FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1977 » No. 287
Friedrich Geyrhofer

Die neuen Hunnen

BRD auf dem Weg in die 3. Republik

Westdeutscher Terror und Antiterror nehmen interkontinentale Ausmaße an. Am 17. Oktober 1977 führte die BRD mit dem Einsatz der GSG 9 in Somalia die erste militärische Operation seit dem zweiten Weltkrieg durch — in der Hauptstadt eines Landes, das selbst Krieg führt. Neue Fronten formieren sich: die Alliierten der BRD, Frankreich (wo man Schleyers Leiche fand) und Italien (wo das gekaperte Flugzeug weiterfliegen durfte), haben nach Bonner Maßstäben versagt. Hingegen boten die Sowjetunion und die DDR der westdeutschen Regierung aktive Hilfe an.

...und räumen so auf, daß bis zum Rest dieses Jahrhunderts von diesen Banditen keiner es mehr wagt, in Deutschland das Maul aufzumachen.

Franz Josef Strauß, 1974
Willem II. am Turnpferd:

Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich einen Namen gemacht haben, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!
(Wilhelm II. in Kiel bei der Verabschiedung des deutschen Expeditionskorps gegen den Boxeraufstand in China, 1900)

Schmidtchen Ludendorff

Spätestens seit dem 5. September 1977, dem mörderischen Kidnapping Schleyers in Köln, quält sich die BRD mit der Gewissensfrage: Was ist der Terror? Leicht zu sagen. Eine Orgie der Medien. Eine schwarze Messe, die Druckerschwärze in richtiges Blut verwandelt. Auf den Anschlag folgt die Schlagzeile, sie erst komplettiert ihn. Den kurzen Schock verlängert die Hetzjagd auf „Sympathisanten“, die an den Haaren herbeigezogen werden. Anscheinend agitiert die Presse, obwohl im Privatbesitz, noch zügelloser und staatsloyaler als das verstaatlichte Fernsehen. Während der Terrorist die Bombe wie ein Rufzeichen plaçiert, handhabt der Redakteur die Lettern wie Schnellfeuerwaffen.

Die Propaganda der Tat wird durch die Taten einer patriotischen Propaganda aufgestachelt, deren Opfer die wahren Märtyrer der Pressefreiheit sind. Am 9. September befahl Bundeskanzler Schmidt eine totale Nachrichtensperre in Sachen Schleyer. Der kleine Krisenstab regierte im Herbst 1977 die BRD wie einst der Große Generalstab das deutsche Kaiserreich. Die Medien fügten sich dem Kommando. Sie verzichteten zeitweise auf Worte, die zwar nicht töten, aber provozieren können. „Stillgestanden“: Auf einmal ruhten die Federn, die in Blut, die Schwerter, die in Tinte getunkt worden waren. Als das Leben Schleyers — des „Bosses der Bosse“ — auf dem Spiel stand, gaben die Helfershelfer ihr Mörderspiel auf.

Über Westdeutschland senkte sich der Belagerungszustand. Lateinamerikanische oder nordirische Zustände, wie sie aber auch vom Frankreich Anfang der sechziger Jahre, in den Endzügen des Algerienkrieges, im Bürgerkrieg zwischen de Gaulle und der OAS erlitten wurden. Die westdeutsche Politik bewegt sich heute zwischen den leicht auswechselbaren Polen „Terror“ und „Anti-Terror“. Gewalt gegen den Staat ist weniger der Anlaß als ein Symptom: symptomatisch nämlich für eine schleichende Verfassungskrise der BRD, die eventuell mit der Gründung einer westdeutschen „V. Republik“ gelöst werden könnte.

Die Medien wirken als Katalysatoren. Im organisierten Bürgerkrieg von oben übernehmen die Journalisten die artilleristische Unterstützung der Staatsgewalt, deren Offensiven sie vorbereiten. Nach kurzen Feuerpausen verlegen sie das Trommelfeuer ins Hinterland des Feindes. Die CDU verlangte die Ausrufung des Notstandes und den Einsatz der Bundeswehr — gegen wen? Gegen das „Kommando Siegfried Hausner“? Hier ist eine journalistische Schlacht zu schlagen. Dank der Nachrichtensperre konnten sich die Zeitungen vom Schicksal Schleyers ab- und den „Sympathisanten“ zuwenden.

Tödliches Blei

Bereits am 8. September, also einen Tag vor der Nachrichtensperre, hatte die Frankfurter Allgemeine, repräsentativ für die ganze Presse, den Ernst der Lage gewürdigt: „Die Terroristen betreiben psychologische Kriegführung. Sie halten die Medien für ihre wirksamsten Instrumente. Der Schrecken, den sie verbreiten, soll ihr Ruhm sein.“ Verbreitet im strengen Wortsinn — wird der Schrecken natürlich von den Journalisten, die sich nunmehr am Riemen reißen müssen: „Die Publicity des Verbrechens geht weit über das hinaus, was Informationsrecht und Chronistenpflicht verlangen.“

Der hetzerische Tonfall kaschiert das schlechte Gewissen. Nahm man es doch anfangs dem gefangenen Schleyer übel, daß er der Staatsräson zum Trotz den Austausch gegen elf politische Gefangene (darunter Baader, Ensslin und Raspe) wünschte. Helden in der Not sind halt seltener als Maulhelden auf Bildschirmen und hinter Schreibmaschinen. Nicht aus den Büchern der Philosophen, vielmehr aus den Kolumnen der Tageszeitungen — und zwar der reaktionären — ist der Terror hervorgekrochen. Bommi Baumann, ein Deserteur vom „2. Juni“ (von der Polizei bis heute nicht gefaßt), berichtet in seiner Autobiographie „Wie alles anfing“, daß schon die ersten antiautoritären Kommunen in West-Berlin Zeitungsausschnitte archivierten und ihre Aktionen an den erwarteten Reaktionen der Presse orientierten.

Vieles in der Geschichte der RAF, ihrer Vorgänger und Nachfolger, erklärt sich aus der merkwürdigen Fixierung an die Medien: Nur aus der Lektüre der Boulevardpresse konnte man lernen, daß die Bundesrepublik für die Revolution überreif ist. Eine fanatische Justiz, in deren Dienst sich die Medien stellten, hat ein übriges getan. Vor allem aber die Zeitungen haben wirksam den Haß gezüchtet: das Attentat auf Dutschke, ein Werk der Springer-Presse, schoß der Debatte über „Gewalt“ den Weg frei. Bommi Baumann über seinen Griff zum Colt: „Bevor ich nun wieder nach Auschwitz transportiert werde, dann schieß ich lieber vorher, das ist doch wohl klar!“

Die Rechtsanarchisten der Redaktionen munitionierten die Linksanarchisten der Straße. Die bürgerliche Gesellschaft der BRD, im rigiden Ordnungswahn und blinden Antikommunismus befangen, formte nach ihrem eigenen Geschmack die Linken: aus Schöngeistern machte sie Pistoleros, aus Abenteurern Mörder, aus Sozialkritikern am Rande des Nichts balançierende Sozialrebellen.

Ausgeburt der Redaktionen

Ganz anders der italienische Terrorismus, der zwar rechts und links noch viel blutrünstiger ist, aber auch in seinen rein kriminellen Formen enger mit realpolitischen Auseinandersetzungen zusammenhängt. In Österreich hätte die Kronen-Zeitung Terror zeugen können (man erinnere sich an die Kampagne 1968 um das Happening im Hörsaal 1), wenn sie nicht rechtzeitig unter die Kontrolle des Gewerkschaftsbunds gekommen wäre. Immerhin entzündete der ORF Gerd Bachers 1972 die Schranz-Affäre und befeuerte den Kärntner Ortstafelsturm, der jetzt noch der österreichischen Politik im Magen liegt. 1927 entflammte ein Leitartikel der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung die Massen zum Sturm auf den Wiener Justizpalast. In Westdeutschland hingegen, wo die freie Marktwirtschaft die entsprechende Presse produzierte, wurde der akademische Respekt vor dem Gedruckten auf die Zeitungen übertragen, ihr Zeter und Mordio buchstäblich genommen.

Über diese fatale Rolle der Presse erzählt Klaus Hartung in den „Fehlern der antiautoritären Bewegung“ (Kursbuch 48, p. 20), „daß wir — zu unserem Entsetzen — über ein Propagandainstrument verfügten, das ‚haltet den Dieb‘ schrie, bevor wir nur etwas geklaut hatten. Die Bild-Zeitung insbesondere legte uns auf die Revolution fest, als diese für uns noch ein historischer Begriff war; sie stellte das Chaos dar, als wir noch das formelle Recht auf Demonstration zu einem wirklichen machen wollten; sie beschwor den Umsturz der Verhältnisse, als wir in diesen Verhältnissen noch nach einer Chance für politische Selbsttätigkeit suchten.“

Der westdeutsche Meinungsterror ist allerdings kein Monopol des Springer- oder Burda-Konzerns. Auch die seriösen Zeitungen haben sich dabei beteiligt. Zuerst putschten die Medien die ApO hoch. Später leisteten sie, mehr oder weniger willig, Hilfsarbeit für das Bundeskriminalamt. Die strafrechtliche Verfolgung der RAF entartete zu einem Pressefeldzug, den die Ordnungsgewalten definitiv noch immer nicht gewonnen haben und der deshalb jetzt als ein Vernichtungskrieg gegen die „Sympathisanten“ fortgeführt wird. In der ersten Phase der Kriminalisierung der Linken waren die Zeitungen federführend, in der zweiten (seit 1972) Justiz und Polizei, während nach der Nachrichtensperre die Presse beim Aufstöbern von „Sympathisanten“ wieder den Ton anschlägt.

Jan-Carl Raspe, Andreas Baader, Holger Meins, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof wurden im Juni 1972 von der Polizei geschnappt. Doch schon am 22. Jänner 1972 hatte die Bild-Zeitung mit der Schlagzeile geknallt: „Baader will sich stellen.“ Er habe die Nerven verloren. Am 23. April 1972 meldete Bild, Ulrike Meinhof habe sich vergiftet und sei in Hamburg unter falschem Namen eingeäschert worden. Am 25. Mai 1972 — das war der größte Knüller — verbreiten die Medien die spektakuläre Drohung, die RAF wolle Stuttgart in die Luft sprengen. Ein riesiger Polizeiapparat setzte sich in Bewegung, 2.000 Mann besetzten die Zufahrtsstraßen. Ein Dementi der RAF wurde ignoriert, der Aufmarsch der Ordnungsmacht erst nach Tagen abgeblasen.

In diesem Stil ging es weiter. Am 15. März 1974 druckt Die Welt eine Meldung, die RAF wolle während der Weltmeisterschaft vollbesetzte Fußballstadien mit Raketen beschießen. Am 27. Mai prophezeit Bild, die Anhänger von Baader & Meinhof würden das Trinkwasser einer Großstadt mit Zyankali vergiften. Die Presse heckte immer neue neronische Pläne aus. Bombenanschläge auf den Bremer und den Hamburger Hauptbahnhof wurden — trotz Dementi — der RAF zugeschrieben. Am 16. Mai 1975 informierten die Zeitungen über eine geplante Massenvergiftung des Bonner Bundestags. Schließlich beginnt am 21. Mai 1975 die Hauptverhandlung in Stammheim gegen den „harten Kern“: in einer eilfertig errichteten Betonfestung, von Kavallerie bewacht.

Aus sicherer — jetzt unsicherer — Entfernung hat die legale Linke vielleicht einzelne Persönlichkeiten wie Ulrike Meinhof bewundert, die Konzeption der Stadtguerilla wurde als Wahnsinn stets abgelehnt. „Holger, der Kampf geht weiter“ mit diesem Ruf Rudi Dutschkes war, am Grabe von Holger Meins, der Kampf für (und nicht: gegen) den Rechtsstaat gemeint. Die mehr oder weniger orthodoxen Marxisten sind gegen die RAF, weil sie anarchistisch, die Anarchisten, weil sie militaristisch ist. Die einen verwerfen den Individualterror, die anderen die Stellvertreterrolle, mit der sich Intellektuelle die proletarische Mission anmaßen.

Kapplers Kinder

Nur reaktionäre Publizisten analysierten die RAF als die Morgenröte einer strategischen Revolution, der „Verpolizeilichung des Krieges“. Nicht in der Untergrundzeitschrift Revolutionärer Zorn, sondern in Springers vornehmer Welt findet sich die kühne Prognose: „Die Guerilla im Industriestaat, die Stadtguerilla, ist die Kriegsform der Zukunft. Sie stellt den Ersatz dar für den offenen internationalen Krieg und den offenen Bürgerkrieg, die aus machtpolitischen Gründen erschwert sind. Sie kann zu einer Version des Verteilungskampfes werden“ (Die Welt vom 13. März 1975).

Ein westdeutscher Linker, der heute so interessante Sachen sagen würde, käme sofort hinter Gitter: nicht einmal als Sympathisant, sondern gleich der Tat verdächtig. Aber die Philosophen der Rechten, die sich noch gut an die Freikorps von 1919 erinnern, lernen aus den Anstrengungen und Irrtümern der extremsten Linken: Stadtguerilla gegen die DDR? gegen den DGB? Wenn einmal die Wellen der Erregung verebbt und noch ein paar von der RAF am Leben sind, werden junge Generalstabsoffiziere nach Stammheim pilgern, um aus der Quelle zu schöpfen: „Wie habt denn ihr das damals gemacht? Könnte man nicht auch in Karl-Marx-Stadt ...“

Bei einer Festrede in der Frankfurter Paulskirche erklärte der deutsch-amerikanische Soziologe Norbert Elias die Flucht der Jugend in den „terroristischen Anarchismus“ als einen verzweifelten Versuch, „sich und Deutschland von dem Fluch des Nationalsozialismus zu reinigen“ (Frankfurter Allgemeine vom 4. Oktober 1977). Das ist der wunde Punkt. Claus Croissant, Baaders ehemaliger Verteidiger, der am 11. Juli 1977 aus der Polizeiaufsicht nach Paris flüchtete und dort vor einem „neuen Faschismus“ warnte, wurde von der westdeutschen Presse als der ärgste aller Renegaten und „Nestbeschmutzer“ gebrandmarkt.

Als am 15. August der SS-Offizier Kappler aus Rom entkam, wurde er im Vaterland gefeiert, ausländische Kritik mit finsteren Drohungen beantwortet. Die Presse betonte, man könne keinesfalls wegen eines Einzelfalles die Rechtsordnung ändern, die eine Auslieferung deutscher Staatsbürger ans Ausland verbietet. Die Medien malten dafür eine drohende Einkreisung der Bundesrepublik an die Wand. Eingekreist in ihrer kollektiven Paranoia, Opfer ihrer verdrängten Schuldgefühle, machten die Zeitungen tatsächlich glauben, die europäische Linke werde zu einem Kreuzzug nach Stammheim aufbrechen.

Typisch, wie die Attentate auf Buback, Ponto und Schleyer mit der gleichzeitig anrollenden Naziwelle unter den gemeinsamen Hut einer journalistischen Pointe gebracht wurden: Man taufte die Attentäter in „Hitlers Kinder“ um. Die journalistische Diktion lebt von mechanischen Assoziationen: darum der Kampf um „Bande“ statt „Gruppe“. Die wirklichen Gewalttaten reichen den Medien nicht. Sie phantasieren von „Terror-Multis“ (meinen aber nicht ITT), von einer „Internationale des Terrors“, die kurzfristig in dem sagenhaften Superterroristen „Carlos“ personifiziert und personalisiert wurde. Sein synthetischer Lebensweg wurde ebenso kunstvoll zusammengesetzt wie das Monster des Doktor Frankenstein aus Leichenteilen.

Carlos — ein Regenbogenmythos

„Hitlers Kinder“ und „Carlos“: das sind Epigonen der „Weisen von Zion“, des Klassikers polizistischer Verschwörungstheorien, die im Faulbett des Lumpenjournalismus ausgebrütet werden. Schreckenslegenden betäuben die Öffentlichkeit, um sie von unangenehmen Fakten abzulenken. Im Sommer 1976, während des ewigen Stammheimer Prozesses, kurz nach dem mysteriösen Tod Ulrike Meinhofs in ihrer Gefängniszelle, druckte der Spiegel in Fortsetzungen eine Biographie des „Carlos“ ab, die durch ihre pseudohistorischen Details bestechend wirkte.

Man ließ „Carlos“ in Venezuela zur Welt kommen, den Vornamen Iljitsch tragen, in Moskau ausgebildet werden, im Dienste arabischer Ölgelder Furcht und Schrecken verbreiten. „Carlos“, international wie der Satan, suggerierte Verbindungen zwischen der lateinamerikanischen Stadtguerilla, dem sowjetischen Geheimdienst, der PLO und der OPEC. Da war alles beisammen, was der Zeitungskonsument fürchtet.

Seitdem die USA mit den Palästinensern verhandeln wollen, hat man von „Carlos“ nichts mehr gehört. Der Journalismus prägt Namen, wirkliche und auch erfundene. Er kriminalisiert, indem er personalisiert. So wurde die westdeutsche Studentenbewegung in dem Namen Dutschke zusammengefaßt, aus dem subalternen Cohn-Bendit ein Star der Revolution gemacht. Gegen die namhaften Personen der RAF — namhaft dank der Schlagzeilen — entwickelte der Medien- und Staatsapparat direkte und höchstpersönliche Aggressionen, die sich in irrationalen Schikanen und Torturen äußern.

Strafprozesse gegen weniger exponierte Leute liefen manchmal mit etwas weniger Leidenschaft ab: Karl Heinz Roth, des Polizistenmordes bezichtigt, wurde anhand komplizierter Indizien im Sommer 1977 freigesprochen. Die Todeswünsche der offiziellen Öffentlichkeit konzentrierten sich auf ausgewählte Individuen. Z.B. auf Ulrike Meinhof, deren Gehirn die Bundesanwaltschaft im Sommer 1973 operieren lassen wollte. Die Zeitungen hatten nämlich geschrieben, sie sei das „Gehirn“ der RAF. Metaphern verwandeln sich in Marterinstrumente, Gerüchte in Urteile. Es genügt nicht, den Terroristen den Prozeß zu machen, man will eine Horrorshow mit ihnen aufziehen.

Mao in Stammheim

Am 4. Mai 1977 brachte die FAZ eine Meldung über das Ende des Hungerstreiks von 46 politischen Gefangenen am 30. April. Gudrun Ensslin habe vom Stammheimer Gefängnis aus (auf Wunsch der Gefängnisleitung und natürlich „in Anwesenheit von Beamten“) mit Häftlingen in Zweibrücken, Köln, Hamburg und Berlin telefoniert. Dabei zitierte Ensslin — so die FAZ — lediglich ein Wort Maos: „Wer sich nicht fürchtet vor Vierteilung, zieht den Kaiser vom Pferd.“

Sehr terroristisch, meint die Zeitung. Denn: „Kurze Zeit darauf hörte schlagartig in den betroffenen Gefängnissen der Hungerstreik auf. Sicherheitsfachleute finden es bemerkenswert, daß ein bloßes Codewort, das vier Häftlingen übermittelt wurde, diese Wirkung hatte.“ Am 12. Mai erscheint in der FAZ eine kurze Gegendarstellung. Sie bezieht sich auf die Behauptung der „Sicherheitsfachleute““, das Mao-Zitat sei ein bloßes Codewort gewesen. „Diese Behauptung ist falsch. Richtig ist, daß ich über den Abbruch des Hungerstreiks gesprochen und den Gefangenen einen Text vorgelesen habe, der am 30. April auch an die FAZ geschickt worden ist. Gudrun Ensslin, Stammheim.“

Die Zeitung veröffentlicht also nicht (den offenbar harmlosen) Text Gudrun Ensslins, sie hält sich lieber an die gefährlichen Hirngespinste anonymer „Sicherheitsfachleute“, die aufregendere Versionen anbieten. Der neuerliche Hungerstreik vom August 1977 und sein Ende kurz vor dem Kölner Kidnapping wurden in den Medien folgendermaßen interpretiert: Die Gefangenen hätten alles vorausgewußt (Info-System!) und damit — aber womit? — ihren Austausch gegen Schleyer vorbereitet.

Eine obskure Mutmaßung, der dann im Stern vom 15. September der Diplompsychologe und Berater der staatlichen „Anti-Terror-Truppe“ GSG 9, Reiner Zeller, widersprach („Gudrun Ensslin ist so kaputt, daß sie wahrscheinlich die Befreiung kaum überleben wird ohne ständige ärztliche Hilfe“). Daraufhin wurde Zeller, übrigens ein Anhänger der harten Linie, von den Zeitungen zum Sympathisanten befördert und von der Polizei gefeuert.

Das ist psychologische Kriegführung — der Journalisten, die im Medienverbund mit Justiz und Polizei agieren. Wohl das schlimmste Ärgernis im Stern-Interview Zellers gab seine Kritik an der offiziellen Theorie, daß der aktive Terror aus den Stammheimer Zellen heraus gesteuert werde: „Diese Steuerung wird überschätzt. In Andreas Baader sieht die neue Terroristengeneration nur noch so etwas wie die Rockfans in Elvis Presley — das Symbol und Idol, nicht den Menschen. Gegen die Steuerung spricht auch der Hungerstreik. Wenn ich weiß, daß ich in vier Wochen in den gewaltigen Streß der Befreiungsaktion komme, sorge ich dafür, daß ich geistig und körperlich fit bin.“

Gegen die Theorie der Stammheimer Steuerung (sie ist fast so sakrosankt wie das Grundgesetz) spricht überdies, daß bei der Lorenz-Entführung vom 27. Februar 1975 keineswegs der Austausch mit Raspe, Meinhof oder Baader verlangt wurde. Aber Medien, Justiz und Bundeskriminalamt haben sich nun einmal darauf geeinigt, daß der Hungerstreik — die Wunderwaffe Mahatma Gandhis — ein besonders teuflisches Werkzeug des Terrors ist. Hungern ist fast so verbrecherisch wie Schießen — oder wie Reden. Für den Staatsschutz sind die RAF-Leute Übermenschen, die nicht essen, trinken, atmen, hören müssen, aber ohne weiteres durch Kerkermauern von Stadt zu Stadt kommunizieren können. Jede Lebensäußerung der Gefangenen wird — ohne weitere Hinweise — automatisch für subversiv gehalten: folglich sind Mao-Zitate Codewörter.

Staatsschutzmärchen

Der Spiegel vom 1. August 1977 schildert einen Familienbesuch, den der Rechtsanwalt Siegfried Haag — noch in U-Haft, aber schon als Terrorist bekannt — im Gefängnis Frankenthal erhielt. Unter den Augen und vor den Ohren der Aufpasser erzählte die Frau des Gefangenen ihrem Mann und den Kindern ein Märchen über die Stadtmaus Ina, den Bär Toby und das Tier Breppelzitsch, die auf Wohnungssuche gehen. Dieses Hausmärchen, eine Abwandlung der Bremer Stadtmusikanten, steht jetzt in den Akten und ist für den Spiegel selbstredend „eine verschlüsselte Botschaft“.

Märchen erzählen — das dürfen nur die Medien, obwohl auch sie ihre Botschaften verschlüsseln. In jedem Strafprozeß, der zu seinem Glück oder Unglück das Augenmerk der Öffentlichkeit auf sich zieht, diktiert der Journalist dem Richter ein Urteil, mit dem der Verurteilte den Wechsel auf seinen sozialen Wert zieht. Anscheinend war sich der westdeutsche Ordnungsstaat über das Urteil der Öffentlichkeit in Sachen RAF nie ganz sicher. Der Stammiheimer Prozeß stellte eine einzige Medienschlacht dar, ein Stalingrad der Justiz, wo beide Parteien um den Endsieg in der veröffentlichten Meinung gerungen haben.

Aufschlußreich die Feststellung von Hans Josef Horchem, dem Chef des Hamburger Verfassungsschutzes (der als besonders effizient gilt): „Der unpolitische Teil der Bevölkerung bewertete die Aktionen der Roten Armee Fraktion weitgehend als Robin-Hood-Taten. Solange die Baader-Meinhof-Bande keine Menschen tötete und ‚nur‘ Banken beraubte, wurden in erster Linie Perfektion und Bravour der Aktionen bewundert. Ein Teil der Massenmedien und einige Politiker entschuldigten erklärend die kriminellen Handlungen mit den Motiven der Straftäter“ (zitiert nach „Terrorismus contra Rechtsstaat“, hrsg. von Rudolf Wassermann, Luchterhand 1976).

„Erklärend entschuldigen“ — dieser Ausdruck des Staatsschützers Horchem entschlüsselt die Dämonologie der Sympathisantenjagd. Neben der Beweisaufnahme sind ja Erklären und Entschuldigen die zentralen Funktionen eines regulären Strafverfahrens. Einen Angeklagten, der sich weder erklärt noch entschuldigt, nennen Ankläger und Presse „verstockt“. Ein Verteidiger, der nicht erklärt und nicht entschuldigt, versäumt seine Pflicht. Bezeichnenderweise waren die Rechtsanwälte der RAF der Anlaß zum Pogrom auf die „Sympathisanten“ und die erste Beute dieser Kampagne. Man darf den Terror nicht verteidigen — dafür wurde im Stammheimer Verhandlungssaal ein Exempel statuiert.

Gewalt und Gegengewalt:
Am 24. September 1977 demonstrierten 50.000 friedlich gegen die Errichtung des Grundbausteins des Piutoniumstaates, den „Schnellen Brüter“ in Kalkar. 20.000 wurden von der Polizei unterwegs abgefangen.
Bild: ID-Bilderdienst
Bild: ID-Bilderdienst

Moskau — Nürnberg — Stammheim

Es gibt Parallelen des Stammheimer Strafverfahrens sowohl mit dem Nürnberger Prozeß als auch mit den Moskauer Schauprozessen. Alle drei Prozesse waren Resultate militärischer oder politischer Entscheidungen: Der Sieger kostete seinen Triumph über den Besiegten aus. In allen drei Prozessen ging es um „Verschwörungen“: gegen den Sozialismus, gegen den Weltfrieden und gegen den bürgerlichen Rechtsstaat. Politische Fragen wurden zwanghaft unter strafrechtliche Tatbestände subsumiert. Juristische Formalitäten verhüllten das Standrecht. Die Rechtsnormen, nach denen die Angeklagten beurteilt und die Strafprozesse geführt werden sollten, dekretierte man teilweise erst während des Verfahrens (Bonner Anti-Terror-Gesetze); teilweise wurden sie von den Richtern willkürlich improvisiert („Stammheimer Landrecht“).

In Nürnberg wurden ein paar Nazis freigesprochen. In Stammheim schlossen Aufwand, Vorbereitung und die publizistische Begleitmusik des Verfahrens jeden Freispruch von vornherein aus. Bundeskanzler Schmidt in der Regierungserklärung vom 25. April 1975, einen Monat vor Prozeßbeginn: „Eine Freilassung dieser Verbrecher, die zum Teil ihren Prozeß noch erwarten, hätte eine unvorstellbare Zerreißprobe für unser aller Sicherheit und für den Staat bedeutet.“ Dasselbe galt in Nürnberg für Göring, in Moskau für Bucharin. Aber im stalinistischen Schauprozeß durfte wenigstens Bucharin sein großes politisches Schlußwort halten, während in Stammheim das Gericht jeden Versuch der Angeklagten im Keim erstickte, den politischen Hintergrund der RAF zu erklären. Auch die Terroristen durften den Terror nicht verteidigen. Damit verlor der Prozeß seine Bedeutung (hingegen sind die Akten von Nürnberg heute historisches Quellenmaterial).

Drei Monate vor Beginn der Stammheimer Hauptverhandlung rief der nordrhein-westfälische Justizminister Dieter Posser den „Ermittlungsnotstand der Justiz“ in Sachen RAF aus. Also wird man notgedrungen die Angeklagten laufen lassen? O nein, der sozialdemokratische Oberjurist schlägt vielmehr die Legalisierung des „Kronzeugen“ vor (wer andere belastet, bleibt selber ungeschoren). Possers Argument: Man müsse „die Baader-Meinhof-Bande sowie ihre Nachfolgeorganisationen oder konkurrierende kriminelle Vereinigungen aufbrechen und von innen heraus zerstören“ (Frankfurter Allgemeine vom 27. November 1976).

Eigentlich wäre das Aufgabe der Polizei, nicht der Justiz. Doch die Bundesanwaltschaft (damals noch unter der Regie Bubacks) wurde in Stammheim, wie die FAZ schreibt, „vom Bundeskriminalamt zum Bürovorsteher degradiert“. Buback erlebte übrigens mit seinen „Kronzeugen“ Dierk Hoff und Gerhard Müller wenig Freude. Im Stammheimer Veriahren verfuhren Richter und Staatsanwälte nach der Devise: Wir machen kaputt, was uns kaputtmacht. Am 20. Jänner 1977 war der Vorsitzende Prinzing kaputt: Er mußte abdanken. Er hatte getan, was den RAF-Anwälten vorgeworfen wird: illegal Informationen geschmuggelt.

Die Schlüsselbegriffe dieses Prozesses waren nicht Schuld oder Unschuld, Beweis oder Indiz, sondern Komplize und Kassiber. Im Zuge der Wanzenaffäre Traube — des westdeutschen Watergate — kam heraus, daß auch in Stammheim Telefone abgehört wurden. Unter anderem belauschte die Polizei am 29. April 1975 ein Telefongespräch Ulrike Meinhofs mit einem Verteidiger, „in dem die Möglichkeit einer Kindesentführung erwähnt worden sei“ (Frankfurter Allgemeine, 30. März 1977). Das erinnert an die „Geständnisse“ der Schauprozesse.

Anwälte in der Zange

Von Anfang an gab es zwei Kategorien von Anwälten: die Wahlverteidiger und die Zwangsverteidiger. Die einen von ihren Mandanten akzeptiert, die anderen abgelehnt. Die einen folglich „Sympathisanten“, die anderen passive Zuschauer. Da der Rechtsstaat keinen Prozeß mit den Angeklagten, sondern einen gegen sie führte, dehnte er die Verfolgung logischerweise auf die Wahlverteidiger aus. Zum Schluß protestierten aber auch die vom Staat bestellten Zwangsverteidiger vehement gegen das „frei geschöpfte Stammheimer Landrecht“. Es war einer von ihnen, der den Richter Prinzing stürzte und den 20-Millionen-DM-Prozeß beinahe platzen ließ.

Schily, Croissant, Ströbele, Heldmann, Groenewold und die anderen Wahlverteidiger verwandelten sich im Laufe des Verfahrens immer mehr in Angeklagte. Sie wurden überwacht, ihre Kanzleien durchsucht, sie selbst aus dem Prozeß ausgeschlossen. Vielen wird jetzt der Prozeß gemacht. Die Justiz stützt sich auf zwei konträre Argumente: entweder Komplizenschaft mit der RAF oder sträfliche Vernachlässigung der Berufspflichten. Die heimtückische Technik des double bind, in der Psychiatrie als eine Ursache der Bewußtseinsspaltung bekannt.

Otto Schily, schon wegen seines telegenen Auftretens suspekt, wurde bereits im Juni 1972 dafür verurteilt, einen Kassiber Gudrun Ensslins für die damals noch flüchtige Meinhof aus der Zelle herausgeschmuggelt zu haben. Der Bundesgerichtshof hob dann das Urteil auf. Fünf Jahre später entzog man wiederum Schily die Pflichtverteidigung Gudrun Ensslins, weil er — so die ironische Begründung „seiner Mandantin nicht den erforderlichen Beistand geleistet habe“ (Frankfurter Allgemeine vom 13. Mai 1977). Nähe oder Distanz zum Angeklagten — beides ist gleichermaßen verwerflich.

Klaus Croissant, die Anwälte seiner Kanzlei und fast alle seiner Büroangestellten wurden der Reihe nach verhaftet. Die Ehefrau des Verteidigers Christian Ströbele, eine Lehrerin in West-Berlin, erhielt unter Hinweis auf die Tätigkeit ihres Mannes Berufsverbot. Der Verteidiger Baaders, Hanns Heinz Heldmann, wurde verurteilt, weil er — in einem anderen Fall — eine Kriminalbeamtin angezeigt hatte. Aus dem Polizeidossier über Heldmann: „Er verteidigt in Darmstadt in zunehmendem Maße einfach linke Kreise. In vielen Fällen wird er sofort als Anwalt genannt, hauptsächlich aber auch bei Ausländern“ (Frankfurter Rundschau vom 2. April 1977).

Kurt Groenewold steht wegen Komplizenschaft mit der RAF vor Gericht. Um die rechte Stimmung zu erzeugen, schickte der Bundesjustizminister Hans Jochen Vogel, Rechtsaußen der Bonner Regierung, die Anklageschrift vor Beginn der Hauptverhandlung an einige Redaktionen, worauf nach § 353d des westdeutschen Strafgesetzbuchs ein Jahr Gefängnis steht. Die Polizei hat rund 20.000 Telefongespräche Groenewolds abgehört und die Mitschriften in sechs Aktenordnern gesammelt (Frankfurter Rundschau vom 25. Februar 1977).

Gerhard Mauz konstatiert: „Nur durch totale Unterwerfung hätten die Verteidiger in Stuttgart-Stammheim die totale Konfrontation mit dem Gericht vermeiden und der Empörung der Öffentlichkeit entgehen können“ (Spiegel vom 2. Mai 1977). Eine aufgeputschte Phantasie stellte das Verhältnis der Anwälte zu ihren Mandanten auf den Kopf. Am 19. November 1974 streckte Strauß in Sonthofen seinen dicken Zeigefinger in Richtung Stammheim aus: „Das sind die Anwälte hier, die das schon steuern, mit vielleicht schon willenlos gewordenen Gefangenen. Das sind reine Verbrecher, diese Anwälte. Die tanzen doch dem Rechtsstaat auf der Nase herum ... Hier sammelt sich ein solcher Zorn in unserem Volke an“ (Spiegel vom 10. März 1975).

Volksgemeinschaft wie 1914?

Die Anklagen gegen die Verteidiger haben den gemeinsamen Nenner: politische oder publizistische Unterstützung für die Angeklagten. Offiziell wurde in Stammheim ein „unpolitischer“ Prozeß exekutiert, bei dem über „rein kriminelle Taten“ (laut Helmut Kohl „kriminelle Verbrechen“) geurteilt wurde. Daß der Prozeß in Wahrheit ein Staatsschutzverfahren war, zeigt sich an der Ausschaltung der Wahlverteidiger. Eine Rechtsauffassung des nationalsozialistischen Parteigerichts aus dem Jahr 1937: „Die Interessen der Bewegung und des Staates werden nicht dadurch gewahrt, daß im Gerichtsverfahren Anwälte, die unter Umständen derselben politischen Geistesrichtung wie der Angeklagte angehören, diesem Rechtsbeistand leisten und durch ihr Tätigwerden eher den Sachverhalt verdunkeln, statt zu einer Klärung beizutragen.“

So sieht die Grundlage aus, auf der das Strafrecht und das Strafprozeßrecht der BRD seit Jahren umgemodelt werden. Zuletzt mit dem Gesetz über „Kontaktsperre“. Als es im Bundestag am 30. September 1977 im Höchsttempo beschlossen wurde, sprach der linke SPD-Abgeordnete Manfred Coppik (er stimmte dagegen) von einer Pogromstimmung. Dieses Gesetz unterminiert die Teilung der Gewalten. Seit dem Oktober 1977 dürfen die Justizminister des Bundes und der Länder (nicht einmal die Haftrichter!) jeden politischen Gefangenen für Wochen seines Rechtsbeistandes und aller anderen Kontakte berauben. Der Paragraph 34, Absatz 3, Ziffer 2 legt fest: „Gefangene dürfen bei Vernehmungen und anderen Ermittlungshandlungen auch dann nicht anwesend sein, wenn sie nach allgemeinen Vorschriften ein Recht auf Anwesenheit haben; gleiches gilt für ihre Verteidiger.“

Der Stammheimer Prozeß war nicht der einzige und — von seinem Inhalt her auch keineswegs der wichtigste — RAF-Prozeß. Er hat jedoch, wie kaum ein anderes Strafverfahren, politische und Rechtsgeschichte gemacht. Von Staats wegen wurde Stammheim als ein Fanal des Terrors und des Antiterrors inszeniert. Es ging weniger darum, die persönliche Schuld der einzelnen Angeklagten zu beweisen (das war in den meisten Anklagepunkten unmöglich), vielmehr wurde der Zweck verfolgt, vor der Öffentlichkeit zwei Dogmen zu demonstrieren. Das Dogma des „harten Kerns“, das durch das Dogma der „Stammheimer Steuerung“ ergänzt wird. Nur dieser Glaube macht heute in der BRD selig, auf ihm fußt die westdeutsche Innenpolitik, er bietet den Vorwand und die Rechtfertigung für die Kesselschlacht gegen die „Sympathisanten“. [1]

Für Justiz und Medien stellt die Clique um Andreas Baader, die seit 1972 eingesperrt ist, immer noch den Ursprung, das Zentrum und den Generalstab der ganzen Stadtguerilla dar. Der „harte Kern“ sei Herz und Hirn des Terrors. Auch nach dem Tod von Meins und Meinhof, nach dem Abfall von Horst Mahler werden alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Anschläge dem Konto der „Baader-Meinhof-Bande“ zugeschlagen. Das einprägsame Kürzel RAF dient als Signal der Zeitgeschichte. Eine manipulierte Mythologie: zwischen der RAF von 1972 und dem Terror der letzten drei Jahre gibt’s erhebliche Unterschiede.

Politik der Blutrache

Die Zäsur war vermutlich die Ermordung des „Verräters“ Ulrich Schmücker am 4. Juni 1974 in West-Berlin durch die „Bewegung 2. Juni“. Dieser Mord bedeutete die Abkehr von den symbolischen Aktionen der RAF, bei denen zwar Blut vergossen wurde, die aber als Appelle gedacht waren. Wollte die „alte“ RAF der frühen siebziger Jahre die Guerilla der Dritten Welt in die Metropolen übertragen, mitten in Europa dem Beispiel Che Guevaras folgen, also literarische Propaganda in die Tat umsetzen, wird die „neue“ RAF vom Teufelskreis der Vendetta regiert, der Mechanik der Blutrache. So sprechen die Titel des Terrors: „2. Juni“ (an diesem Tag wurde 1967 der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen), „Kommando Holger Meins“, „Kommando Ulrike Meinhof“, „Kommando Siegfried Hausner“ — lauter Märtyrer des westdeutschen Strafvollzugs.

In der Geschichte des Individualterrors gehört die Vendetta zu den wichtigsten Motiven. Eine Serie von Attentaten beginnt aus politischen Beweggründen, für die Fortsetzung sorgt aber die Blutrache. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, einer Blütezeit terroristischer Anschläge, folgte regelmäßig auf die Hinrichtung eines Attentäters ein neues Attentat, ohne daß zwischen dem Rächer und seinem Vorgänger Beziehungen existiert hätten. Entscheidend war das Prinzip: das Recht für illegal, die Justiz für rechtswidrig, den Staat für vogelfrei zu erklären. In dieser Hinsicht hat die Justiz im Stammheimer Verfahren den Anarchisten Arbeit abgenommen.

10. Oktober 1977

[1Was lernt man in Österreich aus dem westdeutschen Beispiel? Am 5. Februar 1977 wurde die deutsche Staatsbürgerin Waltraud Boock in Wien für einen Banküberfall verurteilt, den sie am 13. Dezember 1976 (angeblich im Auftrag der „Gruppe Haag“) auf eine Filiale der Creditanstalt verübt hatte. Nach einem Tag Prozeß erhielt sie die Höchststrafe: 15 Jahre. Schon zeichneten sich Stammheimer Zustände ab: Ein U-Richter las den Briefwechsel zwischen der Angeklagten und ihrem Anwalt mit. Am 10. Oktober wurde die Strafe Boocks um zweieinhalb Jahre reduziert. Justizminister Broda sagte, man wolle keine Märtyrer schaffen. Die Wiener Zeitungen schlugen andere Töne an. Bereits am 11. Oktober wußte Die Presse, die Strafkürzung werde „in weiten Kreisen der Öffentlichkeit nicht verstanden“. Der Kurier vom 11. Oktober bescheinigte dem Justizminister, er sei „anscheinend schon zu Lebzeiten nicht mehr von dieser Welt“.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1977
, Seite 38
Autor/inn/en:

Friedrich Geyrhofer:

Geboren am 03.09.1943 in Wien, gestorben am 16.07.2014 ebenda, studierte Jus an der Wiener Universität, war Schriftsteller und Publizist sowie ständiger Mitarbeiter des FORVM.

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