FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 87
Günther Busch

Der Monolog des Zweiflers

Zur ersten deutschen Ausgabe der Schriften Ludwig Wittgensteins

Daß Gedanken diskutiert werden, ist kein Beweis dafür, daß sie lebendig sind. Was über Nacht ins Gerede kommt, ertrinkt am nächsten Tag darin. Dies zu verhindern, wäre der Skrupel da, der eine Barriere zwischen den Ausdruck und die Absurdität legt. „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“ Unter allen Erfahrungen, welche die Philosophie heute noch machen kann — also unter allen Erfahrungen, die sie machen wird —, ist diese sicherlich die anregendste; sie bringt der Philosophie wieder das profunde Schweigen bei, welches den Gedanken, sofern er einer ist, durch die Tatsachen trägt. Ich meine das Schweigen, auf das Ludwig Wittgenstein [*] sich so leidenschaftlich verlassen hat.

Zwei Bücher halten seinen Namen fest, zwei Bücher, deren Einfluß auf die neuere Philosophie, die angelsächsische vorab, schwerlich an den niederen Folgen gemessen werden kann. Ihre Titel haben sich inzwischen herumgesprochen, doch die in ihnen verbürgte Moralität hielt man für ein Gerücht. Das hat seine Gründe, wie beinahe alles, was an diesen Denker gemahnt oder seinen Intentionen verpflichtet ist: Hintergründe. Er vermachte sie der Nachwelt, eingeschlossen ins Gestein seiner Schriften, die sich im Laufe der Jahre als ungleich stärker erwiesen denn ihre Umgebung. Warum? Sie enthalten ihre Umgebung in sich. Das ist, was immer man sage, ein Merkmal des Meisterwerks. Wittgenstein hat — zweimal — Meisterwerke geschaffen, scheinbar quer zum Zeitgeist und dessen Einflüsterungen, obschon durchaus verständigt mit ihm. Und er hat, was er schrieb, auch meisterhaft geschrieben. Wie das? wird man fragen. War er ein Philosoph oder ein Autor? Nun, er blieb das eine von Grund aus, weil (und während) er das andere war. Seine Prosa, von keinem Systemtort geknechtet, an keine Weltanschauungslist verpfändet, wirkt — wie nur noch diejenige Nietzsches — als das Maß dessen, was in ihr denkbar war und wirklich gedacht worden ist.

Es gibt Probleme, die sich erst dann stellen, wenn eine Sprache da ist, aus der sie auftauchen können. Wittgensteins Satzbau war die Angel, welche er in die Realität warf; was er einfing, glich seinem Satzbau aufs Haar, denn dieser Stil, etwas darzutun oder nicht darzutun, war von Anbeginn eins mit seines Urhebers oberstem Bedürfnis: Klarheit zu schaffen über eine Welt, in der sowohl gesprochen als geschwiegen, sowohl gedacht als gehandelt werden muß. „Meine Schwierigkeit“, schreibt er einmal in sein Tagebuch, „ist nur eine — enorme — Schwierigkeit des Ausdrucks.“ Ein solches Geständnis mutet ungewöhnlich an, geht es einem Philosophen vom Munde, und tatsächlich: das Ungewohnte war Wittgensteins rabiater Vorsatz, wann immer er sich mit einer Sache befaßte, sei’s mit der Logik, sei’s mit der Symboltheorie, sei’s mit der Sprachanalyse. Er stellte die Gewöhnungen in Frage, an denen der kritische Verstand, längst müde geworden, entschlafen war; den bequemen philosophischen Dünkel, der glaubt, es genüge über die Dinge zu reden, um sie selber zum Reden zu bringen. Aber was uns nicht in die Gegenstände hineinführt, das führt sie von uns weg.

Für „nichtssagend“ und „sinnlos“ erklärte daher Wittgenstein die allgemeinen Aussagen der Logik, das heißt: der Philosophen. Weil die Welt, der wir gegenüberstehen, aus einer Vielzahl voneinander unabhängiger Tatsachen zusammengefügt sei, vermöge die Erkenntnis nichts Handfesteres zu liefern als Abbilder einzelner, voneinander völlig unabhängiger Tatsachen. Alle allgemeinen — also alle philosophischen — Sätze seien darum tautologisch; sie wiederholten bloß die Kapitulation, zu welcher die Gesamtheit der Tatsachen (die Welt) unser Bewußtsein ohnehin zwinge. Rigoroser hat wahrlich niemand zuvor der Philosophie den Anspruch bestritten, nützlich oder sinnvoll zu sein. Eine ehrwürdige Mystifikation, die jahrzehntelang die Metaphysik mit guten Aussichten versorgt hat, gab Wittgenstein, kühl konstatierend, als schlechtes Denkmanöver preis. Er ließ Hypothesen platzen, um für Gründe und Gegengründe Platz zu bekommen. Seine gesammelte Achtsamkeit galt der Bedingung, unter der sich Erkenntnis, also auch Philosophie, als möglich erwiese. Die Bedingung lautete: Abschaffung der Philosophie. Es war ein Demontageauftrag, darin sich wie in einem Wetterleuchten die aufgestaute Spannung des europäischen Geistes, sein abgründiges Pointenspiel, entlud.

Dem Philosophen Wittgenstein, soviel ist sicher, war das Halsbrecherische seiner Revolte bewußt. Im Umgang mit Russells und Freges Entwürfen einer mathematischen Logik, in denen die Albträume und das Läuterungsbegehren der Vernunft zu subtilen Zeichen gerannen, hatte er sich in Vorsicht geübt. Auch wußte er, daß sich die Auflösung der herkömmlichen Denkmodelle, die er betrieb, gleichsam am lebendigen Opfer vollzog. Noch genossen ja philosophische Schulen in Europa beträchtliches Ansehen; die Phänomenologen hielten die Katheder der Epoche besetzt, und ontologisches Kunstgewerbe zirkulierte allerorten, zu Tagespreisen. Anderseits fand Wittgensteins Attentat auf den überlieferten philosophischen Interpretationskodex nicht unter Ausschluß der Zeit und ihrer hellhörigsten Partisanen statt. Im Gegenteil: die im „Tractatus logico-philosophicus“ erteilte Absage an alle Larvenseligkeit, ans hohle Ornament, an die geschmäcklerische Attitüde und den ganzen seichten Zierat sogenannter Weltanschauung kam nicht von ungefähr. Sie wuchs auf bestelltem Acker. Die Lust am kondensierten Bewußtsein beispielsweise, die hier, wohltrainiert, zu Buche schlug, hatte Entsprechungen in Musils, Brochs und Kafkas Werken. Maskenfeindlichkeit, Widerwillen gegen den Leerlauf von Phantasie, Schreibweise und Gebaren gediehen allenthalben: bei Karl Kraus, der die Sprache an ihren Sprechern rächte; bei Loos, der die Fassaden reinigte; in Schönbergs Kompositionsprinzipien.

So wagte Wittgenstein den Putsch. 1921 erscheint der „Tractatus“, eine aphoristische Sprengladung, eingeschmuggelt in die Gelehrtenstuben des Zeitalters. Als die Brenn-Sätze explodierten, brach sich die Druckwelle am deutschen Irrationalismus, der sich noch einmal, ein letztes Mal, entschloß, seine Antwort zu praktizieren.

Indessen ist Wittgensteins Experiment ein Experiment geblieben, ein Ernüchterungsversuch, und er machte sichtbar, wie wenig damit getan ist, Ernüchterung zu signalisieren. „Meine Sätze“, heißt es am Schluß des „Tractatus“, „erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er — durch sie — auf ihnen über sie hinausgestiegen ist. Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist. Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“ Derart hatte Wittgenstein die Selbstbezweiflung des Denkens in die Mitte seiner Gedanken gerückt, daß jene, ans Ziel gelangt, wieder ihrem Ursprung entgegenlief („ Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen“). Blieb also alle analytische Strenge am Ende unbelohnt? War alle Genauigkeit vergeblich gewesen? Der dem Gedanken ein neues Verhältnis zu sich selbst erfand, schien jetzt am tief Verhältnismäßigen des Gedankens zu scheitern. War das die Niederlage des Philosophierens noch einmal? Und worin bestand dann die Lehre dieser mit ungemeiner Konzentriertheit vollstreckten Entzauberung? Ihre Lehre besteht darin, daß nichts, was Bedeutung hat, gelehrt werden kann; es kann bloß gefunden werden. Nach dem Wesen sucht ausschließlich derjenige richtig, der es schon gedeutet hat. Wittgenstein, seinem eigenen labyrinthischen Verhör entronnen, bezeichnet als das Ergebnis seiner Denktorturen den Verzicht auf Ergebnisse. Unbeirrt hielt er fest an den Schwierigkeiten der Vernunft, die Realitäten zu bewegen, etwas über sie zu sagen. Als die große, beinahe tödliche Falle, in welche der Gedanke blindlings rennt, entdeckte er das Alleralltäglichste, die Dinge, deren „Sinn“ uns nur an ihrem Gebrauch aufgeht. Einsicht sei einzig dort zu gewinnen, wo eingesehen würde, was sie vereitelt.

Eigentlich hinterließ Wittgenstein nicht viel mehr als diese zuträgliche Unruhe, den Anstoß, den er am Denken nahm und der wiederum seine Gedanken den Philosophen so anstößig machte. Für ihn begann der Verrat bei der Täuschung, doch die Täuschung ließ sich nicht darstellen; sie konnte immer bloß gezeigt werden. Der Prozeß dieses Zeigens ist identisch mit Wittgensteins Werk; es lebt vom Indiz, und das corpus delicti, daran die Wißbegierde sich entzündet, war ihm die Sprache: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik.“ Kein Begriff reicht weiter als das Wort, das ihn trägt. Welcher Ansicht ich bin, hängt davon ab, was für eine Sprache mich hat; denn mit Worten mache ich ja nicht bloß etwas kenntlich, sie lassen mich auch etwas sehen. Der Geist einer Sprache — das ist die in ihr hinterlegte Deutung der Wirklichkeit. Wittgenstein spricht in diesem Zusammenhang von der „Lebensform“, einer Weise, Beziehungen zur Welt zu unterhalten, Beziehungen, welche das Wort erzeugt und begrenzt. Redend nehmen wir Besitz von den Dingen; aber redend geben wir sie auch verloren.

Wittgensteins Sprachkritik, darin dem Werk von Karl Kraus verwandt, ist der Heilungsversuch an einem Zeitalter, das vom belletristischen Schwindel zerrüttet ist. Ausdruck dieser Therapie sind die „Philosophischen Untersuchungen“ (1958 posthum erschienen), ein Protokoll kühlster Denkspiele und empfindlichsten Wortverstands. Hier, wie schon im „Tractatus“, gilt Wittgensteins Anstrengung der Auszehrung des Unsinns. Die Texte der „Untersuchungen“ sind Infektionsherde, die jede Halbschlächtigkeit mit Klarheit verseuchen, jede quallige Formel paralysieren. Sie machen Probleme todkrank, um sie zum Verschwinden zu bringen. Falschen Prämissen fährt Wittgenstein mit ihrer Anwendung ins Wort, eingedenk dessen, daß bloß wert ist zu dauern, was seinem Gebrauch standhält. „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben.“ Und: „Wir müssen erkennen, wie die Sprache für sich selbst sorgt.“ Die Kritik ist ein Geschöpf der Hoffnung; sie lebt zwischen den Welten, zwischen einer, die ihr, und einer, der sie zu nahe trat.

Den Schritt vom straffsten Kalkül, der im „Tractatus“ herrscht, zur Wortwurzelbehandlung, von der die „Philosophischen Untersuchungen“ geprägt sind, tat Wittgenstein nach Jahren fast völligen Schweigens. Als die Öffentlichkeit, probeweise, dieser Entscheidung ansichtig wurde, kam es zu Mißverständnissen, in denen sicherlich ein Kapitel moderner Geistesgeschichte tragisch beschlossen liegt. Die Vertreter des Neopositivismus und der Logistik, die den Verfasser des „Tractatus“ als einen der ihren betrachtet und bewundert hatten, fühlten sich im Stiche gelassen. Der „Wiener Kreis“ um Schlick, Carnap und Neurath wählte bald darauf den Weg in den physikalischen Detail-Naturalismus — einen Weg, der Wittgensteins Bahn nicht mehr zu kreuzen vermochte. Wittgensteins Sache war es nicht, eine Misere zu repetieren, aus der er einmal entkommen war. „Der Philosoph“, so schrieb er, „behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.“ Krankheiten, Defekte der Reflexion auszutreiben, blieb Wittgensteins erster und letzter Wunsch. So wagte er den Selbstversuch und setzte der Philosophie und ihrer Sprache ein Messer ans Herz. „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen ... Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, daß ihm dies einmal aufgefallen ist.“

Eine Bankrotterklärung der Philosophie? Ich fürchte, Wittgenstein hatte dem Bankrott bloß noch den Namen zu geben. Daß er dies tat (und wie er es tat), macht seine Texte zu einem Epochendokument; dessen Folgen sind mitten unter uns. Aber die Stunde Wittgensteins ist nicht wiederholbar, denn der Mann ist nicht wiederholbar, seine Verzweiflung nicht, und nicht sein Zweifel. Was er schrieb, gehört fortan denen, die es denken können. Aber nur einer, er, Wittgenstein, hat es schreiben, also denken müssen. „Der Satz ist das Maß der Welt.“ Es handelt sich darum, das Äußerste ertragen, weil das Selbstverständlichste verstanden zu haben.

[*Ludwig Wittgenstein: Schriften. Tractatus logico-philosophicus; Tagebücher; Philosophische Untersuchungen. (Suhrkamp Verlag, Frankfurt. 544 Seiten.)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1961
, Seite 98
Autor/inn/en:

Günther Busch: Jahrgang 1929, lebt in München und ist mit essayistischen und kritischen Beiträgen in Zeitschriften wie „Akzente“, „Wort und Wahrheit“ und anderen hervorgetreten; er arbeitet an einem Buch über die „Theorie der Kritik“.

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