FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1970 » No. 203/II
Salvador Allende • Joan F. Romain • Louis Wiznitzer

Volk als Regierung

Gespräch mit Joan F. Romain, Kommentar von diesem sowie von Louis Wiznitzer.

Was sind die ersten Aufgaben, die sich Ihrer Regierung stellen werden?

Wir müssen zunächst die Inflation bekämpfen. Chile ist gemeinsam mit Südvietnam das Land der Welt, in dem die Inflation am größten ist. Wir müssen auch die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Das sind die beiden größten Wunden, die uns das kapitalistische System hinterlassen hat. Wir setzen uns auch eine Planifikation zum Ziel, um die Strukturen des Landes umzuwandeln und auf dem Weg zum Sozialismus vorwärtszukommen. Wenn wir für die dringendsten Probleme Lösungen wollen, die das Volk zufriedenstellen, müssen wir radikale, umfassende Maßnahmen ergreifen. Deswegen wird es unerläßlich sein, die Schlüsselsektoren der Wirtschaft zu verstaatlichen und die Wirtschaft unter die Kontrolle des Staates und der Arbeiter zu bringen. Wir werden diese Maßnahmen Schritt für Schritt ergreifen, unter Berücksichtigung unserer realen Möglichkeiten.

Welche politische Reformen werden diesen wirtschaftlichen folgen?

Eine Reihe konkreter Maßnahmen sind vorgesehen, damit das Volk selbst auf allen Stufen der Verwaltung seine Macht wirklich ausübt. Unser diesbezügliches Programm wurde am 4. September vom Volk gebilligt, am 24. Oktober von einer Zweidrittelmehrheit im Parlament bestätigt. Es wird durchgeführt. Dieses Programm beruht auf zwei politischen Prinzipien:

Schutz und Ausbau der demokratischen Rechte und der Errungenschaften der Arbeiter.

Transformation der gegenwärtigen Institutionen zwecks Errichtung eines neuen Staates, in dem das Volk nicht an der Regierung „teilnehmen“, sondern selbst die Regierung sein wird. Wir hoffen dies zu erreichen, indem wir die gesellschaftlichen Organisationen des Volkes auf allen Stufen der Macht in den Staat inkorporieren.

Welche Haltung nehmen Sie gegenüber den USA ein?

Wir haben nichts gegen das amerikanische Volk. Wir sympathisieren mit den amerikanischen Protestbewegungen. Wir werden uns bemühen, die absolute wirtschaftliche, technologische, kulturelle Abhängigkeit unseres Landes von den USA zu beenden. Chile ist ein systematisch ausgebeutetes Land. Ein wesentlicher Teil seiner Ressourcen bleibt in den Händen ausländischer, vor allem nordamerikanischer Unternehmungen. Wir wollen den Warenaustausch mit den USA weiterführen, aber in einer neuen Optik: im Dienst der Interessen des chilenischen Volkes und nicht zur Förderung der Gewinne amerikanischer Unternehmungen auf Kosten der Entwicklung unseres Landes. Wir haben eine gewisse Zahl von ganz präzisen Forderungen.

Wie sehen Sie Ihre Beziehungen zur Sowjetunion und zu China?

Wir haben bereits wirtschaftliche Beziehungen mit der Sowjetunion und mit anderen sozialistischen Ländern Europas. Wir setzen uns zum Ziel, diese Beziehungen noch weiter auszubauen. Anderseits gibt es einige sozialistische Länder, mit denen wir keine diplomatischen und keine Handelsbeziehungen unterhalten. Dies gilt für unser Nachbarland Kuba, die Deutsche Demokratische Republik, Albanien, China, Nordvietnam, Nordkorea. Diese Staaten werden wir anerkennen und mit ihnen freundschaftliche Beziehungen aufnehmen.

Sind Sie optimistisch in bezug auf die Möglichkeit, diese Ziele durchzusetzen?

Die ungeheuren Hindernisse, die wir zu überwinden haben, lassen sich leicht vorstellen. Im Inneren beruht unser gesellschaftliches System auf kapitalistischen Strukturen, die wir überwinden müssen. Dies wird die Interessen der etablierten Klassen berühren. Nach außen müssen wir uns von den Zwängen des Imperialismus befreien, die uns zu einer stetig zunehmenden Unterentwicklung verdammen. Dies wird wiederum gegen sehr wichtige Interessen verstoßen. Das chilenische Volk hat uns diese Aufgabe übertragen. Wir hoffen, daß uns die anderen Länder unsere eigene Zukunft bauen lassen.

Santiago de Chile

Zwischen seiner Wahl am 4. September und seinem Regierungsantritt am 3. November 1970 erlebte der neue chilenische Präsident Salvador Allende 60 Tage Vorgeschmack seiner Regierung. Alles wurde versucht, dem gewählten Kandidaten der Linken den Weg zu versperren, ihn zum Verzicht auf seinen Sieg zu bewegen: politische Manöver, wirtschaftlicher Druck, Mordversuche, tatsächliche Ermordung: zunächst einmal des verfassungstreuen Chefkommandierenden der chilenischen Armee, General Schneider.

20 Stunden nach der Wahl Allendes veröffentlichen die Anhänger des Kandidaten der Rechten, George Alessandri, bereits einen Aufruf, in dem sie erklären: „Die Wahl ist noch nicht entschieden.“ Die Rechte organisiert, was sie „eine demokratische Mehrheit gegen die marxistische Minderheit“ nennt. Am 9. September erklärt der Kandidat der Rechten: wenn er vom Kongreß gewählt werden sollte (der am 24. Oktober die definitive Bestellung des neuen Präsidenten vornahm, würde er die Wahl nicht annehmen, sondern zurücktreten. Das hätte Neuwahlen nötig gemacht. In diesen wollte dann die Rechte — ließ Alessandri verlauten — mit den Christdemokraten zusammengehen.

Aber die Christdemokraten goutierten dies nicht. Sie befürchteten, daß ein Manöver, mit dem der Wahlsieg Allendes eskamotiert worden wäre, zu nichts geführt hätte als zum bewaffneten Widerstand der Linken. „Sollen wir Chile in die Situation Kolumbiens in den fünfziger Jahren bringen, wo ein Bürgerkrieg 300.000 Tote kostete, weil die Konservativen ein demokratisches Wahlergebnis nicht respektierten?“ fragte der geschlagene Präsidentschaftskandidat der Christdemokraten, Radimiri Tomic, in einer öffentlichen Erklärung.

Überdies mußten die Christdemokraten befürchten, daß ein Bündnis mit der Rechten keineswegs ein so imposantes Wahlergebnis zeitigen würde, wie Alessandri ihnen durch Addition vorrechnete. Ein starker linker Flügel der Christdemokraten wäre vermutlich zur linken „Frente Unido“ (Einheitsfront) Allendes übergelaufen, im Austausch gegen sein Versprechen, eine „Revolution in Freiheit“ zu verwirklichen, wie sein Vorgänger Eduardo Frei sie proklamiert hatte. Von Freis Programm unterscheidet sich das Programm Allendes nur in Nuancen — abgesehen von der praktischen Durchführung, bei der Frei weitgehend versagte, Allende aber Erfolg zu haben hofft.

Verhandlungen zwischen den Christdemokraten und der Linken führten nach langem Hin und Her am 8. Oktober zu einem gemeinsamen Entwurf für eine Verfassungsreform, in der die Freiheit der Presse, die Vielzahl der politischen Parteien, die Autonomie der Hochschulen usw. garantiert bleiben.

Die christliche Demokratie zog die gewaltlose Revolution Allendes dem antimarxistischen Block vor, der leicht zur Revolution der Gewalt hätte führen können. Ein Führer der extremen Rechten, der Anwalt Pablo Rodriguez, gründete bereits eine Bewegung „Vaterland und Freiheit“, die verkündete: „Wir wollen im Rahmen der Gesetze bleiben. Wenn aber die Regierung auch nur einen Fingerbreit von der Verfassung abweicht, werden wir zur Gewalt greifen“ Schwarz gekleidete Frauen aus gutem Haus demonstrierten vorsorglich im Zentrum von Santiago und betrauerten „die verlorene Demokratie“.

Zugleich verlagerte sich der Kampf in den wirtschaftlichen Bereich. Die Geschäftswelt wurde von der rechten Presse, teils auch von den Behörden, in Panik versetzt. Bis zur Wahl Allendes hatte der amtierende Finanzminister stets ein rosiges Bild der Wirtschaft gezeichnet, nach der Wahl verlegte er sich sogleich auf Katastrophenmalerei: Die Börsenkurse fielen um 20 Prozent. Die besseren Leute stürmten Banken und Reisebüros. Eine rechte Tageszeitung, „El Mercurio“ meldete frohlockend, daß die Industrieproduktion um 9 Prozent, der Ankauf von Fertigprodukten um 61 Prozent zurückgegangen sei. Die Banken schränkten die Kredite ein oder sperrten sie zur Gänze. Die gesamte, auf Kredit angewiesene Bauindustrie stellte die Produktion ein. Die Preise in dem ohnehin inflationsgeplagten Land (mit der höchsten Inflationsquote der Welt, außer Südvietnam) stiegen pfeilschnell, der Fleischpreis gleich um 29 Prozent. Der schwarze Dollarkurs erreichte die Relation von 1:100 (offizieller Kurs 1:14). Die Regierung mußte zur Festigung der Währung binnen weniger Wochen 93 Millionen Dollar aufwenden.

Zum wirtschaftlichen Terror kam Mitte September der physische. Die noch amtierende Regierung verhielt sich merkwürdig passiv. Sehr rasch ließ die Polizei verhaftete Rechtsextremisten wieder frei. Allende erklärte am 11. Oktober in einer Rede, 5000 nordamerikanische Staatsbürger, 30 Exilkubaner und Spezialisten aus anderen Ländern seien nach Chile gekommen, um einen Aufstand vorzubereiten. Ein Attentatsversuch gegen Allende wird in Valparaiso aufgedeckt. Urheber ist ein Offizier im Ruhestand, Major Marshall, der nach mehrstündigem bewaffnetem Widerstand verhaftet wird. Marshall gesteht, daß . General Viaux, der Urheber des mißglückten Militärputsches vom Oktober 1969 gegen Eduardo Frei, der Anstifter ist. Viaux, der sich der Polizei stellt, ist vermutlich auch für die Ermordung des Chefkommandierenden der chilenischen Armee, General, Schneider, verantwortlich.

Am Tag des Mordes erhielten alle höheren Offiziere der Armee einen anonymen Briefumschlag mit zwei kleinen Federn — in Chile das Symbol der Feigheit. Werden sie feig bleiben? „Der wahrscheinlichste Ausgang der chilenischen Krise ist“, schrieb eine nordamerikanische Zeitung, „daß Allende ermordet wird.“

Washington

„Marxist Allende“ — absichtsvoll kennt ihn die amerikanische Presse nur unter dieser Bezeichnung. Sein Wahlsieg und Amtsantritt ist für die amerikanische Politik das folgenschwerste Ereignis in Lateinamerika seit der Machtergreifung Castros 1959. Die Nachricht am 4. September wirkte in Washington wie eine Bombe,

Die „Tauben“ wie Ralph Dungan, Ex-US-Botschafter in Chile, sind für wohlwollende Neutralität gegenüber Allende. Für sie stammt er mehr von Leon Blum als von Maurice Thorez ab. Er werde die demokratischen Traditionen und die Verfassung Chiles respektieren sowie sich bewußt bleiben, daß er zwar die meisten, aber nur 36 Prozent der Stimmen erhalten hat. Er werde ferner sein Land nicht „an Moskau ausliefern. Selbst wenn Allende morgen mit vollen Händen in die Milliarde Dollar hineinfassen wird, die von amerikanischen Gesellschaften in Chile investiert wurde, dürfte unsere Regierung nicht in die Angelegenheiten Chiles eingreifen. Daß eine südamerikanische Regierung US-Besitz enteignet, können wir aushalten, solange sie nicht militärisch und politisch ins sozialistische Lager übergeht.“

Wirtschaftliche Druckmittel könnten sich, immer nach Meinung der „Tauben“, als zwecklos herausstellen: Chile wird heuer nur 10 Millionen Dollar von der amerikanischen Regierung erhalten (plus 2,5 Millionen Dollar Militärhilfe). Die chilenischen Kupferexporte gehen zu 90 Prozent nach Japan und nach Europa.

Andere Leute im State Department und in der Umgebung des Präsidenten malen ein viel düstereres Bild. Die „New York Times“ hat kürzlich ihre gewohnte „objektive Neutralität“ aufgegeben und geschrieben, daß „ein Staatsstreich besser ist als eine Volksfrontregierung in Chile“.

Die „Falken“ prophezeien eine rasche Radikalisierung der chilenischen Regierung. Die Flucht des chilenischen Kapitals, der chilenischen Techniker, die Einstellung der amerikanischen Investitionen würden Allende zu drakonischen Maßnahmen zwingen. Er würde, ihren Thesen zufolge, keinen anderen Ausweg sehen, als sowjetische Hilfe zu suchen, und den selben Weg einschlagen wie Castro.

Die öffentliche Meinung in den USA ist gegenüber der „Bedrohung“ durch Chile noch gleichgültig. Sobald Allende jedoch die ersten Maßnahmen zur Verstaatlichung ausländischen Eigentums ergreift, wird die amerikanische Presse aus ihm im Handumdrehen einen neuen Krampus der Weltpolitik machen.

Stecken die Anhänger des harten Kurses gegen Chile hinter dem Mord an General Schneider, dem verfassungstreuen Oberkommandierenden der chilenischen Armee, der im Verlauf eines gescheiterten Entführungsversuchs von Rechtsextremisten niedergeschossen wurde? Die „Falken“ in Washington sagen in aller Offenheit: „Es ist am besten, wenn man das marxistische Experiment in Chile im Keim erstickt.“ Sie verraten nicht, welche Mittel sie hiefür einsetzen wollen, aber Indizien lassen darauf schließen, daß sie noch immer auf die chilenische Armee setzen.

Zur Zeit Kennedys und Johnsons verfolgten die USA in Lateinamerika vier verschiedene politische Kurse, die an Ort und Stelle miteinander in Konflikt gerieten: die im allgemeinen „liberale“, „reformistische“ Politik des State Department und die häufig konservativen, nicht selten brutalen Praktiken des Pentagons, des CIA und der Trusts. Nixon hat dieser Viergeleisigkeit ein Ende gesetzt: Die USA betreiben heute in Lateinamerika eine einzige Politik. Sie lassen sich weder von höheren Idealen noch von wirtschaftlichen Interessen leiten, sondern von rein strategischen Imperativen. Diese Politik läßt sich folgendermaßen definieren:

  1. Jede Möglichkeit einer sowjetischen Intervention muß verhindert werden, insbesondere in den drei Andenstaaten Chile, Peru, Bolivien (Moskau hat den USA diesbezügliche Zusicherungen gegeben).
  2. Es muß versucht werden, die Situation in diesen Ländern „wieder einzurenken“, das heißt zu verhindern, daß sie immer mehr nach links abschwenken. Zu diesem Zweck sollen je nach Zeitpunkt und Möglichkeit alle Mittel eingesetzt werden, kleinere und größere, verfassungsmäßigere und andere.

Eine militärische Intervention in Chile muß nicht unbedingt über 8000 Kilometer aus den USA erfolgen. Argentinien ist näher. Die Generalsjunta in Buenos Aires ist über ihre neue Nachbarschaft beunruhigt, wenngleich der umfangreiche Handel mit Chile, 200 Millionen Dollar im Vorjahr, ihre Interventionsfreude bremsen dürfte.

Während die argentinische Presse nur vorsichtig und selten die chilenischen Ereignisse kommentiert, sind andere, vielleicht wichtigere Meinungsmacher von Rücksichten frei. Der Direktor des Zentrums für interamerikanische Beziehungen in New York, David Bronheim, der sowohl vom Gouverneur von New York als auch von Präsident Nixon häufig in lateinamerikanischen Fragen zu Rat gezogen wird, erklärte der argentinischen Zeitschrift „Panorama“ kürzlich: „Ich habe den Eindruck, daß Allende intelligent genug ist, um eine Konfrontation mit Argentinien zu verhindern. Die argentinischen Militärs hegen gegen ihren marxistischen Nachbar größtes Mißtrauen. Wenn Chile Refugium und Trainingslager für Guerilleros wird, muß man damit rechnen, daß die argentinischen Militärs ihre Kollegen in Chile zu Maßnahmen gegen Allende auffordern. Falls dies zu keinem Erfolg führt, werden sie zu stärkeren Druckmitteln greifen. Wenn es hingegen Allende gelingt, die traditionelle Außenpolitik seiner Vorgänger fortzusetzen, braucht Argentinien nicht zu intervenieren.“

Klarer könnte Washington seinen Schützlingen in Buenos Aires nicht den Kurs angeben. Wenn sich der neue chilenische Präsident als „gemäßigt“ erweist, wird man ihn tolerieren. Wenn er dagegen „eine sozialistische Revolution nach dem Modell Kubas“ machen will, wird das Pentagon die argentinische und die brasilianische Armee zur Intervention gegen das „subversive Regime“ Allendes veranlassen.

Louis Wiznitzer

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1970
, Seite 1009
Autor/inn/en:

Salvador Allende:

Joan F. Romain:

Louis Wiznitzer:

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