FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1963 » No. 112
Eugen Gürster

Das Rätsel der Dummheit

Aus einem im Scheffler-Verlag, Frankfurt, erscheinenden Buch

In seinem Buch über die Dummheit gesteht Robert Musil ganz offen: „Ich weiß nicht, was sie ist.“ In diesem Sinne wüßte jeder zum Bewußtsein erwachte Mensch von der Dummheit zwar zu sagen, daß sie ein mächtiges, gefährliches, hemmendes Lebenselement ist, aber es fiele ihm schwer, genau anzugeben, wie denn ihr Wesen beschaffen sei. Mit der Dummheit geht es einem wie mit dem Bösen. Man weiß und spürt, daß es vorhanden ist und alle Zeit und überall wirksam werden kann; aber der Begriff des Bösen scheint sich — ebenso wie der der Dummheit — zu verflüchtigen, wenn man ihn definieren will. Oft sieht es so aus, als würde man sich auf dieser Jagd nach der Dummheit ganz im Subjektiven verlieren; es scheint ja vom Standpunkt des Betrachters, von seinem Charakter, von seinem Temperament abzuhängen, was ihm dumm oder böse erscheint. Und doch: Wer sein eigenes Leben und das Leben der Gemeinschaft um ihn rückschauend betrachtet, muß immer wieder mit Melancholie entdecken, wie Ausbrüche individueller oder allgemeiner Dummheit die Verwirklichung hochfliegender Pläne verhindert oder irgendeine hoffnungsvoll begonnene Entwicklung unterbrochen haben.

Wir rühren also geradezu an das Geheimnis der menschlichen Existenz, wenn wir über die Rolle der menschlichen Dummheit im Ganzen des Lebensprozesses nachdenken. Wie wir Krankheiten bekämpfen und heilen, aber die Krankheit selbst nicht aus der Welt schaffen können, so können wir wohl diese oder jene Dummheit durch Einsicht und Aufklärung zum Verschwinden bringen, aber nicht die Dummheit selbst. In diesem Sinne ist der Kampf gegen Dummheit wie der gegen Krankheit ein Kampf ohne Ende, ein Kampf also, der jene kleine Ewigkeit dauern wird, die uns auf dieser Erde vom Schicksal zugemessen ist.

Nach diesem notwendigen Vorbehalt gegenüber dem „Begriff“ der Dummheit dürfen wir die Behauptung wagen, daß es zweierlei Dummheit gibt. Einmal die Dummheit gewissermaßen als Anlage, als eine natürlich bedingte Unfähigkeit „zur unmittelbaren Auffassung der Verkettung von Ursache und Wirkung, Motiv und Handlung“, wie sich der Philosoph Schopenhauer ausdrückt, als „ein mehr oder minder eingegebener Mangel an Schärfe, Schnelligkeit, Leichtigkeit der Anwendung des Gesetzes von Ursache und Wirkung, das heißt, an Kraft des Verstandes.“ Dieser Mangel ist es, der uns einen bestimmten Menschen dumm nennen läßt. Nebenbei bemerkt, darf es als ausgemacht gelten, daß auch die Dummen zur großen Ökonomie des Lebens gehören und daß schon dem oberflächlichen Nachdenken eine Menschheit als unerträglich, ja lebensunfähig erscheinen müßte, in der es keine Dummen mehr gäbe. Vielleicht dürfen wir solche „dumme Menschen“ als eine Art Humus des Lebens und der menschlichen Existenz auffassen.

Die gefährlichere Spielart der Dummheit aber, deren Auswirkungen tiefer gehen als die der primitiven, sozusagen „natürlichen“, ist die Dummheit der Menschen von normaler, ja auch von hoher Intelligenz. Hier ist sie eine Art Verdunkelung des Verstandes und der Vernunft. Diese Verdunkelung entsteht dadurch, daß solche Menschen plötzlich von einer elementaren Leidenschaft — aus der Tiefe des Geschlechtstriebs heraus etwa — überwältigt werden oder von irgendeinem, alle Hemmungen des Gedankens wegspülenden Urgefühl des Hasses, des Zorns, der Eifersucht.

Eine solche Leidenschaft kann nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Gruppen, ja die ganze Menschheit ergreifen. Auch geistige Ziele, ja humanitäre Visionen einer besseren und gerechteren Menschheit können uns so übermannen, daß wir die Verwirklichung solcher Ziele auch dann wollen, wenn wir damit unseren und unserer Mitmenschen Untergang herbeiführen. Karl Marx hat einmal davon gesprochen, daß gewisse Ideen gleich Dämonen von unserer Seele Besitz ergreifen, so daß wir alle Bedenken über Bord werfen, die ihnen entgegenstehenden Schwierigkeiten nicht mehr sehen und lieber kein Leben wollen als ein Leben, in dem solche Visionen und Wünsche nicht verwirklicht sind. So hat der letzte deutsche Kaiser einmal in einem Anfall eines ins Absurde entgleitenden Eifers erklärt, Deutschland würde lieber „seine 18 Armeekorps und 72 Millionen Einwohner auf der Walstatt liegen lassen, als einen einzigen Stein seiner Eroberungen von 1870 zu verlieren“.

In solchen Erklärungen wird der welthistorische Aspekt einer Dummheit sichtbar, die lieber den eigenen und der Mitmenschen Untergang wünscht als das Weiterleben in einer Welt, in der die eigenen Ideale oder Zukunftsvisionen nicht ganz erfüllt werden. Vielleicht können wir gerade hier das Geheimnis der Dummheit ein wenig lüften und erkennen, daß wir durchaus fähig sind, unter dem Druck einer Passion oder eines Wunschbildes das Ganze des Lebens, in das wir hineingestellt sind, nicht mehr wahrzunehmen. Die große Vision macht den von ihr Ergriffenen vor allem dadurch dumm, daß sich sein Gefühl abstumpft für die Leiden, die er durch die Verwirklichung seines Ideals oder seines Wunschbildes hervorruft. Er ist dann bereit, Millionen Feinde, aber auch Angehörige des eigenen Volkes zu opfern. Er ist immun geworden gegen die in jeder menschlichen Seele aufsteigenden Regungen des Mitleids, weil diese tragische Dummheit nur mehr ein einziges verengtes Ziel sichtbar werden läßt, während alles andere im Dunkel des scheinbar Nebensächlichen versinkt. Eine solche Dummheit bewirkt dann auch, daß man gar nicht mehr sich zu fragen imstande ist, ob das Ziel, das sich unserer Seele bemächtigt hat, sich unter den gegebenen Umständen überhaupt erreichen oder dauernd behaupten läßt.

Wo aber die Torheit herrscht, setzt auch ein geistiger Austrocknungs- und moralischer Verarmungsprozeß ein — selbst dann, wenn wir, im Dienste der Leidenschaft oder im Banne einer von der wild wachsenden Phantasie unserer Vernunft vorgezauberten Vision, die Fülle des Lebens zu besitzen glauben. In der mittelalterlichen Tristan-Sage wird der Held Tristan durch den Zaubertrank, den ihm eine Törin bereitet, dahin gebracht, daß ihm Isolde, die Braut seines Königs, plötzlich als einzig begehrenswertes Lebensziel, als die Verwirklichung seines individuellen Lebensdranges erscheint, neben der alle anderen Motive und Impulse — Freundespflicht und Loyalität etwa — unwirksam verblassen. Ganz ähnlich wird jeder Mensch erst zum Opfer und dann zum aktiven Beförderer einer Torheit, sobald er glaubt, daß seine Nöte aus einem einzigen Punkt kuriert werden können und daß ihm irgend etwas in dieser vergänglichen Wirklichkeit die völlige Erfüllung schenken kann.

Im Grunde ist eine solch totale Hingabe an irgendein Ziel auf Erden eine schon wieder ins Metaphysische hinüberreichende Dummheit, weil in ihr die Anmaßung mitschwingt, als könnten wir die ganze Lebensfülle in unseren Blick nehmen, als seien wir eingeweiht in die Pläne der Vorsehung, als wüßten wir klar und eindeutig, worin unser Glück und das Glück der Menschheit eigentlich bestehe. Wo und wann immer wir zu wissen glauben, worauf das Menschenleben eigentlich angelegt ist, befinden wir uns bereits im Vorhof der Torheit. Es gehört zu solcher Torheit, daß sie nur noch auf ihre eigene Stimme hören und die Worte der Selbstbestätigung vernehmen will. Wo noch gezweifelt wird, ob man wirklich völlig im Rechte sei, wo noch der Möglichkeit Raum gegeben wird, daß das eigene Ideal nicht für alle Menschen verbindlich sein könne, wo das Bewußtsein nicht preisgegeben wird, daß wir alle in jedem Augenblick der Gefahr eines Irrtums oder einer Fehlorientierung unseres Lebens ausgesetzt sind, da kann die Dummheit noch nicht viele Wurzeln schlagen.

Der bedingungslosen Hingabe an ein absolut genommenes irdisches Ideal folgt stets die Verteufelung der Gegner dieses Ideals auf dem Fuße. Hier ist der Punkt, an dem Dummheit und Bosheit, Dummheit und Grausamkeit eine unheimliche Verbindung eingehen. Im Sinne des (auch von Schopenhauer zitierten) spanischen Sprichworts „Nunca la necedad anduvo sin malicia“ („Die Dummheit geht immer Hand in Hand mit der Bosheit“) scheint jegliche fanatische Hingabe an ein vermeintliches totales Ziel (nationalistischer, kommunistischer, aber auch ganz allgemeiner Art: man denke nur an Nietzsches Idealbild des Übermenschen) der auf dem Grunde der Menschenseele schlummernden Grausamkeit plötzlich eine geheime Tür zu öffnen. Man erlaubt sich jetzt, grausam zu sein, weil man dem Wahne unterlegen ist, irgendein Ziel rechtfertige, ja gebiete die Vernichtung des Gegners und dieser sei eigentlich gar kein Mensch mehr, weil er der Gegner jener Idee ist, die von unserer Seele Besitz ergriffen hat.

Die entsetzlichen Brutalitäten, die in den letzten Jahrzehnten in den Konzentrationslagern verübt wurden, sind mit einer Grausamkeit durchgeführt worden, die sich an dem Wahn inspiriert hat, daß der Verwirklichung eines totalen Zieles, sei es des tausendjährigen Reiches, sei es der perfekten kommunistischen Gesellschaft, die Gegner geopfert werden müssen. Dieser Wahn vermag zwar nicht anzugeben, wie die von ihm projizierten Zukunftsvisionen nationaler oder sozialer Art im einzelnen auszuführen seien, aber er glaubt, daß mit Beseitigung aller Gegner dieser Visionen bereits die erste Stufe zur Verwirklichung des angestrebten Ziels erreicht sei. So erscheint als oberster Leitsatz der Dummheit die Maxime: Der Gegner unserer Ideen und Lebensziele hat keinen Anspruch auf Menschenwürde und Menschenrechte. Ich muß aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte heraus dazu bemerken, daß solche Verteufelung des Gegners, die ihm das primitive Lebensrecht aberkennt und sich effektvoll gegen Regungen des Mitleids abdichtet, bei Menschen von höherer Verstandeskraft, bei den vermeintlich Gebildeten also, häufiger anzutreffen ist als bei sogenannten einfachen Seelen, die kraft eines eingeborenen Mißtrauens gegen alle großen Worte auch gegen großartige Zukunftsvisionen weniger empfänglich sind.

Immer wieder habe ich im Ersten Weltkrieg erlebt, wie sich einfache Leute leichter von Regungen des Mitgefühls mit einem Verletzten oder einem in Bedrängnis geratenen Feinde überwältigen ließen als die sogenannten Gebildeten, die sich als Führerpersönlichkeiten fühlten. In seinem bedeutsamen Bismarck-Buch schreibt Werner Richter, daß sich Johanna von Bismarck während des Krieges von 1870 darüber empörte, daß man gefangene Franzosen in deutsche Lazarette aufnahm, „statt sie krepieren zu lassen“. Wer Bismarcks Feind auch nur zu sein schien, war bereits der ihrige und hatte seine Lebensberechtigung verwirkt.

Mit einem totalen Ziele ist man also nicht nur, wie einmal Nietzsche vermeinte, jeder Moral überlegen, man ist auch für jede Dummheit aufgeschlossen. Man ist es, weil man den Teil, nämlich das Ziel und den Willen eines einzelnen, für das Ganze nimmt und damit auf eine fürchterliche Weise den Erdengott spielt, der alles seinem Wollen Entgegenstehende vernichten darf. „Dieu le veut“ riefen die Kreuzfahrer und glaubten sich so zur Ausrottung der Andersgläubigen gewissermaßen durch göttliche Ermächtigung befugt; so hat immer die Dummheit gesprochen und sich zu blutigen Taten ermächtigt gefühlt, auch heute, wenn sie statt des Wortes Gott den anmaßenden Begriff von der „geschichtlichen Notwendigkeit“ im Munde führt.

Bei Schopenhauer steht der Satz: „Il y a un mystère dans l’esprit des gens qui n’en ont pas“: „Es ist etwas Geheimnisvolles um den Geist von Leuten, die keinen Geist haben.“ Geheimnisvoll ist in der Tat die Rolle der Dummheit in der großen und kleinen Ökonomie des Daseins; schwer zu ergründen und zu begründen ist auch die Tatsache, daß der Beschränkte mit dem Leben im Großen wie im Detail sehr oft besser zurechtkommt als der geistig bedeutende, ja der geniale Mensch. Liegt es daran, daß seiner Lebenssubstanz ein vielleicht allzu geringer Zusatz von Dummheit beigemischt ist? Sicherlich hängt die günstigere Position des beschränkten Menschen damit zusammen, daß das Ganze des Lebensprozesses mit dem Geist, mit der Vernunft allein nicht zu bewältigen, ja nicht einmal zu begreifen ist. Wenn Goethe einmal davon spricht, daß das Leben, durch Vernunft dividiert, nicht aufgeht, so will er damit andeuten, daß unsere Existenz gewissermaßen wie Blasen Probleme aufwirft, die vom Geistesmenschen gesehen, aber nicht zureichend erfaßt oder gar gelöst werden können: das Problem des Leidens gehört hierher, die Funktion des Bösen, und schließlich das Rätsel aller Rätsel, der Tod.

Gerade der geistgeschlagene Mensch kommt von der Hoffnung schwer los, daß das Leben einen für ihn erkennbaren Sinn haben müsse; gerade er ist geneigt, auch in einbrechenden Katastrophen, in Kriegen und Revolutionen einen „tieferen Sinn“ zu sehen, und spricht von einem Walten der Vernunft in der Geschichte auch dort noch, wo der einfachere Mensch nur mehr die Katastrophe und das Elend sieht, die zu deuten er sich unfähig weiß. Ich erinnere mich an eine Szene, die ich in meiner Jugend am Odeonsplatz in München erlebte. Es war der Tag, an dem die ersten Kanonen aus der Schlacht von Lothringen im Triumph eingebracht wurden. Die Begeisterung war allgemein, und die führenden Geister der Stadt beeilten sich, dem Vorgang eine weltgeschichtliche Bedeutung zu unterlegen. Man war gerade in akademischen Kreisen rasch dabei, einen Sieg deutscher Waffen mit einem Sieg des deutschen Geistes zu verwechseln, und gab sich den wildesten Kultur-Spekulationen hin. Ein Professor, der mit einigen Studenten an der Feldherrnhalle stand, sprach enthusiastisch davon, daß es der Geist Kants, der Geist Fichtes sei, der hier gesiegt habe. Und in der Tageszeitung ließ gerade — ich erinnere mich ganz genau — Deutschlands berühmtester Romancier den Satz verlauten, er hoffe, daß im besten seiner Werke etwas von dem lebendig sei, was die Welt den „deutschen Militarismus“ nenne.

In dieser Stunde wurde ich Ohrenzeuge eines halblaut geführten Gespräches von drei Bauern aus der Dachauer Gegend, aus denen die Angst vor dem Kommenden spürbar wurde. „Jetzt jubeln sie alle“, sagte einer, „aber bald werden die meisten weinen.“ Vier Jahre später mußte ich noch einmal an die Worte des Bauern an der Feldherrnhalle denken, als ich nämlich eine Aufführung von Mussorgskys „Boris Godunow“ sah und von der kleinen Szene des Jurodiwi tief ergriffen wurde. Jurodiwi ist jener Arme im Geiste, der am Ende des ersten Aktes inmitten der Volksmenge, die den Einzug des falschen Zarewitsch jubelnd begrüßt, von angstvollen Zukunftsahnungen ergriffen wird und in die Klage ausbricht: „Dunkelheit kommt über uns — weine, weine, russisches Volk!“ Der französische Botschafter in Moskau, Maurice Paleologue, wohnte am Abend des Ausbruchstages der russischen Revolution im Jahre 1917 einer Aufführung des „Boris Godunow“ bei und notierte in sein Tagebuch, ihm sei zumute, als rufe der arme Tor auf der Bühne bereits sein „Wehe“ über die Unheilszeit aus, die soeben im Namen eines grandiosen Zukunftskonzepts begonnen hatte.

Menschliche Geschichte in ihrer Schrecklichkeit, ihren versäumten Gelegenheiten, mit den im Lauf der Jahrhunderte immer wieder zerstörten Hoffnungen und enttäuschten Erwartungen gibt es überhaupt nur, weil es die Dummheit (und die mit ihr so oft verschwisterte Bosheit) gibt. Im Paradies und in der Hölle gibt es keine Dummheit; vom Menschen aber, wie er immer war und immer sein wird, muß der Sinnspruch Friedrich von Logaus gelten: „Wenn keine Dummheit mehr wird sein, so wird die Menschheit gehen ein.“ So sehr wir die in schöner Alters-Patina schimmernde Tugend der Weisheit schätzen und in der Theorie verklären, so wenig sind wir geneigt, einen Menschen als vollwertig anzuerkennen, der in jedem Moment seines Lebens weise gewesen sein will. Mit berechtigter Ironie spricht Robert Musil in seinem „Essay über die Dummheit“ von dem Bereich der Weisheit als von einer „öden und mit Recht gemiedenen Gegend“. So wandelt der von den lauttönenden Appellen der vielköpfigen und vielgestaltigen Dummheit immer wieder angerührte Mensch auf einem schmalen Gratweg: Etwas Blindheit hat er nötig, um überhaupt leben zu können. Wenn aber die Verblendung durch Dummheit bei ihm zum Dauerzustand wird, verspielt er seine Existenz.

Thomas von Aquin spricht einmal ausdrücklich von einer Dummheit, die sündhaft ist. Diese bestehe in einer freiwilligen Abstumpfung des Geistes, der dadurch nicht mehr imstande sei, Geistiges zu beurteilen; so komme es zu einer (im Grunde gewollten) Erstarrung des Urteilssinnes, ganz besonders in bezug auf die „höchste Ursache“, die Endziel und höchstes Gut des Menschen sein soll. In ihrem vor kurzem erschienenen Buch „Vom Wesen und Ursprung der Dummheit“ behandelt Annie Kraus diesen Schuld-Aspekt der Dummheit. Sie interpretiert die Dummheit als ein Engagement im negativen Sinne: Der dumme Mensch ist der Mensch, der sich negativ engagiert hat, der sich abschließt von der Fülle der Welt.

Bei Thomas von Aquin erscheint die Dummheit als eine Art Haß auf das Sein, als Ausdruck eines dämonischen Stolzes, der sich vermißt, das Ganze der Weltenwirklichkeit beurteilen und verwerfen zu können. Ein nach dieser Interpretation dummer Mensch weigert sich, die über die Wirklichkeit hinausführenden Chiffren abzulesen und zu deuten. Er bleibt „dumm“ in den Tatsachen stecken, hält sie für die allerletzte, einzige Realität und weigert sich, über sie hinaus zu denken. Ausdrücklich spricht Thomas von Aquin von einer Dummheit, die „aus einem geistigen Hindernis, nämlich aus der Versenkung in das rein Irdische“ hervorgehe, und meint, daß eine solche Dummheit aus dem Laster der „Luxuria“ zu erklären sei, das der große Theologe als zügellose Genußsucht im materiellen Bereich versteht. Demzufolge werde in der Dummheit eine Art Bequemlichkeit des Geistes wirksam, die sich mit den Fakten, mit der greifbaren Wirklichkeit zufrieden gibt und selbstgenügsam auf die Suche nach einem durch die Dinge hindurch zu ahnenden Sinn-Zusammenhang verzichtet.

Auf eine solche Dummheit ist in jenem biblischen Gleichnis angespielt, in dem von dem Knechte die Rede ist, der das ihm vom Herrn übergebene Pfund in die Erde vergräbt; er wird am Tag des Gerichts verworfen, weil er mit seinem Pfunde nicht gewuchert hat. In einer schuldhaften Stumpfheit des Geistes scheint er dieses Pfund als „bare Münze“ und nichts weiter genommen und in seiner Phantasielosigkeit nicht erkannt zu haben, daß er mit diesem Pfund (unter dem wir symbolisch die Tatsachen-Wirklichkeit verstehen dürfen) in schöpferischer Gestaltung etwas hätte anfangen sollen. Solange der Mensch nur als biologisch gefaßtes Lebewesen an die Dinge der Wirklichkeit herantritt, bleibt er „dumm“; er weiß mit ihnen nichts anzufangen, verfällt ihnen schließlich und wird (aus Dummheit) mitschuldig, wenn das Dschungel geistloser Gewalttätigkeit sich immer dichter um ihn ausbreitet.

Eine Katastrophe wie der Erste Weltkrieg stellt darum eine Dummheit von weltweiten Ausmaßen dar, weil hier der Mensch (oder besser gesagt: die ihre Zeitgenossen repräsentierende politische und geistige Elite) die Machtspannungen und das aus ihnen resultierende allgemeine Gemetzel mit einer bis zum bitteren Ende durchgehaltenen Entschlossenheit betrieben hat, als hätte es sich hier um letzte Fragen der menschlichen Existenz, ja um eine das Menschsein überhaupt betreffende Entscheidung gehandelt. Daß wir nach zweitausend Jahren christlicher Existenz wieder vom totalen Krieg reden können, der keinen ausnimmt und den Menschen als Gattung von der Erdoberfläche wischen könnte, ist die letzte Konsequenz einer schon ins Metaphysische reichenden Dummheit, die den animalischen, bestialischen Impulsen der tierischen Natur gegenüber das Zauberwort des Geistes nicht mehr findet. Der Mensch ist nicht per se ein Raubtier, wie Oswald Spengler meint, sondern das Raubtier darf die Zähne erst fletschen, wenn der Geist in schuldhafter Dummheit vor der Macht der blinden Instinkte kapituliert.

Wie es eine Dummheit des Träumers gibt, der die Tatsachen nicht beachten will und darum leicht einer Mystifikation oder einem modernen Mythos verfällt, so gibt es auch eine ganz besondere Dummheit des sogenannten Realisten und Realpolitikers. Diese Menschen wollen, befangen in ihrem Dienst an der Tatsachenwelt, die immer bestehende Möglichkeit des Unvorhergesehenen, des Nicht-Berechenbaren, ja des Wunderbaren leugnen und ausschließen. So mancher moderne Staatsmann und Militär hat alle Daten im Kopf, hat alles reiflich erwogen und in Rechnung gestellt, nur das eine nicht: daß das Leben aus geheimnisvollen, dem Verstande nicht zugänglichen Quellen gespeist wird und darum von dem nichts als kalkulierenden Verstande nie ganz durchschaut werden kann. Eine Dummheit dieser Art kann dem Menschen einreden, den alle Tatsachen überfliegenden Drang des menschlichen Geistes und des menschlichen Herzens nach einer in dieser Wirklichkeit gar nicht zu erreichenden Vollendung zu leugnen und dem Tode oder dessen Anwalt, der Vergänglichkeit, das letzte Wort einzuräumen.

Die Dummheit des Realpolitikers findet schon dadurch hienieden ihre Strafe, daß sie von der kompakten Macht der Tatsachen überwältigt wird, die er nicht im Sinne einer höheren geistigen Aufgabe interpretieren konnte. Daß die im Zweiten Weltkrieg siegreichen Westmächte die mit dem Untergang des Nazireiches gestellten politischen Probleme nicht meistern konnten, daß ihnen auf allen Fronten der Sieg aus den Händen rutschte und darum heute niemand mehr sagen kann, ob wir noch in einer Nachkriegszeit oder schon in einer Vorkriegszeit leben: diese neue Katastrophe ist keineswegs darauf zurückzuführen, daß man sich im Lager der Sieger etwa zu wenig mit den statistisch erfaßbaren Tatsachen und der wissenschaftlichen Bearbeitung der andrängenden Probleme befaßt hätte. Sondern vielmehr auf den Wahn, daß die wissenschaftlich und statistisch erfaßbaren Tatsachen, die in zahllosen Kartotheken deponierten „facts and figures“ bereits den Schlüssel zur Bewältigung einer einmaligen weltpolitischen Situation liefern würden.

Auf Kabinettskriege der alten Schule konnte verhältnismäßig leicht ein Frieden folgen, der für ein paar Jahrzehnte Ruhe und Sicherheit verbürgte. Wo aber die Dummheit nationaler Selbstverblendung und -vergottung im Spiele ist, kann kein wahrer und dauernder Frieden mehr geschlossen werden, weil man eine immer zufällige Waffenentscheidung törichterweise als ein Strafgericht des Schicksals zu erleben oder als dessen Exekutor aufzutreten entschlossen ist. Im Jahre 1870 fragte sich der bedeutende Historiker Treitschke geradezu, wie jemand überhaupt so blind sein könne, „in den wunderbaren Geschehnissen des ersten preußisch-französischen Krieges nicht das Wirken göttlicher Vernunft zu erblicken“ — die uns Deutsche zwinge, ein Volk zu werden. Und als sich die französische Armee in Sedan bereits ergeben hatte und die ersten Anfänge jener nationalen Todfeindschaft sichtbar wurden, an der sich Generationen verbluten mußten, da schrieb derselbe Historiker, der ganze Generationen von Professoren und Studienräten geformt hat: „Das ist ja das Herrliche dieser Zeit, daß sie die Vernunft in der Geschichte mit übermäßiger Beredsamkeit sprechen läßt und der deutschen Politik große Mißgriffe kaum noch gestattet.“

Neben solchen Ausbrüchen der Torheit und Beschränktheit von Menschen hoher Intelligenz, ja von Genies, ist die Dummheit der Einfältigen, der „Armen im Geiste“, eine harmlose und beinahe ungefährliche Sache; denn diese kriecht gewissermaßen auf dem Erdboden dahin, während jene, wird ihr erst einmal die Zunge gelöst, sich zu einem Höhenflug begeisterungstrunkener Torheit erhebt.

Gibt es auch kein dauernd wirkendes Gegengift gegen die Elementarmacht der Dummheit, so ist dem Menschen doch ein Göttergeschenk zur Entlarvung ihrer schlimmsten Manifestationen in die Hand gegeben: jener aus tieferen Quellen gespeiste Humor, der der Dummheit ihre Masken immer wieder herunterreißt, mit denen wir uns über die Vergänglichkeit, Flüchtigkeit und Todverfallenheit unserer kurzen Einzelexistenz belügen und betrügen wollen. Wie der über alle Anwesenden verhängte Bann der Starrheit in dem alten Märchen vom Dornröschen dadurch gebrochen wird, daß der Koch plötzlich ganz unernst niesen muß, so kann der Mensch den Bann der Dummheit schon dadurch brechen, daß er sich plötzlich gleichsam im Spiegel erblickt, sich komisch empfindet und über sich lachen kann. Wer sich komisch zu nehmen befähigt ist, besitzt ein wundersames Allheilmittel gegen die Elementarmacht der Dummheit.

Man sehe sich die erbarmungslosen Umgestalter unserer behexten Zeit an, die unser aller Dasein heute im Namen dieser und morgen im Namen der entgegengesetzten Idee umkrempeln und uns einreden wollen, daß wir immer einmal wieder an einer Schicksalswende stehen und eine neue Morgenröte erleben dürfen: sie haben sich ihr Urteil allein schon dadurch gesprochen, daß keiner je fähig scheint, über sich selbst zu lachen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1963
, Seite 190
Autor/inn/en:

Eugen Gürster: Essayist und Kulturkritiker, angesehener Mitarbeiter der „Neuen Rundschau“, des „Hochland“ und anderer Zeitschriften, ist Kulturattaché an der Botschaft der Deutschen Bundesrepublik in London.

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