FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 122
Kurt Skalnik

Dollfuß war zur Machtprobe entschlossen

I.

Die Frage gilt der „Alleinschuld, der Hauptschuld oder der größeren Schuld am Ausbruch des unseligen Bruderkrieges vom Februar 1934“. Hier muß jeder Historiker, der die Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Forschung der letzten Jahrzehnte nicht ignoriert, zu der Erkenntnis gelangen, daß die Regierung Dollfuß nicht zuletzt in einer höchst unglücklichen außenpolitischen Konstellation (Mussolini war von den Westmächten gleichsam zum „Gendarmen“ für Österreichs Selbständigkeit bestellt worden, er forderte für die Erfüllung dieser Aufgabe aber eine „Angleichung“ der österreichischen Innenpolitik an das politische System seines Landes) am Vorabend des 12. Februar entschlossen war, die Macht der österreichischen Sozialdemokratie zu brechen. Die einstmals sehr selbstbewußte, ja mitunter auch selbstherrliche Führung des österreichischen Sozialismus stand beim Jahreswechsel 1933/34 bereits mit dem Rücken zur Wand. Die Waffensuche durch die Exekutive (nach 1919 hatten alle politischen Lager einvernehmlich Waffen vor dem drohenden Zugriff der Siegermächte verborgen) war dazu angetan, einmal Widerstand auszulösen. Und dann konnte „an die Arbeit gegangen und ganze Arbeit geleistet werden“ (Fey).

Radikale Kräfte im Sozialismus „spielten dabei mit“. Wie man weiß, kündigte der Linzer Schutzbundführer Bernaschek noch vor der bekannten, vielzitierten Rede Feys an, wenn im Linzer Arbeiterheim eine Hausdurchsuchung stattfinden sollte, werde bewaffneter Widerstand geleistet werden. Unter Berücksichtigung dieser Sachlage soll auch die nichtsozialistische Historiographie und Publizistik heute, wenn sie nicht nur Apologie betreiben will, ruhig zugeben, daß 1934 die Rechte (damals wie heute ein vieldeutiger Begriff) eine größere Schuld am Ausbruch des Bürgerkrieges zu verantworten hat. Am Ausbruch wohlgemerkt!

Fragt man nach den Ursachen, so kommt die Waage wieder ins Lot. Über der Feststellung, daß der Sozialdemokratie am 12. Februar 1934 Unrecht geschehen ist, braucht nicht vergessen zu werden, daß von ihr und ihrer Gefolgschaft selbst im Laufe der frühen Geschichte der Republik Unrecht und Gewalt gesetzt worden sind. Es soll und kann hier nicht ein „Lasterkatalog“ für die Gewalttaten aller politischen Lager in der Ersten Republik aufgestellt werden, eine historische Untersuchung über die Rolle der Gewalt in der Politik von 1918 bis 1938 sei aber angeregt. In dieser Untersuchung wird dann aber auch über den Terror zu lesen sein, der unter der Fahne des österreichischen Sozialismus nach 1918 z.B. die Industriestädte am Steinfeld erschütterte, und auch die Anschläge auf das Leben eines so einwandfreien Demokraten wie Leopold Kunschak (Leopold Kunschak, Steinchen vom Wege, S. 77) werden nicht fehlen. Es wurde viel Wind gesät, auch von Sozialisten.

Kardinal König wußte schon, warum er in seiner vielbeachteten Neujahrsansprache 1964 den Bürgerkrieg 1934 mit dem flammenden Ausbruch eines schwelenden Feuers verglich, „das sich schon viele Jahre durch das Gebälk des österreichischen Staates gefressen hatte“.

Die Sozialdemokratische Partei Österreichs war am Vorabend der blutigen Auseinandersetzung ohne Zweifel als eine demokratische Partei anzusprechen. Allzulange aber hatte sie der vielzitierten „Politik der radikalen Phrase“ gehuldigt. Dadurch war zwar die Formierung einer nennenswerten Kommunistischen Partei in Österreich hintangehalten worden, allein, mehr als einmal wurden alle, die politisch in der Mitte und rechts von ihr standen, schockiert, wenn nicht verschreckt oder aufgebracht.

Die Partei war der Autosuggestion ihrer Propaganda zuletzt selbst zum Opfer gefallen. So lehnte sie eine Reihe von Einladungen zur Mitarbeit, ja zur Beteiligung an der Regierung glatt ab. Man glaube nicht, daß diese „negative Politik“ bei allen Sozialisten Gefallen gefunden hätte. Niemand anderer als Bundespräsident Schärf berichtet in einem erst vor kurzem veröffentlichten Memoirenbuch, „Erinnerungen aus meinem Leben“ (S. 120), daß sich dagegen eine Oppositionsgruppe formierte, der neben Renner, Körner, Helmer u.a. auch er selbst angehörte.

In den Dreißigerjahren ging über ganz Mitteleuropa eine mächtige „antiparlamentarische Welle“ hinweg. Sie erfaßte vor allem die Jugend sowie andere aktive Elemente aller politischen Lager. Westliche Demokratie und Parlamentarismus standen nicht sehr hoch in Kurs. Sie waren auch nicht ganz schuldlos an ihrer Abwertung. Die nach einer neuen Ordnung Ausschau haltenden Menschen auf der Rechten gerieten ähnlich wie ihre Brüder von der radikalen Linken, die oft von kommunistischen Losungen verlockt wurden, in das Spannungsfeld „autoritärer“, ja faschistischer Gedanken und Vorstellungen.

Dennoch darf korrekterweise von der österreichischen Rechten nur die Heimwehr als faschistische Gruppierung angesprochen werden (faschistisch wohlgemerkt, nicht nazistisch; die im Kampf gegen den Nationalsozialismus gefallenen Heimwehrmänner erfordern diese Unterscheidung). Nicht wenige katholische Gruppen und Einzelne aber erhofften von einer unklar akzentuierten „Ständedemokratie“ den Ausweg zwischen einem Parlamentarismus, der mit vielen Lebensfragen nicht fertig wurde (Massenarbeitslosigkeit), und dem Totalitätsanspruch des Faschismus.

II.

Als vor bald einem Jahrzehnt ein bekannter Schriftsteller mit Hinweis auf die Februar-Ereignisse mir schrieb, „sterbende Männer seien ihm lieber als fette Mäuse“, fand ich den Vergleich nicht nur unziemlich, sondern auch schockierend. Heute, im Zeitalter der „fetten Mäuse“, hat sich die moralische Entrüstung etwas abgekühlt. Wer ist heute bereit, sein Leben für die von ihm vertretene Politik als Deckung zu geben? Ehre allen Menschen, die 1934 ihr Leben für ihre Idee in die Schanzen schlugen. Fluch aber der Hetze, die sie dazu verleitete, gegen den Bruder das Gewehr zu heben.

Ob ich positive Züge an der damaligen Sozialdemokratie finde? Ehrlich gesagt: wenige. Zu groß waren die Affekte gegen alles, was mit Österreich, seiner Vergangenheit und seiner Tradition zusammenhing. (Als das erste Mal österreichische Militärmärsche von der jungen RAVAG gespielt wurden, gab es, wie Rudolf Henz in seinem soeben erschienenen Buch „Fügung und Widerstand“ zu berichten weiß, sozialistische Entrüstungsstürme im Programmbeirat.) Zu unterentwickelt war noch ein positives österreichisches staatspolitisches Bekenntnis. (Namhafte sozialistische Politiker rühmten lange die Einführung der preußisch-deutschen Uniformen und Distinktionen im jungen österreichischen Bundesheer als eine „republikanische“ Tat.)

Ganz zu schweigen von dem kulturkämpferischen, freidenkerischen Grundklima, dem positive Seiten abzugewinnen auch heute noch schwerfällt. Wenn man aber gerecht sein will, dann wird man die Sorge um das Wohl der Arbeiter und die Besserung ihrer Lebensbedingungen durch sozialistische Initiativen nicht übersehen. Und als geistige Menschen, als brillante Schriftsteller und Publizisten wird man viele Bannerträger des Austromarxismus gerne anerkennen.

Ob ich positive Züge an der damaligen Rechten finde? Offen gesagt: einige. Wie ablehnend nach wie vor die Gegner, wie kritisch der Verfasser selbst heute Bundeskanzler Dollfuß, seinem „autoritärem Kurs“ und dem „christlichen Ständestaat“ gegenüberstehen mag, es wäre doch Zeit, einiges zum Steuer der historischen Wahrheit festzuhalten: Niemand anderer als derselbe Engelbert Dollfuß war eigentlich der erste, der Österreich wieder für die Österreicher entdeckte. Das war nun nicht mehr die Republik Deutsch-Österreich, die in ihrer Gründungsurkunde gleichzeitig ihre Auflösung beschloß, das war kein „Staat wider Willen“, den man genötigt hatte, selbständig zu sein. Der Gedanke, im Angesicht der drohenden nationalsozialistischen Gefahr eine breite „Vaterländische Front“ zu formieren, war nicht der schlechteste; fatal war nur, daß man den notwendigen linken Flügel dieser Front durch Bruderkrieg lähmte. Heute ist alles anders. Aber wir alle, auch jene Sozialisten, die das Konzept einer wirklich österreichischen Staatspolitik verfolgen — es sind ihrer gar nicht so wenige —, stehen, ob sie es wissen oder nicht, ob sie wollen oder widerstreben, im übertragenen Sinn auf den Schultern des „kleinen Mannes in der alten Uniform“, der die rot-weiß-rote Fahne als erster voll entfaltet hatte.

Gerne möchte man sich Ernst Karl Winters Erkenntnis anschließen („Christentum und Zivilisation“, Wien 1950, S. 370 bis 388):

Die Ära Dollfuß, das autoritäre Regime Österreichs, war historisch ein Intermezzo ... Es ist daher kein Wunder, daß es Freund und Feind vergessen möchten und deshalb nicht viel darüber reden. Trotzdem waren die Jahre 1933-1938 nicht minder ein echtes Stück Österreich, das es gilt, in richtiger Weise in das bewußte österreichische Denken einzugliedern. Die Zweite Republik hat mit Recht die historische Kontinuität mit der Ersten Republik über das autoritäre Experiment hinweg gefunden. Die Verfassung, der Rechtsstaat, die Demokratie sind Werte, mit denen niemand, auch nicht um scheinbar noch höherer Werte willen, spielen darf. Nichtsdestoweniger sollten deshalb andere Werte, die, ich wage es zu sagen, im autoritären Regime enthalten waren, nicht vergessen werden. In erster Linie ist es die menschliche, impulsive, instinktsichere Persönlichkeit Dollfuß’, die selbst in ihren Fehlleistungen wertvoll genug ist, um der österreichischen Jugend erhalten zu bleiben. Dann aber ist es der leidenschaftliche Durchbruch der österreichischen Idee, der das erste Mal unter Dollfuß erfolgte, was wir nicht vergessen sollten, auch wenn wir seither bessere Gründe für die österreichische Wiedergeburt besitzen.

III.

„Die Geschichte wiederholt sich nicht.“ Diese Binsenweisheit ist ebenso richtig, wie sie zu falschen Schlußfolgerungen verleiten kann. Natürlich wird in Österreich nie wieder der Schutzbund marschieren und das Bundesheer vor dem Karl-Marx-Hof Geschütze in Stellung gehen lassen. Das heißt aber nicht, daß nicht, wenn die innere Entfremdung im gleichen Tempo wie im letzten Jahr weitergeht, wenn die Abkehr von der gemeinsamen Basis fortgesetzt wird, eine gefährliche Entwicklung einsetzen kann. Bis heute haben politische Einsicht und — nicht zu vergessen! — die wohlige Decke unserer Konsumgesellschaft dies verhindert. Wenn die erste in Vergessenheit gerät und die zweite dünner wird, dann könnte schon ein Augenblick kommen, wo man die Alarmglocke läuten muß.

Beide Regierungsparteien sind demokratische Parteien, bei beiden zeigen sich heute aber auch „oligarchische Züge“.

Die Lehren aus den Februar-Ereignissen 1934 wurden in den Baracken der nationalsozialistischen Konzentrationslager und in den Gruppen des österreichischen Widerstandes gezogen. Nie wieder Österreicher gegen Österreicher! Ihr Ergebnis nach 1945: die „große Koalition“. Dem Engländer Gordon Shepherd verdanken wir die treffende Formel: „Die Erste Republik scheiterte, mußte scheitern, weil die meisten ihrer Patrioten keine Demokraten und die meisten ihrer Demokraten keine Patrioten waren.“ Das ist die Lehre für Gegenwart und Zukunft: die Übereinstimmung von demokratischem Republikanertum und österreichischem Patriotismus — für immerwährende Zeiten. Das ist es, wozu uns die Toten des Februar 1934 verpflichten. Die, deren letztes Wort „Freiheit“ war, genauso wie jene, die mit dem Ruf „Österreich“ in den Tod gingen.

Wie schön ist es, daß wir ihnen — endlich! — ein gemeinsames Totengedenken widmen. Noch schöner aber, wenn wir den politischen Alltag aus diesem Geiste formen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1964
, Seite 91
Autor/inn/en:

Kurt Skalnik:

Jg. 1925, von Friedrich Funder 1949 in die Wiener katholische Wochenzeitung „Die Furche“ geholt, nach dessen Tod Chefredakteur, hielt das Blatt auf einer nach rechts und links offenen Linie, wandte sich gegen die Übernahme der Herausgeberschaft durch den Exnazi Emil Franzel, wurde nach einer Reihe von Konflikten mit dem Verleger Willy Lorenz 1967 gekündigt; der größere Teil der Redaktion folgte ihm freiwillig. Der Kampf der Joumalistengewerkschaft und des FORVMS für Skalnik und gegen den „Furche-Putsch“ ist noch erinnerlich. Seither ist K. S. Sektionsrat in der Präsidentschaftskanzlei.

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