FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 202/II/203/I
Elias Canetti • Leonhard Reinisch

Wir werden 300 Jahre leben

Gespräch
Ein Satz, der in den Aufzeichnungen steht: Sie sähen zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen gern eine Balance. Sie werden ja guten Grund haben zu sagen, daß Sie diese Balance zwischen Wissen und Nichtwissen als Mensch brauchen und immer halten wolien.

Ja, sie ist mir ganz besonders wichtig, da ich vieles wissen möchte. Ich halte es für sehr gefährlich und sehr schwer möglich, viel Wissen zu erwerben oder es wenigstens zu versuchen, wenn man sich nicht immer dessen bewußt bleibt, daß der weitaus größte Teil Nichtwissen ist, und ich habe sogar manchmal das Gefühl, daß man für jedes Wissen, das man erwirbt, auch ein Stück Nichtwissen miterwirbt. Das ist sicher eine sehr strittige Auffassung; aber ich brauche sie, um die Proportionen in mir halbwegs anständig zu halten. Was ich am meisten fürchte, ist die Arroganz, die sich aus dem Erwerb von Wissen ergibt, wie man sie manchmal bei Fachspezialisten findet. Ich will mein Wissen nicht nur in eine Richtung vortreiben, das tun ja viele Leute und mit großem Verdienst; mir ist es darum zu tun, Verbindungen zwischen Wissensgebieten zu finden, die dem Fachspezialisten eo ipso untersagt sind. Ich will die Dinge sozusagen für mich selbst noch einmal ansehen und in mir verbinden und herausfinden, wieweit das alles zusammenhängt und sich in eine weitere Auffassung formen läßt. Ich will keineswegs behaupten, daß mir das gelingt; aber die Bemühung geht doch wohl in diese Richtung.

Sie haben Marx und Freud in Ihrem Buch „Masse und Macht“ nicht erwähnt, ein Vorwurf, den Ernst Fischer gegen Sie erhoben hat.

Ich wollte mit vollem Bewußtsein, als ich mich an die Arbeit für „Masse und Macht“ machte, alles ausschließen, was schon Ergebnis ist, was schon begrifflich oft verwendet wurde. Mir war es darum zu tun, die besonderen Phänomene, von denen unser Jahrhundert erfüllt ist und die sich in solchem Maße eigentlich erst in unserem Jahrhundert offenbart haben, konkret neu anzusehen und so zu erfassen, als gäbe es noch keine Begriffe dafür. Wenn man Begriffe anwendet, die aus dem vorigen Jahrhundert stammen, kann man gewiß manches erklären; aber natürlich muß dann vieles unbeachtet bleiben, weil es in dieser Form damals noch nicht bestand. Es ist also keineswegs als Anmaßung von mir gedacht, daß ich so bedeutende und große Denker nicht erwähne, sondern ich glaube, die Ergebnisse der Lebensarbeit von Marx und von Freud sind ziemlich gut bekannt und es kann sich jeder darüber informieren. Ihre Einwirkung auf unsere Welt ist so ungeheuer, daß man nicht sagen kann, sie werden vernachlässigt. Wenn jemand nun versucht, die Dinge neu zu sehen, dann ist es doch nicht notwendig, daß er sich in Begriffen, die bereits bestehen, ausdrückt, im Gegenteil.

Wie steht es mit der Frage des Todes? Wenn Sie Freud nicht erwähnen, der über den Todestrieb sehr viel geschrieben hat, wird das ja gute Gründe haben?

Das hat wirklich sehr gute Gründe. Ich war nie überzeugt von der Freudschen Auffassung des Todestriebes. Ich glaube gar nicht an die Existenz eines Todestriebes. Mir scheint das eine der Fehlkonstruktionen Freuds. Vieles ist sehr wichtig in der Freudschen Theorie, aber diesen Teil kann ich nicht akzeptieren. Nur war es mir nicht darum zu tun, in diesem Buch irgendwie gegen ihn zu polemisieren, sondern ich wollte neue Gedanken ausdrücken, ohne gegen andere zu polemisieren. Meine Auffassung des Todes ist so radikal verschieden von vielen anderen, daß ich wohl auch die Freudsche vorläufig außer acht lassen durfte.

Welches Thema scheint in Ihrem Werk Ihnen selbst am wichtigsten?

Hinter allem, was ich mache, ist der Tod entscheidend. Das kommt vielleicht nicht überall im Vordergrund zum Ausdruck in diesem Buch, aber zum Beispiel bei der Untersuchung einiger wichtiger Aspekte der Macht, da habe ich doch versucht, als einen der wesentlichen Gründe des Machtgefühls die Situation des Überlebens anderer zu postulieren. Ein sehr langes Kapitel des Buches bezieht sich darauf. Eine vielleicht etwas umstrittene Theorie, aber es ist doch klar, wieviel der Tod in dieser Theorie bedeutet, allerdings ein bestimmter Aspekt des Todes: die Situation, in der einer sich lebend, stehend, aufrecht einem anderen, der tot vor ihm liegt, gegenüberbefindet.

Es hängt vielleicht ein bißchen mit Ihrer eigenen Vitalität zusammen, daß Sie diese positive Lebenswunschsituation als so wichtig ansehen?

Das ist zum Teil richtig, und doch würde ich einiges dagegen zu sagen haben. Ich glaube, der Grund, warum ich die Stellung zum Tod ganz neu durchdenken möchte — und ich versuche das seit vielen Jahren —, läßt sich auch etwas anders fassen. Ich halte Lehren, die den Tod akzeptieren, als selbstverständlich hinnehmen, auch viele religiöse Lehren, die dem Menschen helfen wollen, über den Tod hinwegzukommen, für gefährlich, weil sie den Menschen an den Tod gewöhnen und weil dann doch viele machthungrige Figuren sich die Situation zunutze machen und mit dem Tod anderer rechnen. Das Einstellen des Todes anderer als Posten, mit dem man kalkuliert und durch den man sich Macht über andere verschafft, ist doch zweifellos in der ganzen Geschichte der Menschheit, soweit wir sie übersehen können, eines der schrecklichsten und ungeheuerlichsten Phänomene.

Wie stehen Sie zu der Tatsache, daß man dennoch den Tod nicht überwinden wird können?

Ja, ich getraue mich fast nicht, auf diese Frage zu antworten. Ich bin gar nicht der Meinung, daß man den Tod nicht überwinden könne. Ich glaube, daß es rein biologisch schon in absehbarer Zeit möglich sein wird, das Leben ganz wesentlich zu verlängern. Es gibt einige bedeutende Biologen, die dieser Meinung sind. Ich bin vorläufig mit einer Verlängerung des Lebens auf 200 oder später auf 300 Jahre ganz zufrieden und stelle mir dann ein unvergleichlich volleres und reicheres Leben vor als dies heute möglich ist. Schon in meiner Jugend hat mich an der Bibel kaum etwas so erregt wie die Patriarchen mit ihrem hohen Lebensalter. Als man mir später sagte, das sei ein Mißverständnis, das sei eine andere Rechnung der Jahre, war ich tief enttäuscht. Das ist vielleicht ein wenig lächerlich.

Ich finde das sehr verständlich für einen jungen Menschen. Ich finde es aber auch erstaunlich, daß der jetzt schon 64jährige Canetti immer noch bei diesem Fanatismus für das Diesseitsleben hält und daß er auch vielleicht gar nichts daran findet, wenn man sagt: Ja, dieses hinfällige Leben, das im Alter vielleicht nur noch aus Krankheit besteht, ist immer noch etwas viel Besseren als nicht zu leben.

Ich versuche, die Aspekte, die am Verfall des Alters peinlich sind, nicht besonders zu bedenken. Man kennt sie, und es ist ganz klar, daß für manche Menschen manchmal besser wäre, sie würden nicht leben. Ich bin aber nicht überzeugt davon, daß es immer so ist. Ich habe Fälle erlebt von Menschen, die wirklich am Tode waren, die ihr Leben aufgegeben hatten, die gerettet wurden und denen wirklich noch große Leistungen gelungen sind. Mir ist also die einfache, lineare Einstellung zum Alter und zum Verfall, wie sie im allgemeinen üblich ist, etwas suspekt.

In Ihren Auffassungen ist ein stark religiöser Zug, der freilich nichts mit den Religionen, die über den Tod hinaus trösten wollen, zu tun hat. Was ist Ihre Differenz zu diesen Religionen?

Der Hauptunterschied ist, daß ich den Aspekt des Glaubens, der auf ein anderes Leben vertröstet, nicht hinnehmen kann. Mir genügt das nicht, es scheint mir, daß die Möglichkeiten, die in diesem Leben zu erfüllen wären, wenn wir mehr über den Menschen wüßten, — und wir sind da noch sehr im Anfang — viel aufregender wären als irgendein dünneres Leben in einem Jenseits, das wir nicht kennen können. Ich will mich da nur sehr vorsichtig ausdrücken, denn man könnte sich natürlich irren. Es könnte ja sein, daß es da ganz prächtige Möglichkeiten gäbe. Ich bin einfach noch zu sehr von den Möglichkeiten dieses Lebens hier fasziniert, sie beschäftigen mich am meisten, sie sind es, die ich verstehen möchte. Ich bin aufs tiefste davon überzeugt, daß der Mensch vor allem ein Verwandlungswesen ist. Vielleicht ist es seine Gabe zur Verwandlung, die ihn zum Menschen gemacht hat, ihn von den Tieren unterscheidet. Ich glaube nicht, daß die möglichen Ansätze zur Verwandlung, die im Menschen da sind, heute alle zur Blüte kommen, die meisten von ihnen werden unterdrückt. Sie kennen doch den Aspekt des Berufsmenschen, der in seiner Tätigkeit aufgeht und vollkommen vertrocknet. Wir wissen aber auch, daß in solchen Menschen oft ganz andere Dinge liegen, die überhaupt nie verwendet wurden. Ich würde mir wünschen, daß jeder die Anlagen zur Verwandlung, die in ihm da sind, wirklich ausreifen läßt und ein langes Leben führt, das aus mehreren Existenzen besteht, sei es gleichzeitig oder hintereinander.

Der Tod ist für Sie das größte Übel. Was wäre der höchste Wert für Sie in diesem Leben?

Da möchte ich etwas sagen, was vielleicht lächerlich klingt. Weitaus das höchste von allem bedeutet mir Güte, die ich nicht oft gefunden und immer sehr bewundert habe. Dann vielleicht Stolz, Generosität oder Großmut.

Kommen wir abschließend noch zu Ihren Plänen. Sie haben noch Romane unveröffentlicht oder in Arbeit.

Halten Sie es mit den Optimisten, die da meinen, daß der Roman den Menschen von heute und morgen noch etwas zu geben hat und wenn ja, was?

Da möchte ich zuerst mit aller Entschiedenheit sagen, daß ich den Roman nicht für tot halte. Allerdings glaube ich, daß man reichere Formen finden muß. Für die Substanz unseres heutigen Lebens kann die primitive Form des Romans, die einmal sehr nützlich war, nicht genügen. Aber ich meine, es kommt nun eben darauf an, eine Form zu finden, die stark und reich genug ist und uns heute genügen kann. Ich halte es für durchaus möglich, daß diese Form gefunden werden wird.

In welcher Richtung würden Sie diese Form suchen?

Es ist sehr schwierig, in wenigen Worten etwas darüber zu sagen. Ein Roman, der einem heutigen Menschen etwas bedeuten kann, muß der Substanz nach so viel enthalten, daß sie sich nicht zu ärmlich von der realen Welt abhebt, die ja von den ungeheuerlichsten Dingen erfüllt ist. Es müßte also ein Weg gefunden werden, vollkommen neue Figuren zu erfinden, für die es gar keine Vorbilder gibt im traditionellen Roman. Man müßte sie so gegeneinander aufstellen, daß aus ihrer Spannung das, was unsere Welt heute so reich und gefährlich macht, spürbar wird. Das ist einmal gemacht worden vor einigen hundert Jahren im ersten großen Roman, der noch immer der größte ist, im ‚Don Quichotte‘. Es wäre durchaus denkbar, daß ein sehr großer Dichter Figuren erfindet, an die noch niemand gedacht hat, die dieselbe Aufgabe heute erfüllen könnten.

Canetti im NF

  • „Macht und Überleben“, NF Jänner/Februar 1970

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1970
, Seite 987
Autor/inn/en:

Elias Canetti:

Foto: Von Autor unbekannt - [1] Dutch National Archives, The Hague, Fotocollectie Algemeen Nederlands Persbureau (ANEFO), 1945-1989, CC BY-SA 3.0 nl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20442497

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