis von Sigmaringen, dessen Haupt die Kapuziner in Feldkirch hüten.

Nach 17jähriger Emigration aus Amerika nach Österreich zurückgekehrt, legte Winter diese Wallfahrt in umgekehrter Reihenfolge wieder zurück.

Die Jahre in der amerikanischen Emigration, wo er, was ihm in Österreich nie gelang, als Universitätsprofessor für Soziologie und Sozialphilosophie wirken konnte, waren besonders reich an geistigem Wachstum und an Produktion. Er selbst bezeichnete diesen Lebensabschnitt als die Erntezeit, religionsphilosophische und religionssoziologische Beschäftigung mit den beiden Testamenten, mit der Frühgeschichte der Kirche und der christlichen Theologie nahmen nun die erste Stelle ein. Ein noch ungehobener Schatz nichtveröffentlichter Studien über diese Fragen fand sich im Nachlaß des Verstorbenen.

Winter vollzog in der Blüte seines Lebens im Zeichen von Platon, Augustinus und Kant die Wendung vom jugendlichen vorkritischen Integralismus und Legitimismus zum kritischen Denken. In seiner Gipfelperiode erfüllte er eine große historische Funktion zugunsten von Österreichs Staat und Kultur. Nun erfuhr dieses Leben seine Erfüllung in der wissenschaftlichen und spekulativen Rückkehr zu Gott und den Heiligen.

Der Austria sancta galten Winters letzte Jahre. In ihnen entstand sein letztes großes Werk, die umfassende Studie über den heiligen Severin, [43] mit dem bezeichnenden Untertitel „Der Heilige zwischen Ost und West“. Das Bild des heiligen Severin diente Winter als Kompaß, „um in sicherer Fahrtrichtung durch das vergängliche Vaterland hindurch dem himmlischen entgegenzusteuern“. [44]

Winters Severinbuch ist keine der üblichen Heiligenlegenden mit etwas wissenschaftlichem Aufputz. Die Arbeit über den Heiligen, Diplomaten und Politiker aus Österreichs Frühgeschichte geht von der Hypothese aus, daß Severin im Wiener Raum lebte und in Heiligenstadt — Favianis? — begraben wurde, ist aber, neben einer Fülle historischer und archäologischer Erkenntnisse, in Wahrheit eine Kulturgeschichte Österreichs.

„St. Severin“ enthält das geistige Modell, an dem der Religionssoziologe und Geschichtsphilosoph eine österreichische Geschichtsauffassung demonstriert, die in bewußtem Gegensatz zu herkömmlichen akademischen Axiomen Österreich nicht als eine germanische Provinz, sondern als eine national und kulturell eigenständige Größe versteht. Der Heilige wird als geistlicher Vater Österreichs vorgestellt, der in einer historischen Situation, die der unseren gleicht, den römischen Limes im Wiener Raum, die mittelländische Zivilisation, gegen den Einbruch der Barbaren mit spirituellen Mitteln schützte.

Heiliger zwischen Ost und West

Winter schlägt in großem geistigem Bogen die Brücke von Byzanz zur Gegenwart:

Das Ganze war nahezu dieselbe Situation in immer neuer Auflage, wie sie sich nicht anders aus dem Zusammenbruch einer tausendjährigen Weltordnung für fast alle Völker der Welt in unserer Zivilisation ergeben hat, in dem daher unzulänglich Vorbereitete die alten Aufgaben übernehmen müssen. In den beiden Weltkriegen ist zuerst das östliche, deutsche, österreichische und russische Herrschaftssystem zusammengebrochen, nachher das westliche, französische, britische und amerikanische in seinen Voraussetzungen ganz wesentlich verändert worden (der russische Zarismus und der amerikanische Kapitalismus freilich nur, um in veränderter Form aufzuerstehen). Keinem Reich blieb das byzantinische Schicksal erspart; wenige haben es mit byzantinischer Weisheit durchgestanden. [45]

Die Hagiographie St. Severins ist Winters reifstes Werk. Es ist das geistige Vermächtnis, das der aus Amerika Zurückgekehrte seiner österreichischen Heimat noch knapp vor seinem Tode anvertraute; in ihm setzt sich der Verfasser zum letztenmal mit den entscheidenden Fragen Österreichs auseinander, die er im Geiste des „Heiligen zwischen Ost und West“ lösen will.

Winters globale Interpretation St. Severins enthält Darlegungen über die Idee der christlichen Zivilisation, über die Katastrophenmystik in der Geschichtsphilosophie, über den Mythos der germanischen Rasse und die Realität des christlichen Genius (dargestellt an einer Kritik des Tacitus und Eugippius), berührt auf ausführliche Weise auch Fragen des Wissenschaftsbetriebes unserer Hochschulen und die Problematik der Universitätsautonomie.

Winter plädiert in diesem Zusammenhang für die Idee der staatspolitischen Erziehung der Jugend auch durch die Wissenschaften auf akademischem Boden: „Wenn den Vertretern des österreichischen Staatsinteresses beider Parteien die Autonomie der Wissenschaft, die Automatik der Wirtschaft, die ‚deutsche Kulturgemeinschaft‘, die ‚Europäische Integration‘, die Atomenergie, die Weltraumschifffahrt wichtiger sind, als die österreichische Geschichte in Staat, Volk und Jugend — werden sie ernten, was sie nicht gesät haben.“ [46] Die historische Aufgabe Österreichs zwischen den Weltfronten könne nur erfüllt werden, wenn der Staat auf einem festen politischen und geistigen Fundament ruhe. Die Zusammenordnung der beiden sozialen Hemisphären, der linken wie der rechten, sei eine Lebensnotwendigkeit für diesen Staat. Dies müsse sich besonders auch auf die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften beziehen. Um Konservativismus und Sozialismus als unzertrennliche Staatsideologien zusammenzubringen und zusammenzuhalten, sei eine „große Koalition“ in der Regierung nicht ausreichend.

Diese staatspolitische Aufgabe könne nur innerhalb der Wissenschaften wahrgenommen werden, die sich deshalb zuerst ihrer Verpflichtung dem konkreten Staat gegenüber bewußt werden müßten:

In dieser Situation ist die deutsche Geschichtsauffassung, kleindeutsch oder großdeutsch, gesamtdeutsch, christlich-deutsch oder europäisch-deutsch, jedenfalls im Sinne einer deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft ... noch immer die unmittelbarste Gefahr für Österreich, deren Auswirkungen bis in die entlegensten Bereiche der Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften hineinreichen ... Man wird nach anderen Mitteln Ausschau halten müssen, wenn man den Gefahren begegnen will, in deren Mitte der österreichische Staat heute steht: der russischen Gefahr, die massiv genug ist, daß sie alle sehen; der amerikanischen Gefahr, die subtil genug ist, daß sie nur wenige sehen; der deutschen Gefahr, auf deren Stechschritt man immer rechnen kann, so daß sie im Ernstfall alle sehen; weiters der europäischen Gefahr, die daher von den klügeren Deutschen vorgeschickt wird, damit sie niemand sehe; nicht zuletzt der österreichischen Gefahr selbst, die in der Entspiritualisierung, Entideologisierung, Entösterreicherung des österreichischen Volkes liegt. [47]

Der christlichen Zivilisation, der christlichen Ökumene und dem österreichischen Volk, in das er hineingeboren wurde, zu dienen, war Winters Lebensaufgabe. St. Severin führte ihn von Amerika über den Atlantik zurück nach Wien — St. Severin sollte seine letzte Mission sein.

Nach den letzten Korrekturen an diesem Werk starb Winter am 4. Februar 1959. Ein schlichtes Holzkreuz auf dem Gersthofer Friedhof in Wien ist Symbol für sein Leben:

Ein einfaches Leben auch in großen Dingen — ein einfaches, natürliches, bescheidenes, gelassenes Leben gerade in der modernen Zivilisation, inmitten der Güterfülle unserer Zeit, die mehr denn jemals in ihrer Substanz aus Scheingütern besteht — ein ‚mönchisches‘, ‚asketisches‘, ‚mystisches‘ Leben, nicht freilich im Sinne des Verzichtes auf die Welt und ihre Aufgaben, sondern im Sinne der geistigen Herrschaft über sie, der Gestaltung im Kleinen und der Erfüllung im Großen, der Verwurzelung in Gott und seinen Plänen auch in Ehe, Familie, Beruf, Wissenschaft, Staat und zivilisatorischer Leistung. [48]

[24Ernst Karl Winter: Arbeiterschaft und Staat, Wien 1934.

[25Otto Bauer vertrat im Gegensatz zu E. K. Winter die Theorie, daß die politische Revolution die Voraussetzung der sozialen Revolution bilde. Vgl. Otto Bauer: Der Weg zum Sozialismus, Wien 1919.

[26Ausführlich setzt sich damit Norbert Leser in seinen Essays „Begegnung und Auftrag“, Europa Verlag, Wien 1963, S. 58 ff., auseinander.

[27Hans Kelsen weist in seiner Studie „Das Majoritätsprinzip“ überzeugend nach, daß „das ganze parlamentarische Verfahren ... auf die Erzielung eines Kompromisses gerichtet ist“ („Vom Wesen und Wert der Demokratie“, 2. Aufl. 1929, Neudruck Aalen 1963, S. 53 ff.).

[28Ernst Karl Winter: Die Staatskrise in Österreich, „Wiener Politische Blätter“, 19. April 1933, S. 23.

[29Ernst Karl Winter: Austria Erit In Orbe Ultimo, Wien 1922, S. 74.

[30Die Staatskrise in Österreich, S. 28.

[31A.a.O., S. 31.

[32Die zwei Briefe sind wertvolle zeitgeschichtliche Dokumente. Winter hatte sie verschiedenen Redaktionen rechts- und linksstehender Zeitungen übersandt, jedoch nur die „Arbeiter-Zeitung“ vom 12. März und vom 2. April 1933 brachte Auszüge. Winter veröffentlichte sie schließlich vollinhaltlich in der ersten Nummer seiner „Wiener Politischen Blätter“ vom 16. April 1933.

[33Ernst Karl Winter: Was wir wollen, „Wiener Politische Blätter“, 16. April 1933, S. 8.

[34A.a.O., S. 10.

[35Die „Aktion Winter“ hatte ein eigenes Organ, die „Aktion“, die in Nr. 1 vom 14. September 1934 dieses Programm enthielt. Die „Aktion“ wurde häufig konfisziert, obwohl ihr das autoritäre Regime oft die Freiheit gab, die sie sich selbst nahm. Nach der Ermordung Dollfuß’ am 25. Juli 1934 setzte die „Aktion Winter“ ihre Arbeit unter dem Namen „Österreichische Arbeiteraktion“ fort.

[36Christentum und Zivilisation, S. 384.

[37Ernst Karl Winter: Monarchie und Arbeiterschaft, Beihefte zu den „Wiener Politischen Blättern“ Nr. 1, 1. Oktober 1936, S. 11.

[38Ernst Karl Winter: Die österreichische Idee, „Wiener Politische Blätter“, 27. August 1933, S. 109.

[39Monarchie und Arbeiterschaft, S. 4.

[40A.a.O., S. 5.

[41A.a.O., S. 10.

[42A.a.O., S. 14.

[43Ernst Karl Winter und Klemens Kramert: St. Severin, Klosterneuburg 1958.

[44A.a.O., S. 149.

[45A.a.O., S. 198.

[46A.a.O., 2. Band, S, 421.

[47A.a.O., S. 418 f.

[48A.a.O., S. 385.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1965
, Seite 307
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Alfred M. Missong:

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