FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 131
Hermann Mörth

Delogierte Meinungsfreiheit

FORVM verweist auf eine nunmehr elfjährige Regsamkeit als Marktplatz für Meinungsware von anderswo unanbringlicher Qualität und Quantität, als Stadion für den Amoklauf quer über geheiligte Weltanschauungs- sowie insbesondere Parteizäune. Gedeckt durch solche längst gefestigte Tradition lassen wir den sozialistischen Publizisten Hermann Mörth (Redakteur des Linzer Parteiorgans) getrost auf unsere Leser los.

Die folgenden Betrachtungen verdanken ihre Entstehung einem Schock. Als der von konservativer Intoleranz aus seiner Heimat verdrängte und an der Heidelberger Universität zu europäischer Bedeutung gelangte österreichische Soziologe, Professor Dr. Ernst Topitsch, am 12. September 1964 vor dem Linzer Bundestreffen Sozialistischer Akademiker sprach, schilderte er u.a. folgende bezeichnende Episode:

Der Inhaber eines Lehrstuhls für theoretische Physik an einer österreichischen Universität hatte damit begonnen, die Beziehungen zwischen Physik und Religion in eigenen Seminaren zu untersuchen. Die theoretische Analyse dieser Phänomene ließ sich gut an, die Seminare hatten großen Zulauf. Plötzlich wurden die vielversprechenden Untersuchungen — angeblich auf Veranlassung einer höheren kirchlichen Autorität — eingestellt.

Es geht hier nicht darum, daß eine kirchliche Autorität durch diese kurzsichtige Intervention die Kirche um die Chance gebracht hat, ihre Lehre durch die Begegnung mit der exakten Wissenschaft zu erhärten, wozu besonders die Untersuchung der Beziehungen zwischen dem religiösen und dem naturwissenschaftlichen Weltbild sehr viel versprechende Möglichkeiten böte, sondern darum, daß eine solche Beschränkung der verfassungsrechtlich verbürgten Lehrfreiheit an einer österreichischen Universität überhaupt möglich war. Natürlich hat man dabei die Rechtsform gewahrt. Die Seminare wurden nicht verboten, sondern stillschweigend eingestellt. Die Lehrfreiheit hatte vor einem Tabu haltgemacht.

Schlimmer als in Polen?

Professor Topitsch knüpfte an diese Schilderung eine für Österreich sehr bittere Schlußfolgerung. Wie er berichtete, sei seit der Übersetzung der einschlägigen polnischen Literatur ins Englische offenbar geworden, daß polnische Soziologen und Philosophen den im kommunistischen Machtbereich staats- und parteioffiziell geheiligten dialektischen Materialismus (Diamat) in einer Weise widerlegt hätten, wie dies im freien Westen bisher noch nicht gelungen war. Die mutigen polnischen Wissenschaftler hatten also vor dem Tabu des Götzen „Diamat“ nicht haltgemacht: Sie waren aber auch an diesem „Sakrileg“ nicht gehindert worden. An diesen Bericht knüpfte Ernst Topitsch die rhetorische Frage, ob die Lehr- und Gewissensfreiheit nicht im Begriffe sei, aus ihrem bisherigen Leuchtturm in Österreich delogiert zu werden und nach dem revisionistischen Osten zu emigrieren.

Diese Schilderung des namhaften liberalen österreichischen Soziologen hat mich erschüttert und alarmiert. Damals nahm ich mir vor, die Delogierung der Meinungsfreiheit auch in anderen Bereichen unseres kulturellen und politischen Lebens zu verfolgen. Das Ergebnis meiner lückenhaften, rein empirisch-kontemplativen Untersuchung ist im höchsten Grade beunruhigend. Die zwei Hauptergebnisse seien vorweggenommen:

Erstens: Die Meinungsfreiheit — nehmen wir diesen politischen Sammelbegriff für alle ihre Erscheinungsformen — wird tatsächlich aus einem öffentlichen Bereich nach dem anderen delogiert, von einem Reservat in das andere getrieben.

Zweitens: Die Wahrheit wird immer häufiger in der öffentlichen Diskussion rationiert, dosiert, verdrängt oder überhaupt totgeschwiegen.

Dialog ohne Dialektik

Bevor wir die Delogierung der Meinungsfreiheit in den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen betrachten, sind einige grundsätzliche Bemerkungen über die Wahrheit, die ja der Hauptgegenstand der freien Meinungsbildung und -äußerung sein soll, notwendig. Die umfassende Wahrheit bildet sich meines Erachtens aus dialektischem Widerstreit von These und Antithese zur Synthese. Die Ergründung ganzer Wahrheiten setzt also voraus, daß Thesen und Antithesen einander gegenübergestellt werden. In unserer verblockten „pluralistischen“ Apparatgesellschaft kommt jedoch der dialektische Dialog gar nicht mehr zustande. Thesen und Antithesen treffen nicht mehr aufeinander, sondern werden voneinander isoliert. Jede Gesellschaftsgruppe sichert sich vor der geistigen Wahrheit (Wirklichkeit) der anderen ab und benützt deren Verteufelung als Isoliermittel. Die meisten Menschen unserer Zeit leben in ihren interessenverfestigten, sloganbewehrten Zwingburgen beziehungslos nebeneinander. Ihre Freiheit wird schon bei der Suche nach der ganzen Wahrheit durch Tabus und Gruppeninteressen eingeschränkt. Die Meinungsfreiheit wird also bereits in ihrer Voraussetzung — der Meinungsbildung — behindert.

Kehren wir nun in der Beobachtung der allmählichen Delogierung der Meinungsfreiheit auf den akademischen Boden zurück. Die eingangs erwähnte Einstellung des Seminars über Religion und Physik beweist, daß die Meinungsfreiheit in Österreich auf akademischem Boden — ihrer ehemaligen Hochburg — keine Heimat mehr hat. Sie wird auf unseren Hochschulen schon in ihrer Voraussetzung — der objektiven Wahrheitsfindung— unterbunden. Denken wir nur daran, daß der Marxismus und der ganze wissenschaftliche Sozialismus von unseren Lehrstühlen für Philosophie, Soziologie und Nationalökonomie verbannt sind. Eine Lehre, die das Gefüge der Gesellschaft und die Landkarten der Erde wie keine andere geändert hat, wird auf unseren Hochschulen systematisch ignoriert, während man im Westen — vor allem in den Vereinigten Staaten — immer mehr Lehrstühle und Institute zur Erforschung des Marxismus errichtet. Aus dem Dienst an der Wissenschaft und an der objektiven Wahrheit ist auf unseren Hochschulen die Verdrängung unbequemer Wahrheiten geworden.

Entgeistigte Hochschulen

Dieser Verdrängungspraxis folgt auch die Personalpolitik an unseren Hochschulen. Wer auf liberalen oder christlichen Wegen zu Erkenntnissen gelangt, die mit dem konservativen Weltbild nicht übereinstimmen, wird von den Lehrstühlen gedrängt. Denken wir nur an den liberalen Soziologen Ernst Topitsch oder an den katholischen Moraltheologen Johannes Kleinhappl. Ernst Topitsch wurde in seiner Lehrfreiheit solange behindert, bis er das Feld räumte, und Johannes Kleinhappl wurde von seinem Lehrstuhl in die innere Verbannung gedrängt, weil er auf theologischem Wege zu ähnlichen sozialen Erkenntnissen gelangt war wie Karl Marx. Von dem erpresserischen Gewissenszwang, dem der jüngst verstorbene bedeutende katholische Soziologe August Maria Knoll in den letzten Jahren ausgesetzt war, wollen wir erst gar nicht reden. Die Liste der „geistig Verfolgten“ an österreichischen Hochschulen ließe sich noch eine Weile fortsetzen.

Wie ist es möglich, daß die Lehr- und Meinungsfreiheit aus ihrem ursprünglichen Stammbereich an den Hochschulen verdrängt werden konnte? Einfach deshalb, weil diese zu Parteidomänen des Konservatismus in Österreich geworden sind. Diese Tatsache ist schon derart im öffentlichen Bewußtsein und im Proporz verankert, daß es kaum noch zu vernehmlichen Protesten gegen die Verdrängung der Lehr- und Meinungsfreiheit aus den Hochschulen kommt. Wer sollte auch dagegen protestieren? Wer dessen von vornherein verdächtig ist, bekommt in der Regel keinen Lehrstuhl.

Hier könnte nun eingewendet werden, daß es immerhin einige sozialistische und deutschnationale, ganz vereinzelt auch wirklich liberale Professoren, Dozenten und Assistenten an unseren Hochschulen gibt. Ja, man hat einigen Sozialisten verschiedene weltanschaulich, kultur- und gesellschaftspolitisch bedeutungslose Lehrstühle nach dem Proporz überlassen. Die Duldung deutschnationaler Hochschullehrer erfolgt auf den Druck bürgerlicher Gesellschaftsgruppen, die das konservative Lager zu berücksichtigen hat. Das ändert jedoch nichts an der allmählichen Delogierung der Lehr- und Meinungsfreiheit. Im Gegenteil. Dieser geringfügige Proporzpreis sichert sie erst vor nachdrücklichen Protestaktionen. Damit wurde die unumschränkte konservative Herrschaft in der Hochschuldomäne erkauft.

Entgeistigte Presse

Wo bleibt da die Vorkämpferin der Meinungsfreiheit — die Presse? Klammern wir die an die Interessen und Intentionen ihrer Apparate gebundene Parteipresse aus dieser Erörterung vorläufig aus. Aber wie steht es mit der Meinungsfreiheit in der parteifreien „unabhängigen“ Presse? Sie kann keinem helfen, der in die konservativen Verdrängungsmühlen gerät. Die Meinungsfreiheit der bürgerlichen „unabhängigen“ Presse wird durch zwei Schranken begrenzt: durch die übereinstimmenden kapitalistischen und konservativen Interessen. Diese sind für die „unabhängige“ Presse tabu. Man kann sämtliche Jahrgänge der bürgerlichen „unabhängigen“ Zeitungen in der Zweiten Republik durchblättern, man wird in ihren Meldungen und Kommentaren kein Wort finden, das die kapitalistischen oder konservativen Interessen antastet.

Die bürgerliche „unabhängige“ Presse in Österreich ist das beste und vielseitigste Machtinstrument des Kapitalismus und Konservativismus, aber eben nur ein Instrument und als solches weder unabhängig noch frei. Die Meinungsfreiheit ist in ihren Blättern geschickt dosiert, rationiert und genau abgegrenzt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß sozialistische Publizisten in ihren Spalten ab und zu etwas schreiben dürfen. Das ist nur ein Alibi für den Schein der „Unabhängigkeit“.

Die Meinungsfreiheit wird aber auch durch die technische und kommerzielle Entwicklung des Pressewesens aus den Zeitungen verdrängt. Mit dem großen graphischen Aufwand der reich illustrierten Boulevard-Blätter können nur noch wenige seriöse Zeitungen konkurrieren. Die Folge ist eine zunehmende Monopolisierung des Pressewesens in der Hand mächtiger Finanzoligarchien. Diese Entwicklung hat in Frankreich, Westdeutschland und England schon zu einem mehr oder minder großen Zeitungssterben geführt. Aus den Gräbern seriöser Zeitungen schießen entgeistigte Massenblätter hervor, deren Hauptaufgabe zunächst in der Verhinderung jeder Urteils- und Meinungsbildung besteht. Da das Denken den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen nicht zuträglich ist, wird es durch Sensationsmache, Klatsch und seichte Unterhaltung paralysiert. Die Monopole bemächtigen sich aber zunehmend auch der meinungsbildenden Zeitungen und gestalten sie zu meinungsverbildenden Organen um. Die Paralysierung der Urteils- und Meinungsbildung durch die großen Pressemonopole offenbart wohl eine ideologische Schwäche des Bürgertums, kann aber gerade deshalb die totale Delogierung der Meinungsfreiheit aus der Presse zur Folge haben. Der Monopolisierungs- und Entgeistigungsprozeß im Pressewesen ist im Westen Europas schon in vollem Gange, kommt aber auch auf Österreich zu.

Proportionierter Rundfunk

Die übrigen Massenmedien, Rundfunk und Fernsehen, können wir ihres staatlichen Monopolcharakters wegen kürzer behandeln. Sie kommen als Heimstätten der Meinungsfreiheit und Spiegel der gesellschaftlichen Wahrheit von vornherein nicht in Betracht, weil sie nur Umschlagplätze der in den großen Macht- und Apparatgruppen vorgefilterten Teilwahrheiten sind. Sie können den von der Delogierung der Meinungsfreiheit Betroffenen kein Asyl gewähren. Sie können es noch weniger als die bürgerliche „unabhängige“ Presse, weil diese Massenmedien vollständig domänisiert sind. Die so viel beklagte Proporzteilung, die den Rundfunk der rechten und das Fernsehen der linken Reichshälfte zuweist, ändert übrigens nichts an der konservativen Vorherrschaft in den meinungsbildenden Faktoren dieser Institutionen. Bei der Diskussion der Chefredakteure zum Beispiel ist die konservative Übermacht schon dadurch gesichert, daß einem Sozialisten drei oder vier parteigebundene oder -ungebundene Konservative gegenüberstehen. Die konservative Mehrheit entscheidet auch über die Themenwahl. Die Konservativen könnten also mit dem meinungsbildenden Proporz in Rundfunk und Fernsehen durchaus zufrieden sein. Daß sie ihn ganz abschaffen wollen, beweist nur, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ein totales Monopol auf die Meinungsbildung in Österreich beanspruchen.

Konservative Herrschaftsideologie

Da schon so viel vom Proporz und der Domänenteilung die Rede war, können wir nun die Rolle der großen Parteiapparate in der Meinungsbildung und -lenkung beleuchten. Hiebei sei gleich vorweggenommen, daß die Sozialisten bei der Aufteilung der Einflußbereiche von den in der Menschenführung und Bewußtseinsbildung viel mehr erfahrenen Konservativen gehörig hineingelegt wurden. Die konservative Beherrschung des ganzen Unterrichts- und Wirtschaftswesens drängt die Einflußgebiete der Sozialisten — Domänen haben sie überhaupt keine, weil die konservative Bürokratie in ihren Ministerien sie wirksamer kontrolliert als jeder „Aufpasser“-Staatssekretär — weit in den Hintergrund.

Die Konservativen haben es trotz ihrer bündischen Zerklüftung auch insofern leichter, als bei ihnen das Interesse an der Aufrechterhaltung ihrer Vorherrschaft alle Gegensätze überwiegt. Bei ihnen gibt es auch kaum Widersprüche zwischen Ideologie und politischer Praxis, weil beide nur auf die Konservierung der bürgerlichen Vorherrschaft ausgerichtet sind. Vor allem brauchen die Konservativen der sozialistischen Mitherrschaft keine ideologischen Zugeständnisse zu machen. Die Erfüllung sozial- und wirtschaftspolitischer Forderungen der Sozialisten erweitert wohl die Aufgaben des Staates und verändert seinen Charakter, bleibt aber ohne Einfluß auf die konservative Herrschaftsideologie. Die Konservativen werden in der Doppelherrschaft mit den Sozialisten ideologisch nicht proletarisiert, wohl aber werden die Sozialisten verbürgerlicht.

Die Konservativen geraten auch nicht in Widerspruch zu ihrer Ideologie und Ethik, wenn sie die Meinungsfreiheit um der Aufrechterhaltung ihrer Vorherrschaft willen einschränken, weil ja deren Behauptung und Erweiterung der Hauptgegenstand ihrer Ideologie und Ethik ist. Sie handeln dabei gewissermaßen im Zustand der ideologischen Unschuld.

Die Sozialisten hingegen müssen ihrer staatspolitisch unumgänglichen Mitherrschaft in Österreich dauernd ideologische „Gewissensopfer“ bringen. Ihre Befreiungsidee gerät mit der Staatsraison immer wieder in Widerspruch, weil diese automatisch dazu neigt, sich alle ideologischen und ethischen Erwägungen unterzuordnen. Wie lösen nun die Sozialisten diesen Widerspruch? Durch zunehmende ideologische Konzessionen an die Mitherrschaft, die allmähliche Entideologisierung und Verbürgerlichung. Diese Entwicklung ist von „theoretischen“ Sozialisten (Günther Nenning) oft beklagt und kritisiert worden, sie hat aber zweifellos gewichtige soziologische und staatspolitische Beweggründe.

Sozialistische Gewissensopfer

Wie wirkt sich nun der Widerspruch zwischen der sozialistischen Ideologie und den Erfordernissen der Mitherrschaft im Staat auf die Meinungsbildung und -freiheit in der SPÖ aus? Zunächst einmal in der allmählichen Nachordnung ideologischer Zielsetzungen und Forderungen hinter den Notwendigkeiten des politischen Alltags. Das ist das Primat der Praxis vor der Ideologie — der viel beklagte Praktizismus. Nun besteht kein Zweifel daran, daß die wendigen und elastischen Praktiker der SPÖ in der Zweiten Republik staats- und parteipolitisch viel erfolgreicher sind als die intellektuell brillanten Theoretiker in der Ersten. Daraus ergibt sich natürlich eine Überbewertung der Praxis und ein verständliches Überlegenheitsgefühl der Praktiker.

Praktische Erfolge in der Tagespolitik verleiten verständlicherweise dazu, nicht nur die Meinungsbildung in der Partei ihren Erfordernissen anzupassen, sondern auch die Meinungsäußerungen in der Parteipresse danach auszurichten. Das geschieht beileibe nicht im Wege einer bewußten Meinungslenkung, sondern durch die Betonung von Prioritäten. Sie werden ganz zwanglos in den Vordergrund gerückt. Es wird hauptsächlich das gesagt und geschrieben, was den unmittelbaren Tageszielen dient, und verschwiegen, was ihnen schaden könnte.

Parteiraison weicht Staatsraison

Allmählich paßt sich die Parteiraison der Staatsraison an. Die Rücksicht auf sie bestimmt zwangsläufig, was gesagt und verschwiegen wird. Es entsteht ein Netz von Rücksichten: auf das Prestige der Partei, die tagespolitischen Ziele, die Reaktionen der Öffentlichkeit, die Gefühle und Interessen der Randschichten, die Wünsche der Wähler, die Mentalität der „Ehemaligen“, die Koalitionsverpflichtungen usw., in die sich die Partei verstrickt. Dieses Netz engt die Meinungsfreiheit immer mehr ein, ohne sie grundsätzlich anzutasten oder in Frage zu stellen.

Die zunehmende Verapparatung und Institutionalisierung der Partei, die proportionale Stellenbesetzung, die immer mehr Mitglieder und Anhänger in wirtschaftliche Abhängigkeit von ihr bringt, sind natürlich auch nicht dazu angetan, die Meinungsfreiheit zu fördern. Die Mitherrschaft im Staat und im verstaatlichten Sektor der Wirtschaft züchtet nicht nur das Managertum in den höheren Rängen der Partei, sondern auch eine Untergebenenhaltung in den unteren. Wie oft kann man von hauptamtlichen Parteifunktionären die Bemerkung hören: „Ich bin nur ein Angestellter der Partei.“ Obwohl sie oft ein Mandat haben, d.h. in ihre Funktion gewählt wurden, fühlen sie sich als bloße Exekutivorgane der Partei, die ihre Intentionen und Aktionen kritiklos auszuführen haben. Soweit haben die hierarchischen Verhältnisse in der staatlichen Bürokratie und in der Wirtschaft schon auf die Partei abgefärbt.

Sicher wird die den demokratischen Sozialisten teure Diskussionsfreiheit von der Verapparatung der Partei grundsätzlich nicht betroffen. Es wird jedoch immer weniger Gebrauch von ihr gemacht. Das wird nicht durch Verbote, bewußte Eingriffe oder Drohungen, sondern durch den Zwang objektiver Verhältnisse bewirkt.

Das aus der Mitherrschaft erwachsene Dilemma der Sozialistischen Partei steigert sich zur Tragödie, wenn sie sich gezwungen sieht, fundamentale Grundsätze ihrer Befreiungsidee den Notwendigkeiten der Mitherrschaft unterzuordnen. Das ist dann der Fall, wenn sie gegen die Verletzungen der Meinungs- und Gewissensfreiheit, wie sie in den konservativen Domänen in voller herrschaftsideologischer Unschuld laufend praktiziert werden, nur temperiert protestieren, aber nicht aktiv dagegen einschreiten kann. Es ist ein Ruhmesblatt für die Sozialistische Partei, daß der hartnäckige Kampf gegen die konservative Intoleranz und Machtaneignung das „tägliche Brot“ ihrer Auseinandersetzungen mit dem Koalitionspartner bildet. Die ÖVP und die konservative Presse können aus ihrer herrschaftsideologischen Mentalität heraus in dieser Auseinandersetzung nur einen „Postenschacher“, einen macht- und personalpolitischen Konkurrenzkampf sehen. Im tiefsten Grunde rebelliert jedoch das sozialistische Gewissen gegen die Verletzung elementarer Menschenrechte. Es rebelliert gegen die Degradierung der Menschen zu Objekten der Machtpolitik.

Läuternde Olah-Krise?

Das sozialistische Gewissen rebelliert auch gegen die herrschaftsideologische Infektion, die die Mitherrschaft mit sich bringt. Die Narkotika der Macht haben es noch nicht zum Schweigen gebracht. Es hat gegen die „kleine Koalition“ mit der FPÖ rebelliert, es regt sich fast täglich gegen augenfällige Erscheinungen des Machtmißbrauchs. Ich mache mir trotzdem über den Grad der herrschaftsideologischen Infektion in der SPÖ keine Illusionen; die „Olah-Krise“ hat ihn angezeigt. Aber sie ist ausgebrochen, weil sich sozialistische Spitzenfunktionäre gegen die herrschaftsideologische Infektion der Parteiführung gewehrt haben. Das macht die Führungskrise in der SPÖ zu einer Auseinandersetzung der sozialistischen Befreiungsidee mit der konservativen Herrschaftsideologie in den eigenen Reihen. Da es hier um die humanitäre freiheitliche Grundsubstanz des demokratischen Sozialismus geht, glaube und hoffe ich, daß er geheilt und geläutert aus dieser Krise hervorgehen wird.

Die hier angestellte Betrachtung zeigt, daß die allmähliche Delogierung der Meinungsfreiheit dem Konservativismus immanent, dem Sozialismus jedoch entgegengesetzt ist. Sie zeigt aber auch, daß die Sozialistische Partei von der konservativen Herrschaftsideologie durch die Mitherrschaft im Staat und die Partnerschaft mit der ÖVP infiziert worden ist. Die Widerstandskraft der Sozialisten gegen diese Infektion ist aber noch nicht gebrochen. Vielleicht könnte sie durch eine Distanzierung der Partei von der Staatsmacht, durch die Trennung von Staats- und Parteifunktionen gestärkt werden. Darin läge Hoffnung, daß die Meinungsfreiheit ihre Positionen nicht nur in der SPÖ, sondern auch in Österreich wiedererobert. Die ÖVP hat die Trennung von Staats- und Parteifunktionen schon viermal versucht. Es war vergeblich, weil es sinnlos war. Konservative Herrschaftsideologie und Staatsraison sind untrennbar. Sozialistische Befreiungsidee und Staatsraison stehen jedoch im Widerspruch zueinander. Hier wäre eine Trennung sinnvoll. Sie könnte vielleicht wie folgt durchgeführt werden:

Sozialistische Persönlichkeiten könnten weiterhin in die Regierung delegiert, sie müßten aber von ihren Parteifunktionen entbunden und von einer staatsunabhängigen SPÖ kontrolliert werden. Wenn eine von der Mitherrschaft distanzierte und dann re-ideologisierte SPÖ, wenn eine so starke Gesellschaftsgruppe der Meinungsfreiheit wieder Schutz und Obdach böte, brauchte uns um deren Bestand nicht bange zu sein.

„Wer steht schon hinter ihm?“

Wird die Meinungsfreiheit in Österreich obdachlos? Die Gefahr ist groß. Die weitere Verfilzung und Verzahnung der Machtinteressen in der Doppelherrschaft und die Verfestigung der Einfluß- und Wirkungsbereiche der Regierungsparteien könnte zu Nichteinmischungspakten, zur gegenseitigen Absichgrung der Domänen führen. Derartige Pakte würden die Pressions- und Verdrängungsopfer in den Domänen jedes Schutzes berauben. Entsprechende Totschweigepakte würden sie obendrein noch mundtot machen. Als Präventivmaßnahme gegen derartige Gefahren böte sich der vom sozialdemokratischen Staatssekretär a.D. Dr. Julius Deutsch schon vor längerer Zeit vorgeschlagene legislaturperiodische Wechsel in der Besetzung der Ministerien an. Eine immense Gefahr droht der Freiheit der Meinung auch daher, daß ihr Gewicht nicht mehr nach dem Wahrheitsgehalt, sondern nach der gesellschaftlichen Macht ihrer Verfechter und deren „pressure groups“ gemessen wird. Wie oft hört man nicht folgende Reaktion auf eine richtige Aussage: „Recht hat er ja, aber wer steht schon hinter ihm?“

Die Freiheit ist ein solcher Höchstwert, daß man alles aufbieten müßte, um ihr wieder mehr Spielraum zu gewinnen. Diesen sehe ich vor allem im demokratischen Sozialismus, wenn es ihm gelingt, die herrschaftsideologische Infektion durch eine angemessene Distanzierung von der Staatsmacht zu überwinden. Er allein wäre imstande, der in unserer pluralistischen Apparat-Gesellschaft so vielfach bedrohten Freiheit eine Gasse in die Zukunft zu bahnen, wenn er zu seinem ideologischen Auftrag, die Menschen von jeder Unterdrückung und Ausbeutung zu befreien, zurückfände. Denn dieser Befreiungsauftrag weist über den Staat hinaus in die klassenlose Gesellschaft.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1964
, Seite 532
Autor/inn/en:

Hermann Mörth: Redakteur des Linzer „Tagblattes“, gehörte als Autor der „Zukunft“ und des FORVM zu den profiliertesten sozialistischen Publizisten Österreichs.

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