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Günther Anders

Über Rilke und die deutsche Ideologie

Zu Poetik. Sept. 48

Aus dem Nachlass.

Zuerst erschienen in: sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik
Wien und Freiburg, Heft 7, Herbst 2015, Seite 109–131

Las, wie ich zufällig feststellte, genau 50 Jahre nach seinem Erscheinen wieder einmal den Cornet. Der degout, der mir nach dieser Köstlichkeit [1] im Gaumen hing, war erst fortgespült, als zufällig Mozarts Konzertante Symphonie genau und beseligend aus dem Nebenhaus zu uns herüberkam. –

An sich wären die dreiunddreißig [2]] Viertelseiten den Widerwillen nicht wert. Aber geschichtlich und gesellschaftlich ist eben dieses Büchlein nicht nur eines unter anderen. Es war die No. 1 der Insel-Bücherei. Und schon das Exemplar aus dem Jahre 1912, das ich in der Hand halte, gehört zu den ersten Dreißigtausend. Es war und blieb ein Bestseller. Es hat den deutschen Geschmack mitgeprägt. Also ist es wichtig.

Zuerst, ehe ich mir die gesellschaftliche Rolle klar machte, reagierte ich mit: „Das ist in Heimarbeit hergestellte Patina“, direkt für den Antiquitätenhändler geschlagenes Altsilber. Für den Antiquitätenladen: Denn Cornet ist nicht etwa „klassizistisch“; durchaus nicht nach irgendeinem großen Muster der Vergangenheit gearbeitet, wie (nobles Vorbild) Hofmannsthals Tor und Tod; oder (vulgäres Beispiel) gotische Bahnhöfe; oder (ironisches Beispiel) Manets Olympia, das eben ein Tizianzitat ist. Was Rilke herstellt, ist der Schein der Vergangenheit; und entspricht jenen kleinen Ruinen, die Hauswirte am Kurfürstendamm um 1900 für ihre Hinterhöfe als Schmuckstücke anschafften; nein, nicht als Schmuckstücke, sondern als gefälschte Beweisstücke: denn durch die Anschaffung einer frisch hergestellten Ruine (Garantieschein beiliegend) bewies sich der parvenu eine Vergangenheit, die er nicht hatte.

Nun, parvenu war Rilke nicht, aber eben ein Mann, der innerhalb der Welt des Bürgertums nicht leben konnte. Und was er herstellt, ist gewissermaßen ein altes Pergament, ein gedichtetes Adelspatent. Das ist nicht metaphorisch gemeint. Denn Cornet beginnt: „… den 24. November 1663 wurde Otto von Rilke“ – wobei die drei Punkte den Rückfall in die Vergangenheit, und das „von“ eben das Adelspatent ausdrücken.

Aber man hat in Einzelheiten zu gehen. Von Zeile zu Zeile.

Die erste (d. h. die erste halbe, vornehm „S. 7“ genannte) Seite ist erst einmal nichts als die hohle Müdigkeit dessen, der nicht weiß, wozu er zu reiten hat – was aber in Rilkes Augen das Reiten nicht etwa dubios macht, sondern umgekehrt das Nichtwissen mit-adelt. Alliterierend ist „der Mut so müde geworden“: die Alliteration ist bereits die Poetisierung der noblen Langeweile – ganz zu schweigen von der mehrfachen Wortwiederholung „Reiten“, die die Zeit bereits neutralisiert hat, sodass frisch-fröhlich-fromm die Dichtung todmüde anhebt. Diese Müdigkeit, die natürlich auch ein Zeichen des alten Adels ist, stellt die poetische Chance der ganzen Dichtung dar: wer müde ist, führt kein Leben, sondern wird vom Leben „getragen“ (Passivum; dieses Getragenwerden wird ausgezeichnet durch das Reiten versinnlicht). Passivität aber ist Stimmung, und Stimmung die Mutter der Lyrik.

Freilich dürfen wir nicht glauben, dass der Reiter müde sei. Das wäre noch viel zu viel Arbeit; „der Mut“ ist müde, d. h.: der Reiter ist bereits eingegangen in die Stimmung, nicht er hat die Stimmung, sondern diese ihn; und der „Mut“ ist nicht etwa müde, sondern so müde“: ein äußerst charakteristisches Wörtchen. „So müde“ ist nämlich ein infantilisierender Ausdruck, „so müde“ ist nur das Kind; und auch das eigentlich nur in der direkten Ich-Rede. Aber es ist eben kennzeichnend, dass Rilke die Mittel der Ich-Rede in die „dritte Person“ hineinnimmt, das Ich und „er“ verschleift – wodurch er das Berichtete sentimentalisiert und jeden Lesers Mut gleichfalls „so müde“ macht, dass auch der nichts mehr „weiß“. „Es muss also Herbst sein“, heißt es weiter: auch das weiß man also nicht unmittelbar, man muss es erst erschließen; während man alles „weiß“, was abwesend ist: „nämlich dort“ geht nämlich der entsetzlich selbstverräterische Text weiter, „wo traurige Frauen von uns wissen.“ Jedes Wort ein Selbstverrat. Denn auch, dass diese traurigen Frauen nicht dies oder jenes wissen, sondern von uns, ist wiederum bezeichnend. Rilke weiß nämlich niemals „etwas“, sondern immer nur von etwas. Was? Es selbst. Niemals ist es ein Tatbestand über eine Sache, der gewusst wird, sondern die Sache selbst: das Wissen bezieht sich also direkt auf seinen Gegenstand (im Sinne von „Ahnung“), in einer Art telepathischer Direktverbindung – während die Nähe und das Sichtbare bei ihm kaum je unmittelbar gesehen wird, sondern, wie wir eben gezeigt hatten („es muss Herbst sein“), erschlossen wird. Damit ist eine höchst eigentümliche, eigentlich pervertierte, Stimmung geschaffen, in der die Anschauung so indirekt ist wie sonst die Vorstellung oder die Erinnerung – während der Vorstellung und Erinnerung nun die Direktheit zukommt, die eigentlich Merkmal der Wahrnehmung ist. Durch diesen Austausch ist eo ipso Gegenwart und Vergangenheit mit ausgetauscht. Wahr ist unter solchen Umständen dann das Vergangene: höchstens erschließbar, letztlich aber gleichgültig, die Gegenwart. –

Dies die Geheimnisse, die bereits die erste halbe Seite des Cornet ausplaudert.

„Der von Langenau rückt im Sattel und sagt: ,Herr Marquis ….‘“ Über die Baronisierung der Welt, mit der so die zweite Seite (8) anhebt, können wir hinweggehen. Auch darüber, dass der „kleine feine Franzose“ „wie ein Kind ist“ – dass die Infantilisierung und die Baronisierung Hand in Hand gehen, ist ja plausibel genug: beide sind Versuche, der Welt nicht unter die Augen zu treten. Wenn der Herr von Langenau nun lächelt, übernimmt er eine der Lieblingsbeschäftigungen der Rilkeschen Kreaturen, weil diese Tätigkeit fein, unbestimmt und voll von unnachkontrollierbaren Andeutungen ist; und seine Bemerkung: „Gewiss seht Ihr Eurer Mutter ähnlich“, macht den Reiter zum Helden des Schaukelpferdes.

Folgt die 9. Seite, die bereits wieder mit dem Genuss der Unbestimmtheit anhebt: „Jemand erzählt von seiner Mutter.“ Wer, weiß man natürlich nicht. Denn, wie wir gesehen hatten, kann ja das Wirkliche nur erschlossen werden, und sichtbar ist nur das Abwesende. Denn der folgende Satz lautet: „Ein Deutscher offenbar.“ Offenbar.

Was aber nun folgt, ist etwas Neues. Es genügt nämlich nicht, ein Muttersöhnchen zu sein. Der erzählende Edelmann spricht wie ein Mädchen: Wie irgendeines? Wie eines, „das Blumen bindet“. Immerhin eine Beschäftigung, könnte man sagen, die Sinn hat. Weit gefehlt. Denn er spricht wie ein Mädchen, das „Blume um Blume probt und noch nicht weiß, was aus dem Ganzen wird“. Dass man niemals etwas weiß, das hatten wir bereits. Ebenso, dass jede Aktion, da man sich von ihr treiben lässt, zum bloßen „Geschehen“ wird. Hier aber zeigt es sich, dass Ziellosigkeit nicht nur Müdigkeit beweist, sondern auch Nobilität. Gretchen, die Marguerite zupfend, ist verglichen mit dem „Blume um Blume probenden“ Soldaten geradezu eine Schwerarbeiterin. Da Arbeit schändet, adelt Zupfen, und in der Tat hört durch das „Blume um Blume“ bereits in der übernächsten Zeile „das Spucken“ auf. „Denn es sind lauter Herren“. Lauter Herren, die sich alle auf ihrer infantilen Basis, selbst bei verschiedener Sprache, verstehen. Barone aller Länder, vereinigt euch! „Denn wer das Deutsche nicht kann, […] der versteht es auf einmal, fühlt einzelne Worte: ,Abends‘ … ,Klein war‘“. Sie sind halt alle ins Feld der Welt hinausgeschickt, oder sie haben sich in der Welt verlaufen, und möchten zurück ins Bettchen.

Aber ewig kann man nicht zupfen, geritten muss auch wieder werden – wenn auch in irgendeinen Abend“ hinein. Vom Abend schweigen wir, denn der ist ohnehin für den, der den Tag scheut, und wieder Kind sein will, das höchste der Gefühle. Wir sprechen von „irgendeinem Abend“. Mit diesem „irgend“ hat nämlich Rilke nun sein Schlüsselwort gefunden, das Wort, das ihn (von seinen tausend Imitatoren zu schweigen) durch sein ganzes Werk begleitet. Was ist „irgend“? „Irgend“ ist dasjenige, was nicht bestimmt wird, teils, weil man (s. o.) so schlecht sieht, dass man das Gesehene eben nur in seiner Art, aber nicht als Exemplar erkennt; teils, weil man so indifferent ist, dass einem „alles recht“ ist. Diese Indifferenz hat aber nicht nur eine müde und blasierte Note, sondern sie bedeutet die Auflösung der Welt in Stimmung. Wer statt eines Hauses irgendeines sieht, sieht gewissermaßen nur etwas Hausartiges, eine Qualität, die nun zur Stimmung werden kann. „Irgendeines“ bedeutet stets die Irrealisierung des Gegenstandes, die dadurch eintritt, dass man sich auf ihn nicht einlässt. Wer vorbeireitet, wie Rilke oder von Langenau, für den bleibt jedes Haus „irgendeines“; wer hineintritt, für den verliert es, durch diesen Bewohner, diesen Empfang, diese Abwehr, alles „Irgend-hafte“. Das „Irgend“ ist das Abzeichen dessen, der nicht mitmacht, sondern nobel vorbeireitet.

* *

Auf Seite elf schweigt man wieder, „aber man hat die lichten Worte mit“. Wie verräterisch ist dieses Attribut „licht“! Was verrät es? Dass für Rilke Worte nicht „Sinn“ haben, sondern nur Appell- und Assoziationsqualität. Daher bereits [S. 9] die „einzelnen Worte“ wie „klein war“ etc. Das heißt: für Rilke sind Worte Amulette, die man bei sich trägt, und die einen schützen. Darum sind es ja niemals Sätze, sondern immer nur einzelne Worte – wiederum genau wie für das Kind, für das die Einzelworte magische Qualität besitzen, lange ehe die wirkliche Sprache eine Rolle spielt.

Was wir aber von der Feminisierung des Mannes gesagt hatten, erhält auf dieser Seite seine wenig angenehme Bestätigung: die „frauenhaft sich dehnenden Haare“ des Marquis beweisen deutlich, dass für Rilke der Mann eigentlich ein zum Mannsein verurteiltes Mädchen ist, das abwartet, was die männliche Welt ihm bringen wird.

In der Tat wartet man nun gleich auf der nächsten Seite (12). Worauf? „Dass einer singt.“ Aber selbst dieses Warten ist wieder zu viel Arbeit, denn wie wir ja bereits wissen, „man ist so müd“. Wer? Man. „Wie?“ So. Freilich außer dem kleinen Marquis, denn der hat, mindestens mit vorübergehender Wirkung, sein Amulett, das die Müdigkeit offenbar für eine Weile aufschiebt. Was kann das sein? „Er hat eine kleine Rose geküsst.“ Nachdem er diese erfrischende Prozedur vorgenommen, gibt er eine Erlaubnis. Wem? Der Rose. Welche Art von Erlaubnis kann eine Rilkesche Figur geben, d. h. welche Art von Freiheit hat ein solcher Marquis? „Nun darf sie weiterwelken an seiner Brust.“ Sie darf. – Das „Dürfen“ ist eine bloße Metapher? Gewiss. Aber sage mir, welche Metaphern du verwendest, und ich werde dir sagen, wer du bist. Gemeint muss Rilke ja etwas haben, als er es schrieb. Auch in den Augen des von Langenau ist weder die Erfrischungsprozedur noch die Erlaubnis lächerlich. Im Gegenteil: sie sind Gegenstand seines Neides. Denn „er denkt: ich habe keine Rose, keine.“

Zugegeben: Ich zerstöre hier die Poesie. Die Rose steht für jemanden, für eine Frau, die die Rose gab. Und der von Langenau beneidet eben begreiflicherweise den kleinen feinen Marquis um das Glück, sich mindestens an jemanden erinnern zu dürfen. Richtig. Ich sag auch nichts von der Banalität, als postillon d’amour ausgerechnet die Rose einzuführen, gerade die Rose, die ja seit Ewigkeiten bereits im Hauptberuf ein Symbol und nur ganz nebenbei eine Blume ist. Aber worauf geht letztlich der Neid des von Langenau? Auf die Trauer des Anderen, jemanden zu „haben“, von dem er abwesend sein kann. Denn nur das Abwesende gilt für Rilke. Und für den von Langenau: der ist traurig, nichts und niemanden betrauern zu können. Was ihn nun in den nächsten Zeilen dazu veranlasst, ein Lied anzustimmen. Dass dieses Lied ein „altes“ und ein „trauriges“ Lied sein muss, ist nicht mehr überraschend. Ebenso wenig, dass es ein Lied ist, das Mädchen singen: denn jeder Mann ist eben bei Rilke ein in die Erwachsenheit verschlagener Knabe, und jeder Knabe ein ins männliche Geschlecht verschlagenes kleines Mädchen. Es ist amüsant zu sehen, wie Rilke keine Vorsichtsmaßregel auslässt, um die Traurigkeit auch wirklich garantiert traurig zu machen. Nicht nur ein Herbstlied ist es, das der von Langenau trotz seiner Müdigkeit anstimmt, sondern eines, das gesungen wird, „wenn die Ernten zu Ende gehen“. Weiter kann der Unfug nicht getrieben werden. Niemals ist der Bauer fröhlicher, als wenn die Ernte eingebracht wird. Weil das für ihn nämlich kein „Sterben“ ist, sondern der Abschluss einer guten Arbeit. Aber um sich zu freuen, dazu ist der von Langenau natürlich viel zu fein. Und Rilke mit ihm.

Bis in die letzte syntaktische Geste, bis ins „Logikalische“ (wie der junge Goethe einmal sagt) ist die Rilkesche Attitüde auf S. 13 durchverfolgbar. „Sagt der kleine Marquis“, beginnt es. Warum wählt er diese aparte Inversion? Warum sagt er nicht: „Der kleine M. sagt“? Weil für ihn der Mensch das Unbeträchtliche, das abgelöste, flatternde Wort dagegen alles ist. Die Inversion, die den Sprechenden erst ans Ende setzt, bezweckt die gleiche De-Personalisierung, wie das häufig verwendete „man“ und „irgend“.

Was sagt aber nun der kleine M.? Letztlich nichts anderes, als dass er unsere Deutung des Rilkeschen Mannes als eines verkleideten Mädchens bestätigen muss: dass nämlich sein Mädchen „so blond wie Ihr“ sei – wobei mit dem „Ihr“ der von Langenau gemeint ist. Sein Avancement zum Mädchen macht es umso begreiflicher, dass der v. L. die Tatsache seines Zwittergeschlechts sofort durch sehr männliche, um nicht zu sagen „männische“ Kraftsprache zudecken will. „Aber zum Teufel“, fragt er nun nämlich, nachdem er von dem blonden Mädchen erfahren, „warum … reitet (Ihr) dann durch dieses giftige Land den türkischen Hunden entgegen?“ Die Vernünftigkeit dieser Frage lassen wir ganz aus dem Spiel, sie wirft kein sehr günstiges Licht auf die Motive des von Langenau, am Kriege teilzunehmen. Wichtiger ist uns die Tatsache der Kraftsprache. Die Alternative von Seide und Kerlhaftigkeit, von Seide und Eisen, weibisch und männisch lässt nämlich bei R. gar keinen Platz für den wirklichen Mann, der viel zu männlich und beschäftigt ist, als dass er den Ausdruck „Mann“ als Geschlechtsbezeichnung auffasste.

„Um wiederzukehren“, antwortet der kleine Feine … woraufhin der von L., um nicht ganz zurückzubleiben, sich mühselig auch eines Mädchens entsinnt. Die er sofort, wenn auch nur für einen Augenblick sehen möchte. Wozu? Um sie zu lieben? Um ihr seine Liebe zu gestehen? Weit gefehlt. Sondern um sich zu entschuldigen. Wegen welcher Untat? Antwort:

„,Magdalena – dass ich immer so war, verzeih!‘ – Wie war? denkt der junge Herr.“

Kurz: er weiß es wieder einmal nicht. Es kommt ihm auch gar nicht darauf an, es zu wissen. Denn was er wünscht, ist lediglich, einen Moment lang etwas bereuen zu dürfen – ganz gleichgültig, ob er etwas getan oder nicht getan hat. Denn Reue ist auf jeden Fall ein Genuss. Je unwirklicher die Schuld, desto größer die voluptas contritionis. Die Logik des Herzens folgert: „Ich möchte bereuen, also muss ich schuldig sein.“ Man hat Rilke einen religiösen Dichter genannt. Wenn es religiös ist, den Begriff der Schuld aufrechtzuhalten, weil Schuld die Chance der Reue-Lust bietet, dann ist er es wirklich.

S. 14 bringt nun den wirklichen Einbruch der männischen Männlichkeit: Schon wie das Männliche ankommt, ist bezeichnend: nämlich gar nicht. Es „ist da“, und natürlich „Ganz in Eisen“. Dieses nackte „ist da“ heißt natürlich zugleich: es war nicht zu erwarten. Und das ist höchst bezeichnend. Denn bei Rilke lebt man ohne Voraussicht oder Planung, also ohne jede Freiheit, selbst wenn man Freiherr ist. Wer aber nicht voraussehen kann, dem ist die Welt ein Einbruch, ein Schrecken, ein „Erlebnis“. Die Stärke des Erlebnisses in der Rilkeschen Welt ist nichts anderes als die Folge der Unfreiheit. Ja, eigentlich nicht nur die Stärke des Erlebnisses, sondern das Phänomen „Erlebnis“ selbst, weil es diese ungeheure Rolle nur spielen kann, wo ein Leben als ganzes nicht geplant werden kann: denn „Erlebnisse“ sind grundsätzlich nicht das Leben, sondern Eindrücke im Leben, Unterbrechungen des Lebens.

Aber kaum hat er die Angst vor der „ganz in Eisen“ klirrenden Macht als Schock genossen – denn der Schock ist ein Genussmittel, und für ihn, den Feinnervigen ist jedes Erlebnis ein Schock –, als, natürlich wieder aus unbekannten Gründen, vom kleinen feinen Marquis Abschied genommen werden muss. Was ist nun das angemessene Freundschaftspfand zwischen den beiden Soldaten? Was kann der Marquis dem von Langenau geben? Eine kleine feine silberne Münze? Das wäre gemein. Ein kleines feines Schnupftuch? Zu schwer. Ihr werdet es nicht raten: ein, jawohl ein Blatt von seiner Rose. Das heißt ein Blatt aus dem Buche der Erinnerung an sein Mädchen. Das Geschenk besteht also in einem Stück von Erinnerung, die keine Erinnerung für den Beschenkten sein kann. Das ist ungeheuer bezeichnend: und beweist nun endgültig unsere These, dass Erinnerung für Rilke wichtiger ist als alles Gegenwärtige. Ja, hier ist die Erinnerung (d. h. die bloße Erinnerungsstimmung: die Wehmut) wichtiger als das Erinnerte. Denn das, woran das Souvenir erinnert, hat ja der von Langenau niemals gesehen. Er lernt die Frau gewissermaßen durch Erinnerung kennen. Niemals könnte er sagen: „Ich kenne sie nur vom Sehen.“ Nur: „Ich kenne sie nur vom Gedenken.“ Die Attitüde, die da mit scheinbar naiver Unbefangenheit dem Leser zugemutet ist, ist wahrhaft pervers. Man stelle sich vor, jemand hinge sich die angebräunten Photos der von ihm niemals gesehenen Eltern seines Freundes ins Zimmer, weil Wehmut auf jeden Fall „so“ schön ist: und man erkennt, wes Seele Kind Rilke ist. Die Sache wird dadurch noch peinlicher, dass die Austeilung, bzw. die Teilnahme eine erotische ist, dass, was da durch die Blume zelebriert wird, gewissermaßen ein Verhältnis im Dreieck, aber eben in Absenz ist – ein für den Langenau parasitäres Verhältnis, im Vergleich zu dem Stella, ja jede schlüpfrige Comedie a trois eine erfrischende Wahrhaftigkeit ausströmt. Aber der wirklich körperliche Brechreiz entsteht dadurch, dass die Teilnahme in sakramentalen Ausdrücken beschrieben wird. „Als ob man eine Hostie bricht“, ist es nämlich, als der Marquis das Rosenblatt ablöst. „Das wird Euch beschirmen.“ Sogar dem von Langenau scheint es erstaunlich, und endlich einmal kann sich der Leser ihm anschließen. Was aber dahinter steht, ist, dass Rilke jeden Quatsch als Mysterium zu geben sich untersteht, weil beide, Quatsch wie Mysterium, weit entfernt sind von der Plattheit einer Aussage. Aber nur weil das Verständnis wahrer Mysterien um die Jahrhundertwende bereits so völlig verloren war, kann man es wagen, solche Sinnlosigkeiten mit dem Anspruch von Geheimnis oder Tiefe dem Leser anzubieten.

* *

Und nun (S. 15) wird die Welt des wilden Lebens beschrieben. Was gibt es für den Inaktiven außer dem Traum und der Erinnerung? Den bunten Trubel (des Trosses), der ebenso der Ordnung entbehrt wie der Traum. „Trubel“ ist Wirklichkeit als Traum. Der Trubel sind freilich – die Anderen … die Menge, mit der man sich nicht mischt. Und da man sich nicht mischt, erregt er bloßen Schwindel. Tatsächlich ist „Schwindel“ in der Rilkeschen Welt eine ebenso wichtige Kategorie wie „Schock“. Während der „Schock“ den Einbruch der fremden Wirklichkeit bezeichnet, stellt Schwindel den Zustand dar, der sich der Seele bemächtigt, wenn das Unverarbeitbare bleibt. Da es also unverarbeitbar bleibt, ist es nur Impression: und in der Tat nimmt der sonst so stilisierte Text hier impressionistische, fast an Drehbuchtexte vormahnende, Züge an: „Flüche, Farben, Lachen“. Wenn man aber Rilke „impressionistisch“ nennt, muss man sich klar machen, welche Attitüde hinter diesem „I.“ steht: es ist der Impressionismus des Feinen gegenüber dem Vulgären, das ihn nur als Oszillation berührt, da er eben nicht mitmacht. Es ist ein Impressionismus der Esoterik. Wie gesagt, dieses impressionistische Element verschränkt sich nun aufs Eigentümlichste mit den Formvirtuositäten, die Rilke sonst verwendet. So mit raffiniert durchgeführten Vokalwiederholungen („mit purpurnen Hüten im flutenden …“); mit Alliterationen („bunte Buben“); mit Schein-Reimen: also mit Worten, die sich zwar reimen, aber nicht an ihren rechten, rhythmisch zu erwartenden Stellen zu stehen kommen („Kommen bunte Buben gelaufen. Raufen und Rufen“); oder mit Reim-Anspielungen, d. h. Worten, die sich beinahe reimen, und sich durch diese ihre Lautverwandtschaft durch den Trubel hindurch für einen Augenblick Blicke zuzuwerfen scheinen („schwarzeisern“, „heiß“, „zerreißen“; oder „wach“ – „Nacht“). Die Prosa scheint gewissermaßen ständig auf dem Wege, Gedicht zu werden, aber immer wieder wird sie durch den Trubel daran gehindert – und dieses „Fast-Gedichtsein“ beschreibt in der Tat den Trubel aufs Überzeugendste. – Auch die Inversion („kommen bunte Buben gelaufen“) hat natürlich ihre Gründe. Da es eben das Kommen und Gehen ist, das beschrieben wird, und, wer kommt, nicht so wichtig ist, wird das Subjekt hinter das Verbum „zurückgestellt“. –

Nach Analyse dieser Formen (oder genauer: der beabsichtigten Halbformen) – was wird nun beschrieben? Die Gewalt des wilden Lebens der Anderen, und zwar der Vulgären, die den Mut haben wirklich zu sein: der „Buben“ und „Dirnen“, das Zerreißen der Kleider, das Überwältigen, das Saufen, an dem man eben nicht teilnimmt. Aber da es nur gesehen wird (wie auf der Bühne), ist das Vulgäre – Pracht. Und da es stärker ist als man selber, wird es von Rilke-Langenau bewundert, ja beinahe göttlich respektiert. So sonderbar es klingt: Rilke ist auf solchen Seiten gewissermaßen Hofdichter der Barbarei, neidisch blickt er die steile Höh’– nach unten, in die wilde Vulgarität derer, die Liebe machen, statt nur, wie er, ein welkes Blatt einer Erinnerungsrose der nie gesehenen Frau eines Anderen bei sich zu tragen; derer, die saufen, statt, wie er, nur zu träumen; und die töten, statt todmüde und zu Tode gelangweilt sich weitertragen zu lassen, wie er. Nur in der Form der Gewalt (des Anderen) ist ihm das Leben deutlich: also nur in der Form des Vernichtens, nur in der Nachbarschaft des Mordes. Aus Helmen bietet man ihm Wein an, „leuchtend in eisernen Hauben“ – also das Köstliche im Gefäß des Mörderischen. „Wein? Oder Blut?“ endet, wiederum in geschmackloser Anspielung auf sakramentale Handlung, die Halbseite 15, „Wer kann’s unterscheiden?“ – Wer will es nicht unterscheiden, wäre die ehrlichere Frage. Rilke will es nicht. Denn der Inbegriff des starken Lebens ist ihm eben nur in der Nähe des Todes gegeben. Und der schön ziselierte Dolch ist ihm der Inbegriff des Köstlichen.

* *

„Endlich vor Spork“, lautet der erste, ungemein aufschlussreiche Satz der 16. Seite. Dass der von Langenau darauf gewartet hatte, vor dem General Spork zu stehen, davon hatte Rilke nie zuvor ein Sterbenswörtchen verlauten lassen. Aber er steht „endlich“ vor ihm. Damit öffnet Rilke plötzlich den Ausblick auf etwas Vergangenes, das er, solange es Gegenwart gewesen war, unsichtbar gehalten hatte. Denn für ihn, den Erinnerungsvirtuosen hat etwas eben erst dann „Sinn“, wenn es „gewesen“ ist. Und wirklich sichtbar ist nur das Erinnerte. Nicht die Vergangenheit führt bei ihm zur Gegenwart, sondern umgekehrt die Gegenwart zur Vergangenheit.

Die Konsequenz, mit der alle diese sprachlichen Subtilitäten durchgeführt sind, ist bewundernswert. Da ist kaum ein Satz, der nicht die Grundattitüde Rilkes bereits durch Wortwahl oder Wortstellung bestätigt. Dadurch erhält der Text tatsächlich eine solche gefühlsmäßige Überzeugungskraft, dass selbst derjenige, der zu dem Gefühl nicht überredet werden will, sich ihm nur schwer entziehen kann. – Zu den bereits dargestellten Inversionen kommt nun auch noch die von Wahrnehmung und Wissen. Dass der von Langenau den General sofort erkennt, obwohl er ihn niemals gesehen hat, ist also nicht erstaunlich, denn man weiß eben, was man niemals wahrgenommen hat. Und tatsächlich ist auch die Figur, die der von Langenau nun als „Spork“ erkennt, unverkennbar: sie ist das genaue Gegenstück zu ihm selbst: Während er Seide und Wehmut ist, ist der Eisen und Verachtung – wobei R. Verachtung als Kraft, und damit als Tugend meint. Den Brief, den der Knabe ihm überreicht – eine Empfehlung für die Promotion zum Fähnrich – kann Spork offenbar nicht lesen. Die Apotheose des Analphabetentums und der reinen Gewalt ist unüberbietbar. Denn Spork verschmäht sogar zu reden: Reden ist für ihn ein läppisches Derivat des Fluchens, für das die Lippen gemacht sind.

Für den von L. ist er der Inbegriff von wahrer Größe. „Der Spork ist vor Allem. Sogar der Himmel ist fort.“ Und in vollen Zügen genießt er vor der Allmacht des Anderen seine eigene Ohnmacht. Nur ein einziges Wort kommt von Sporks Lippen: „Cornet“ – also die Beförderung zum Fähnrich. „Und das ist viel“, schließt Rilke diese Seite.

Das ist wirklich viel. Zwar ist der von Langenau nun Symbolträger geworden, im wörtlichsten Sinne des Wortes, und hat dadurch weiteres dichterisches Gewicht gewonnen – aber wofür die Fahne steht, welches Symbol der Fähnrich trägt oder verkörpert, das erfahren wir niemals. Wie begreiflich, dass dieses Buch die Lagerfeuerbibel der Jugendbewegung wurde und dass sie, in Tornister-Ausgabe, die deutschen Soldaten in den ersten Krieg begleitete. Dass sie sogar in der Nazijugend ihre weitere Verehrung genoss, ist umso bedeutsamer, als schließlich die femininen Züge des „Helden“ der Dichtung durchaus nicht mit dem soldatischen (wenn auch mit dem Jugendbewegungs-) Ideal im Einklang sind. Aber die Idealisierung von „Symbolismus überhaupt“, die Ignoranz der Sache, für die man stirbt, und die Verehrung von Macht – diese drei Dinge zusammen haben die Dichtung für beinahe zwei Menschenalter einen Erfolg bleiben lassen.

* *

Seite 17 beginnt mit einem Ritt im Mondschein. Aber der Cornet erblickt den Mond nicht etwa unmittelbar; er muss ihn erschließen. „Und dann steigt der Mond. Er sieht es an seinen Händen.“ D. h.: er ist so tief in sich selbst versunken, dass die Außenwelt nur als Reflex aufscheint, den der eigene Leib zurückwirft. Der Narzissmus dieser Weltbeziehung ist unsteigerbar.

Wir hatten schon früher erklärt, dass Traum und Schreck zusammengehören: Dem Verträumten ist die Welt verschlossen; nimmt aber die Welt eine Stärke an, die die Verträumtheit überwältigt, dann begegnet sie eben als Schreck. „Er träumt. Aber da schreit es ihn an.“

Was ihn anschreit, ist ein an einen Baum gebundenes blutiges Weib, das er teils befreit, teils in höchst sonderbarer Weise besingt: nämlich in „geworfenen Reimen“. Die Prosa geht zwar weiter, in gehetzten und fetzigen Schrecksätzen. Aber sie enthält Reimworte, die regellos „hineingeworfen“ zu sein scheinen, ohne ein eigentliches Gedicht zu bilden. Aber dass kein Gedicht zu Stande komme, ist durchaus Rilkesche Absicht. Die Formzerreißung, die jede Panik darstellt, wäre durch ein glattes und geschlossenes Gedicht unangemessen wiedergegeben. [3]

Das sehr Eigentümliche an diesem sprachlichen Gebilde ist, dass in ihm zwar einerseits das aristokratische Ideal der Abrundung und Vollendung aufgegeben ist, andererseits aber an die Stelle des Aufgegebenen nicht etwa eine nüchterne Prosa oder eine stürmerische Unmanierlichkeit tritt: vielmehr wirken die Sprachsplitter wie die Splitter eines Elfenbeinturmes. Was wir am Anfang, noch ohne zureichenden Beleg behauptet hatten: nämlich dass Rilke künstlich Ruinen herstelle, ist hier bestätigt. Die Seite ist ein, durch Schreck zum Einsturz gebrachtes, Gedicht. Einerseits behält die Ruine den Adel des zuvor Massiven, andererseits rührt sie, wie Simmel einmal in einer geistreichen Analyse gezeigt hat, da sie bereits wieder den Gesetzen der Natur (Gravitation) untersteht, als Verkörperung der Vergänglichkeit.

Man mache sich klar, welche sonderbare Einstellung zur Vergangenheit hier Sprache geworden ist. Während Konservatismus Vergangenes retten, Romantik Vergangenes wiederherstellen wird, stellt Rilke Vergänglichkeit eigens her. Da Ruinen ehemalige Schlösser beweisen, stellt er Ruinen her. „Ich zerfalle – also bin ich adlig“, könnte sein Selbstbeweis lauten.

* *

S. 18 fasst nun alle bisher zum Schwingen gebrachten Gefühle, man darf schon sagen, in einem nur zwölf Zeilen langen Fazit der Gefühle meisterhaft zusammen. Denn diese 12 Zeilen enthalten die Mutter, die Fahne, das Rosenblatt und den Tod.

Das Wort „Zusammenfassung“ ist freilich ledern, verglichen mit der völligen Verschmelzung, die der v. L. vornimmt. Denn der steckt den Brief an seine Mutter „neben das Rosenblatt“: „er wird bald duften davon.“ Das heißt, die Anlässe der Gefühle werden beinahe gleichgültig, was zum Schluss übrigbleibt, ist eine einzige gegenstandlose süße Schwermut.

Der Wortlaut des Briefes ist bereits merkwürdig genug. Abgesehen von der Anrede, enthält er nur drei kurze Zeilen, die alle in der gleichen Aussage „Ich trage die Fahne“ einmünden:

„seid stolz: Ich trage die Fahne,

seid ohne Sorge: Ich trage die Fahne,

habt mich lieb: Ich trage die Fahne –“

Ehe wir an die Kritik dieses Briefes gehen, wollen wir offen zugeben, dass er in seiner Art ingeniös ist. Er ist gewissermaßen das Urbild des Reimes überhaupt. Drei Gedanken oder Bitten, die alle in die gleiche Tatsache oder in das gleiche Gefühl konvergieren. Der „Reim“ ist hier also nicht, wie gewöhnlich, nur eine lautliche Konvergenz, sondern eine sachliche: nur weil es solche Konvergenz gibt, ist auch die Erfindung lautlicher Reime mehr als Spielerei.

Nun aber der Inhalt: Dass niemals gesagt wird, wofür die Fahne steht, das haben wir bereits erwähnt. Sie ist, in der Zeit des Symbolschwundes, gewissermaßen nur ein Symbol für die leider verlorenen Symbole.

Wissen wir nicht, wofür die Fahne steht, so wissen wir auch nicht, worauf der Cornet stolz ist, und worauf er seine Mutter stolz zu sein bittet. Dass der v. L. seine Cornetstellung ohne alle Leistung, einfach auf Grund eines Empfehlungsschreibens, erhalten hat, steht zwei Seiten vorher. Wie gesagt: trotzdem soll die Mutter, auf Grund seiner Stellung, auf ihn stolz sein, ihn lieben und – völlige Absurdität, die nur aus dem Amulettglauben Rilkes begreiflich ist – ohne Sorge sein. „Stolz“ ist man also nicht auf etwas, was man getan oder geleistet hat, sondern auf Grund von etwas, was man „ist“, ganz gleich, woraufhin man ist, was man ist … eine durchaus, nicht im moralischen, sondern Klassensinne, adlige Einstellung … Wie denn überhaupt in der Welt des Cornet überhaupt nichts vorkommt, was „Tun“ oder „Arbeit“ auch nur im Entferntesten ähnelte, außer in der Form des Mordens: alles andere ist rein passiv.

Aber sehen wir einmal von dem Inhalt des Briefes ab: versucht der Cornet etwa, den Brief an seine Mutter dieser auf irgendeine Art zukommen zu lassen? Nichts dergleichen. Er steckt ihn zu sich, um ihn von dem Rosenblatt anduften zu lassen. „Vielleicht findet ihn einmal Einer …“, denkt er. „Vielleicht“ bedeutet dabei: wenn er im Feld gefallen ist. Damit ist nicht nur gesagt, dass der Cornet, statt irgendetwas dafür zu tun, das Schicksal des Briefes dem Strom des Geschehens überlässt, sondern, dass seine Mutter erst über ihn „vielleicht“ beruhigt sein soll, wenn er tot ist. Damit ist eine neue Variante der Inversion eingeführt. Da „Abwesenheit“ die Hauptkategorie der Rilkeschen Welt ist, Liebe bei ihm erst in der Abwesenheit blüht, der Tod aber die extreme Abwesenheit ist, darf ein Liebesbrief nur vom Toten kommen, nicht vom Lebenden: dann ist die Chance gegeben, in Liebe erinnert zu werden. Und Erinnerung ist ja, wie wir gesehen haben, im Rilkeschen Dasein die, alle Wahrnehmung ersetzende, Unmittelbarkeit der Beziehung.

* *

S. 19 bestätigt auf bisher unbekannte Weise unsere Passivitätsthese. Durch nichts nämlich wird die Passivität des Lebens (das als reines Infinitivum „Reiten, Reiten, Reiten“ die Dichtung eröffnet hatte) frappanter, als durch die „Aktivierung“ des Leblosen. In anderen Dichtungen würde der Satz „Breit hält sich die Brücke hin“ nicht allzu sehr auffallen. Hier aber bringt es einen erregenden Effekt mit sich.

Das Fest, das auf S. 20 beginnt, scheint nun alles, was wir über Schwermut und Monotonie gesagt hatten, Lügen zu strafen. Es scheint nur. Denn dieses Fest durchbricht nicht etwa, wie es Feste sonst tun, die Monotonie der Arbeit, vielmehr die Monotonie des bloßen Sich-treiben-Lassens. Aber auch das Fest ist eben ein Sich-treiben-Lassen, freilich ein dithyrambisches: es ist eine Durchbrechung der vorhergehenden Selbstverlorenheit durch eine Selbstverlorenheit anderer Art, die Durchbrechung des dumpfen und schleppenden Lebens durch eine des hellen und orgiastisch reißenden – aber Selbstverlorenheit bleibt sie. Denn bei Rilke wacht der Träumende nicht in die Wachwelt, sondern in einen anderen Traum auf. Dadurch erhält der Wechsel etwas durchaus Musikalisches, er wirkt wie der Übergang von einem „Satz“ in einen anderen oder wie der von einer Tonart in eine andere; und auch in der Musik gibt es ja den eigentümlichen Effekt, als würde man durch die Musik selbst aus der Musik herausgerissen … aber der Vorgang findet eben im Binnenmeer der Musik selbst statt.

Der neue Traum, in den nun die Dichtung aus der Monotonie hineinträumt, ist der von Luxus, Bad, Frauen, bequemer Kleidung, Frauen und Früchten, kurz ein tizianisierendes Schloss. Wie es bei Rilke nur das Entweder-Oder von Blut und Wein gibt, so auch nur das von Schlamm und Pfuhl.

Dass dieser Wechsel sich wiederum sprachlich abspiegelt, ist begreiflich. Wiederum beginnt die Prosa sich zu reimen, auf schwer kontrollierbare Weise wieder, ähnlich wie auf S. 17; dennoch, was hier geschieht, ist nicht so sehr eine, in ungebundene Prosa sich zersetzende Poesie, sondern umgekehrt: die Prosa ist auf dem Wege, ein Gedicht zu werden: wie Stäubchen auf einer Glasplatte durch einen Stoß sich zu Figuren ordnen, so ordnen sich hier die Worte unter dem Stoß der Musik zu Versen. Dieses Gedicht, das sich über mehrere Seiten erstreckt, hat also formal eine gewisse Ähnlichkeit mit den bereits analysierten „geworfenen Reimen“, aber die Ähnlichkeit ist eben die zwischen dem nicht mehr Fertigen und dem noch nicht Fertigen. Diese beiden Ausdrücke missverstehe man nicht. Sie bedeuten nicht etwa, dass Rilke die Dichtung unfertig gelassen habe, sondern dass es Rilke für notwendig und angemessen erachtete, noch-nicht-Fertiges und nicht-mehr-Fertiges zu verwenden, so wie ein Innenarchitekt Skizzen oder Torsos verwenden mag, um einem Raum seine fertige Form zu verleihen.

Ob freilich das heraufbeschworene Bild wirklich Tizianisch und nicht viel mehr Alma‑Tadema‑haft [vgl. http://www.alma-tadema.org/] ist, das überlassen wir der Entscheidung des Lesers. Jedenfalls ist die Verwendung aller venetianischen Utensilien eigentümlich peinlich, während kein Tizianbild etwas von seinem Glanz eingebüßt hat. Wir zitieren ein kurzes Stück, gedichthaft angeordnet:

„Und wieder erst lernen, was Frauen sind.

Und wie die weißen tun und wie die blauen sind;

was für Hände sie haben,

wie sie ihr Lachen singen,

wenn blonde Knaben

die schönen Schalen bringen,

von saftigen Früchten schwer.“

Ich kann mir nicht helfen, solche Stücke machen auf mich einen durch und durch wurmstichigen Eindruck, das ist, scheint mir, Aristokratisches in usum des Kleinbürgertums, das hat durchaus Ähnlichkeit mit Böcklin – nur dass eben der Haupteffekt hier wiederum dadurch zu Stande kommt, dass man alles das eben nicht mehr kennt, es erst wieder lernen muss, also, auch zu Beginn der Orgie wieder Anfänger ist … was die Chance gibt, jedes Erlebnis zum ersten, darum äußerst intensiven zu machen. Alles in diesem Rilkeschen Leben ist ein erstes und ein letztes Erlebnis, Erfahrung gibt es bei ihm also nicht. Denn zur Erfahrung gehört Verarbeitung des Erlebten, ein allgemeines Bescheidwissen, wie die Welt ist, und auf Grund des Verarbeiteten ein Meistern des Lebens. Bei Rilke gibt es nur Traumata, wenn auch oft sehr süße, aber Erfahrungen niemals.

Die Seite 21 beschreibt nun wirklich den Vorgang, der hinter der Gedichtwerdung der Prosa steht:

„Als Mahl beganns. Und ist ein Fest geworden, kaum weiß man wie.“

Als Prosa beganns, und ist ein Gedicht geworden, kaum weiß man wie.

„Und endlich aus den reifgewordnen Takten: entsprang der Tanz.“

Als Tanz ist eben die Orgie ständig im Begriff, Form anzunehmen; aber als Orgie ist der Tanz zugleich ständig in Gefahr, seine Form einzubüßen. „Sich-Erwählen“; „Abschiednehmen“. Das Fastgedichtsein ist also die wirklich angemessene „Form der Formlosigkeit“ für das Tänzerische, das Rilke beschreibt. Und so geschmacklos sie auch sein mag – meisterhaft geformt ist diese Halbform.

* *

Und wenn wir sagen, dass der Traum des Monotonen in einen Traum anderer Art übergeht, so sagt Rilke das selbst: „Aus dunklem Wein und tausend Rosen rinnt die Stunde rauschend in den Traum der Nacht.“ –

Technisch ist diese Seite ungemein raffiniert – gleichgültig ob dieses Raffinement bewusst oder unbewusst ist. Das Stück wird nicht nur, besonders im letzten Drittel, durch seine immer wieder aufgenommene Reimsilbe „-inden“, ein Gedicht, sondern ein Gedicht besonderer Art, da es sich gegen das Ende hin eigentlich nur in einen einzigen Reim hineinwiegt. Denn jene Zeilen, die nicht in die Silbe „-inden“ konvergieren, münden in die andere „-ind“, beziehungsweise „-innt“ ein, also in einen Laut, der nichts als die andersgeschlechtliche Variante des „-inden“ ist. Dadurch entsteht ein höchst eigentümlich schillernder Eindruck. Während gewöhnlich ein entschiedener Unterschied besteht zwischen den Reimen verschiedener Strophenzeilen (a b a b), ist dieser Unterschied hier halb aufgehoben: er wirkt wie der Unterschied zwischen blau und bläulich; akademisch gesprochen: Gleichheit und Verschiedenheit werden zugleich gesetzt – ein Kunstgriff, der darum so überzeugend wirkt, weil er verwandt ist, um jenen halbtänzerischen Trubel darzustellen, in dem alles einander gleich und von einander verschieden zu sein scheint.

* *

Seite 22 besingt nun atemlos das Wunder des Luxus und der Pracht, die – hier bestätigt sich wiederum unsere These, dass alles ein Traum sei – obwohl wirklich, doch von dem von Langenau als wirklich nicht aufgefasst werden kann, „Denn nur im Schlafe schaut man solche Pracht“.

Was er von den Frauen zu melden hat, ist nun freilich, trotz der Banalität der Pracht-Utensilien (Brokat, Rose, Krone etc.), die er zelebrierend nennt, äußerst interessant. Jede Bewegung nämlich, die er von den Frauen meldet, wird zum bloßen Tanz; d. h.: ihr Tun wird entwirklicht, als bloße Wigman-artige Gestik im Leeren aufgefasst. [4]] „Und manchmal heben sie die Hände so –, und du mußt meinen, daß sie irgendwo, wo du nicht hinreichst, sanfte Rosen brächen, die du nicht siehst.“ Über das „mußt“ ließe sich diskutieren. Er jedenfalls sieht die Bewegungen, als seien sie narzisstische, selbstgenießerische Bewegungen, die nach etwas ausgreifen, was nicht zu sehen ist – weil eben das Sich-Bewegen ihm wichtiger ist als das, worauf Bewegungen aus sind: die Welt.

Diese Apotheose der bloßen Geste ist sehr bezeichnend. Sie tauchte in den Jahrzehnten rund um die Jahrhundertwende [zum 20. Jahrhundert] überall auf. Sowohl in der Plastik, besonders bei Rodin [5], dessen Figuren Gesten sind, nicht ausführen; und in den verschiedenen Tanzschulen (Dalcroze [6]] etc.). Das völlige Abschneiden der Bewegung des Leibes von der Welt (das Geben ohne Partner, das Pflücken ohne Ast, das Abwehren ohne Dämon) ist gewissermaßen das Symbol für die äußerste Abwendung von der Arbeit, deren Bewegungen ausschließlich von Zweck und Gegenstand diktiert sind. Und dass die Tatsache der Arbeit in der Welt Rilkes unterschlagen ist, wissen wir ja bereits. –

Rein handwerklich-poetisch ist hier wiederum auffällig, was wir bei der Analyse der vorigen Seite bereits beobachtet hatten: dass nämlich die männlichen und weiblichen Reime Spielarten eines einzigen Reimes sind („schaut“, „Frauen“, „bauen“). Die dort gegebene Erklärung bezieht sich auch auf diese Stelle.

Am charakteristischsten aber sind die beiden ersten Zeilen der Seite. Sie beginnt nicht etwa mit den Worten: „Der von Langenau steht“, sondern mit denen: „Und Einer steht“. Wer ist „Einer“? Wann spricht man so? Dann, wenn der Beobachtende den Gesehenen nicht kennt; oder wenn es auf dessen Identität nicht ankommt. Aber einen Beobachter gibt es im Cornet eigentlich nicht. Alles ist, obwohl in scheinbar berichtender Er-Form, durchaus lyrisch, also unberichtend. Wem also erscheint der von Langenau als „Einer“? Ihm selber: sich selber ist er unerkennbar, er ist „benommen“, noch nicht oder nicht mehr ein bestimmtes Ich: denn er ist – so geht der Text weiter – „so geartet, dass er wartet, ob er erwacht“: also ist er nicht bei sich. Aber zum Erwachen kommt es eben nie: das Warten ist bei Rilke stets besser als das Erwachen, die Süße des Nichtwissens ist bei ihm stets angenehmer als die Nüchternheit, die er auf alle Fälle vermeidet.

Aber gehen wir auf die eigentümliche Wendung etwas näher ein:

„Und er ist so geartet,

daß er wartet,

ob er erwacht.“

Zuerst hat man den Argwohn, das „geartet“ verdanke sein Dasein einfach dem Reimzwang (Reim auf „wartet“). Aber die Erklärung reicht nicht. Dass Rilke das Reimwort „geartet“, das die meisten vor-Rilkeschen Dichter als zu abstrakt beiseite geschoben hätten, akzeptiert und verwendet, ist mehr als Zufall. Tatsächlich klingt bei ihm das Wort auch nicht eigentlich „abstrakt“ (ebenso wenig abstrakt wie die von ihm bis zum Überdruss benutzten „irgend“ und „solch“): es bezeichnet nicht etwa eine Generalisierung. Das Wort macht die Person wiederum zur bloßen passiven Qualität. Rilke weiß schon, warum er nicht sagt: „Der von Langenau wartet.“ Warten wäre gewissermaßen noch zu viel Beschäftigung. Vielmehr muss der von Langenau warten, so wie der Fluss strömen muss, weil er nun einmal ist, wie er ist, und nichts dagegen „tun“ kann. Er kann nichts dagegen tun: also ist er „unfrei“ – aber diese Unfreiheit wird niemals beim Namen genannt: Denn es ist die selbe Unfreiheit, das Sich-gehen-Lassen wie es „einem“ geht. „Einem“, weil man eben ist, wie man „geartet“ ist.

S. 23: Und „Einer“ bleibt er nun. Und da geschieht etwas sehr Charakteristisches. Er merkt, dass er nicht aufwachen kann – was ihn ja eigentlich sehr glücklich machen müsste, da er ja nicht wach sein will. Aber unseligerweise kann er deshalb nicht aufwachen, weil er bereits wach ist. Also muss er sofort dafür Sorge tragen, ins Träumen zurückzufinden. Und das ist der Inhalt der ersten drei Zeilen. Was diesen folgt: das Gespräch mit der Frau, wäre weniger wichtig, wenn es nicht zeigte, wie gefährlich nahe der Tiefsinn des Cornet der Albernheit kommt. Was nämlich in einem lyrischen Gedicht möglich wäre: eine Frau als die Nacht, oder die Nacht als eine Frau anzusprechen, grenzt in einem Dialog an Blödelei. „Bist du die Nacht?“ fragt also der v. Langenau die Frau, die im Traumpark zu ihm tritt, was diese, teils weil das immer ein bisschen mystisch wirkt, teils weil sowas dem Autor niemals zu viel psychologische Mühe macht, dadurch beantwortet, dass sie „lächelt“. Nein, nicht deshalb lächelt sie, weil auch sie die Frage des von Langenau verdächtig fände: Denn nach Kurzem gibt sie sich ihm ja hin: oder richtiger: bringt sie ihn dazu, sich ihr hinzugeben. Er hat freilich verdammte Bange, und möchte, da ihm schwant, was ihm da passieren soll, am liebsten in vollster Rüstung sein, um seine Jungfräulichkeit zu bewahren … was ihm allerdings nicht gelingt. Dass er in dieser Situation nackt „wie ein Heiliger“ ist, dürfte für die Situation nicht gerade ideal sein.

* *

Die Seite 25 scheint uns ein wirkliches Rätsel aufzugeben. Nachdem R. nämlich das Schloss abgedunkelt und seine wilden Gäste endlich in schweren eichenen Betten zu Ruhe gebracht hat, macht er eine Bemerkung, die man im ersten Augenblick [als] Zynismus verstehen müsste, wüsste man nicht, dass Rilke des Zynismus völlig unfähig ist. Von den bequemen Betten sprechend, sagt er nämlich, eigentlich sehr treffend: „Da betet sich’s anders als in der lumpigen Furche unterwegs, … Kürzer sind die Gebete im Bett. Aber inniger.“

Stünden diese Sätze beim jungen Goethe, bei Grabbe, Büchner oder bei Brecht, so würden sie rebellisch bedeuten: „Bett und Bequemlichkeit sind Gottesbeweise? Gut! Nur der gut Gebettete hat Grund, Gott zu danken. Dann sind Misere und Unbequemlichkeit Beweise gegen seine Existenz.“ Dieser „Schluss“ ist natürlich Rilke ganz fremd. Aber was kann die Stelle unzynisch bedeuten? Sie bedeutet, dass bei ihm Religion in höchst eigentümlicher Funktion erhalten ist: nämlich als seelische Luxus-Chance. Sein Verhältnis zu Gott ist genau so gebrochen, man kann wohl sagen, genau so pervertiert, wie das zur geliebten Person. Wir hatten früher gesehen, dass der „Andere“ für ihn eigentlich nur der Anlass ist, um sich dem Genuss des wehmütigen Gedenkens hingeben zu können; dass ihm der Duft des Rosenblattes (das ursprünglich von der Rose der Geliebten eines Anderen herstammt) unvergleichlich viel mehr sagt, als die Geliebte, die er ja gar nicht kennt. Sehr ähnlich diesem sentimentalen Verhältnis ist seine Beziehung zu Gott. Dass er Gott im Gebet suche, wäre eine falsche Feststellung. Vielmehr sucht er durch Gott den Genuss der Innigkeit. Darin ist er tatsächlich Romantiker: Denn zur Romantik gehört eben das „Okkasionelle“ (Schmitt-Dorotić, Politische Romantik [7]]), nämlich die Benutzung einer zuvor verbindlichen Erscheinung als „Gelegenheit“ für ein Erlebnis. Die Reihenfolge des religiösen Prozesses bei R. vollzieht sich also in invertierter Ordnung. Während die eigentlich zu erwartende Reihenfolge wäre: Innigkeit, Gebet, Gott …, verläuft sie bei ihm so, dass er Gott (oder wie er in einem anderen Buche mit bewusster Infantilität sagt: seinen „lieben Gott“) dazu benutzt, um zu beten, und das Gebet dazu benutzt, um „Innigkeit“ zu genießen. Dass man aber die voluptas pietatis im bequemen Bette besser, als in der „lumpigen Furche“ genießen kann, das ist konsequent und richtig.

Als Goethe 1805 seinen Bruch mit der Romantik endgültig machte, warf er Friedrich Schlegel „klosterbruderisierendes … Unwesen“ vor. Dass Rilke das Erbe dieses Unwesens: nämlich raffiniert hergestellte Kindlichkeit, und Frommheit als Genussmittel, übernommen hat, ist deutlich genug. Eigentümlicherweise aber verschmilzt bei ihm dieses Unwesen mit einem anderen: mit dem der Pseudo-Renaissancierung, wie sie um die Jahrhundertwende, in falscher Zarathustra-Nachfolge von Mackay, Alma Tadema, Richard Strauss u. a. vertreten wurde. Dieses Unwesen, in dem die wilhelminische Prachtliebe in teils aristokratisierter, teils anarchistischer Weise sublimiert erschien, war jeden Augenblick mit dionysischen Utensilien, Brokat, schäumenden Schalen und dgl. zur Hand. Ein Wackenroder mit der schäumenden Schale ist ein peinlicher Anblick – aber genau der Anblick, den der junge Rilke in diesen Seiten uns bietet.

Folgt S. 26, die eigentliche Liebesnacht. Ich geb dir zu, dass Rilke hier großer Dichter ist, in seiner halben Seite mehr über das Dunkel gesagt hat, als viele „kühne“ Romanciers 20 Jahre nach ihm, die gewissermaßen im Hauptberuf nichts anderes taten, als pedantisch das geschlechtliche Tabu immer wieder zu brechen.

Mir scheint es gewiss, dass gerade diese Seite, mit ihrer bewussten Ausschaltung des Gestern und Morgen und dem „Einsturz der Zeit“, auf die Erotik der Jugendbewegung einen entscheidenden Eindruck gemacht hat. Besonders der eigentümliche Satz: „Sie haben sich ja gefunden, um einander ein neues Geschlecht zu sein“ – was natürlich in der Jugendbewegung, deren Angehörige sich als „neue Menschen“ vorkamen, direkt zu Herzen oder wohin auch immer ging. Dass das Wort „Geschlecht“ hier bei Rilke durchaus zwischen den beiden Bedeutungen „Sexus“ und „Generation“ schillert, war der Jugendbewegung nach dem Herzen. Denn wie bei jeder nichtpolitischen Revolution, spielte ja die die Besonderheit des Geschlechtslebens als Kriterium der neuen Generation eine entscheidende Rolle … so schon in der Romantik, deren Luzinde bekanntlich eine „epochale“ Bedeutung hatte.

Die Seite ist darum so stark, weil die Insularität des Sexualerlebnisses, sein die Zeit verschwinden Machen, schließlich eine Wahrheit ist … nur dass eben für Rilke jedes Erlebnis diese Insularität besitzt.

Der Eindruck, den solche Zeilen wie diese auf die Jugendbewegung gemacht haben, ist fernerhin zu erklären aus etwas, was ich die „Geburt des Sexus aus dem Geiste der Kinderangst“ nennen möchte. Während in der Psychoanalyse die infantilen Ängste gerade den Sexus hemmen, sind sie hier die eigentlichen Motoren: in einer hart das Indezente streifenden Weise werden die beiden Liebenden als Halbwüchsige, ja, als Kinder geschildert, die aus Angst vor Dunkel und Einsamkeit „ineinander“ flüchten.

Es ist bedauerlich, dass Rilke auch diese großartige halbe Seite durch seinen albern-subtilen Vergleich am Schlusse verdorben hat. Er spricht von den flüchtigen Namen, die die Liebenden einander geben. Diese Namen, fährt er fort, würden sie einander wieder abnehmen, „leise wie man einen Ohrring abnimmt“. Die Esoterik dieses Vergleichs ist unübertreffbar: Unter Tausenden tut das nicht Einer, ganz davon zu schweigen, dass das Seltenste zur Verdeutlichung einer an sich deutlichen Situation nicht geeignet ist. Aber das Seltene gibt ihm und dem Leser eben den Eindruck des Aristokratischen und Köstlichen. Und gerade weil er das Bekannte durch das Erfundene erläutert, ist man mystifiziert.

Aber sehen wir von den Ohrringen einmal ab und blicken wir auf die Vergleichssucht selbst. Dass das Wörtchen „wie“ die Philosophie Rilkes in nuce enthält, spürt man ja schon beim ersten Lesen, wenn man es sich auch nicht gleich klarmacht, was durch die unzähligen „Wie“s eigentlich gemeint ist.

Es ist nicht mehr als eine Vorbemerkung, wenn wir erst einmal sagen, dass nicht so sehr Objekte verglichen werden (siehe etwa Heines „Du bist wie eine Blume“); sondern Tätigkeiten, Vorgänge und Situationen der verschiedensten Provenienz. Diese werden in „Gleichungen“ (bzw. Vergleichungen) zusammengebracht. Und diese sonderbaren Querverbindungen zwischen den verglichenen (oder zusammen heraufbeschworenen) Vorgängen konstituieren den eigentlichen Zusammenhang der Welt, wie er von R. gesehen wird. Dieser Zusammenhang ist ein völlig unkausaler, die beiden verglichenen Glieder werden nicht etwa als Ursache und Wirkung, als Grund und Folge gesehen; auch nicht als Glieder in einem anderen Typ (etwa Organismus- oder Struktur-) Zusammenhang, wie er oft im Kampf gegen bloßen Kausalismus formuliert wurde. Wie der Zusammenhang, der durch „wie“ verbundenen Einzelheiten beschaffen ist, bleibt rätselhaft, er ist zwar mehr als bloße Analogie, aber weniger als direkter Zusammenhang, denn es ist eine poetische Spiegelung einer Erscheinung in den anderen Wirkungszusammenhang. Die Undeutlichkeit gehört zu ihm als differentia specifica. Seine Hauptfunktion aber besteht tatsächlich in der Auslöschung der Kausalität, in einem Augenblick, da Naturwissenschaft und Technik alles, auch alles Menschliche als kausal determiniert sehen wollte. Aber es ist eben sehr typisch, dass diesem Begriff einer totalen Determiniertheit von Rilke nicht ein Freiheitsbegriff gegenübergestellt wird, sondern ein undeutlicher Begriff einer ad libitum Beziehung aller Dinge unter einander. Für das Zeitalter war es freilich ungeheuer faszinierend, bei Rilke eine solche Welt der Kausalitätslosigkeit zu finden … und der maßlose Genuss, den seine Dichtungen machten, bestand zum großen Teil in diesen Ferien von Kausalität. Da der Rilkeschen Welt außerdem das Faktum des Arbeitens fehlte, hatte man in der Tat bei ihm alles, was man zur Erholung in einer völlig technisierten Welt brauchte. Rilkes Defekte waren seine Chancen.

* *

S. 27 ist ein Stillleben. Aber wirklich ein stilles Leben. Dies aus mehreren Gründen. Da für Rilke die, aus der gewesenen Zeit überlebenden, Dinge die Zeugen der Wahrheit und des wahren Lebens sind, sind sie auch lebendig, mindestens „noch lebendig“. Da sie ferner nicht so rasch sterben, wie Menschen, haben sie gewissermaßen einen stärkeren Grad an Ewigkeit, also eine höhere Seinsfülle als der Mensch. Da schließlich der Mensch bei ihm rein passiv ist, nur von den Dingen lebt, sind diese das eigentlich Nährende und Spendende. [8]

Dass Rilke also die Fahne träumen lässt, ist durchaus konsequent. Bemerkenswert und neu ist freilich der eigentümliche Satz: „Der Mondschein geht wie ein langer Blitz vorbei“. Das heißt: Rilke bezeichnet etwas Ruhiges oder höchstens langsam Wanderndes als eine Variante des Plötzlichen – was wieder einmal bezeugt, dass er eigentlich auf das Blitzlicht der Sekunde eingestellt ist, das, abgesehen vom Traume, das Modell seines Nu-artigen Erlebnisses ist.

Und tatsächlich ist solch ein Blitz bereits auf der nächsten Seite da. Oder noch nicht da, aber bereits, ungeheuer spannend, vorbereitet. Denn vorerst schlafen sie alle noch, die Schlossbewohner und die Gäste, in einem großen Schlafe. Und dann bricht das Feuer aus. Denn es gibt eben nur Traum und Schrei, Schlaf und Blitz. Freilich sagt R. nicht sofort, dass es wirklich brennt. Und zwar deshalb nicht, weil ja für ihn das Sichtbare niemals sofort erkennbar ist. Alles und jedes ist ja erst einmal „irgendetwas“. So langsam bei ihm der Mensch aufwacht, so lange bei ihnen das Intervall zwischen „Reiz und Antwort“ dauert, so schwer identifiziert sich eben bei ihm auch jeder Gegenstand. Was in Slapstick-Filmen in Amerika „double-take“ genannt wird, um verschlafene Menschen zu charakterisieren: dass nämlich erst einmal gar keine oder eine harmlose Reaktion gezeigt wird – und dann erst, nach einem gewissen Intervall, die angemessene Reaktion – das ist bei R., freilich ohne jede komische Absicht, das Normale; natürlich ganz ohne Komik, denn in diesem wirklich vollkommenen Ausfall besteht ja letztlich sowohl Georges wie Rilkes Feierlichkeit. Dass dies „Erst-einmal-nicht-identifizieren-Können“ eine ungeheure Spannung erzeugt, kann nicht geleugnet werden. Aber ebenso wenig, dass diese Spannung, da sie undramatisch ist und nicht das Geringste mit irgendwelchen dramatischen „Widersprüchen“ zu tun hat, die reine Spannung eines sich langsam entwickelnden Unfalls ist, also, wäre sie nicht stilistisch so subtil gezeichnet, die Spannung eines Feuersbrunst-Films um nichts überragt. Freilich ist eben die Feuersbrunst, die bei R. ausbricht, eine sehr adlige. Und da sie mit Hörnerschall und Panzern geschmückt ist, ist eigentlich auch das Feuer ein Schmuck der Erde, denn, wie der spätere, unvergleichlich größere, Rilke sagt: „Das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang.“ Und ohne eine Dosis Schrecken kann er sich gewissermaßen so wenig wie viele seiner vulgäreren Zeitgenossen (etwa Stuck) das Schöne vorstellen. Es ist gar keine Frage, dass diese Affinität von Schönheit und Grausamkeit bzw. Grässlichkeit eine sublimierte Version jener Motive ist, die sonst in Schundliteratur bearbeitet wurden. Da der Alltag das schlechthin Reizlose, ist der Schrecken, der immerhin den Alltag durchbricht, ja, ihn sogar u. U. auffrisst (als Feuer) etwas Schönes. Dieses herostratische Motiv, dessen philosophische Formel lauten würde: „Ich zerstöre, also bin ich“, hat natürlich auch auf die Jugend des Nationalsozialismus die stärkste Wirkung ausgeübt. Und die Schönheit der Fackel, der die Seele weniger Beleuchtung als Opfer und Brandstiftung assoziiert, erhellte nicht zufällig den Beginn der düsteren Zeit, die dann in anderen Bränden unterging.

Da also das Schreckliche des Schönen Anfang ist, ist es auch begreiflich, dass es auch der Beginn der Dichtung ist. Denn im Augenblick, da das Feuer erschreckt, heißt es, in Strophen angeordnet:

„Das sind die Balken, die leuchten.

Das sind die Fenster, die schrein.

Und sie schrein, rot, in die Feinde hinein,

die draußen stehn im flackernden Land,

schrein:

Brand.“ [9]

Die folgende Seite (30): wieder unregelmäßig gereimte Getümmel von Pferden und Schreien, eingerahmt von einem neuen Schrecken („Aber die Fahne ist nicht dabei.“), der das Tohuwabohu auf das Wirkunsvollste eröffnet und abschließt. Die Wildheit der Verzweiflung, mit der der Verlust der Fahne beklagt wird, ist, im schlechten Sinne, Pathos, weil Treue und Pflicht eben dann nur wirklich erschüttern, wenn man erfährt, worum es geht (etwa wie in der Antigone), und was das Symbol symbolisiert. Wie unvergleichlich viel reifer (von allem Anderen: Fülle, Menschlichkeit, breitem Atem abgesehen) ist die Beschreibung des 30jährigen Krieges in Wallensteins Lager, wo der „erste Jäger“ völlig zynisch, eben weil der Soldat damals die Sache, für die er kämpfte, nicht kannte und nicht kennen konnte, den Übergang von einem Lager zum anderen berichtet. Aber Rilke sehnt sich ja eben gar nicht nach einer Sache, um die es ihm ginge und der er treu sein könnte, sondern er sehnt sich nach dem schönen Gefühl der Treue – wobei ihm jede Sache gleich recht ist [10] –, und das ist das höchst Gefährliche an solchen Seiten. Parallel zu Kants Worten: „Begriffe ohne Anschauung sind leer“, könnte man sagen: „Gefühle ohne Sache sind hohl.“ Und diese Hohlheit ist nicht einfach als negativ-ästhetisches Beiwort gemeint, sondern als ein moralisches Wort: Denn in das Hohle kann eben jede Flüssigkeit hineingegossen werden … eine Chance, die der Nationalsozialismus mit beiden Händen ergriffen hat.

* *

S. 31 ist wohl, was die Großartigkeit des Übergangs von Prosa zu Poesie und umgekehrt betrifft, der Höhepunkt des Cornet [11] Sein Inhalt: die Rettung der Fahne aus dem brennenden Schloss und der Ritt mit der brennenden Fahne hinter den Seinen her, an ihnen vorbei, den Seinen voran. Wie Rilke hier die Flammen, die dem Cornet von überall entgegenschlagen, durch einen Kettenreim (Gängen, umdrängen, versengen) in Sprache übersetzt, ist großartig: aus jeder Zeile züngelt gewissermaßen die gleiche Flamme hervor.

Man wird einwenden: diese Seite, die das rasende Überholen der Seinigen darstellt (oder besser in Sprache mitmacht) widerlege unsere Behauptung, dass das Dasein bei Rilke aktionslos sei. Ich glaube diesem Einwand nicht. Denn diese „Aktion“ ist selbst wieder, durch die Blitzartigkeit und Tollkühnheit des Vorgangs, etwas, was vorbeiführt an wirklicher Handlung, sie ist eine Art Hechtsprung ins Wasser der unkontrollierbaren Gefahr, aber nicht ein „Schritt“ oder eine aus „Schritten“ zusammengesetzte Handlung. Dieser Ritt, der mit der zur Fackel werdenden Fahne endet – also in einer Verschmelzung der zwei Symbole, die die stärkste Appellkraft haben, besteht – ist außerordentlich eindrucksvoll. Aber die Stärke des Appells ist eben gekoppelt mit der Schwäche der Deutlichkeit, denn es geht eben einfach gegen „den Feind“ – wer das ist, ist ebenso schleierhaft, wie, warum er „Feind“ ist. Die Appellkraft ist einfach die einer reißenden und mitreißenden Musik, die gegen jeden Feind verwendet werden kann: sie ist vorlogisch, „hohl“, also in dem Sinne, in dem wir es vorhin erklärten, „ausfüllbar“: die Ausfüllung besorgten die Nazis.

* *

Die Darstellung des Gefechts und des Sterbens, S. 32, ist von einer Großartigkeit, die für vieles entschädigt. Wo andere Dichter nun nach Herzenslust geklirrt und gerasselt hätten, lässt Rilke eine vollkommene Windstille einsetzen. Die Wirklichkeit in ihrer äußersten Zuspitzung: nämlich als Gefahr, ist dem Cornet, wie wir wissen, so schlechthin fremdartig, so absolut unerkennbar, dass er sich unter den ihn umringenden Feinden umblickt wie zwischen exotischen Blumen. In dieser Schlachtbeschreibung würde man eine Nadel fallen hören. Die „negative Explosion“, die durch Friedlichkeit entsetzt, wo man Getöse erwartet, ist auch heute noch, und auch für mich, von einer unwiderstehlichen Wirkung. Sie ist gewissermaßen die Probe aufs Exempel des ganzen Werks: Ist die Welt fremd, dann ist die Gefahr fremd. Ist die Gefahr fremd, dann ist sie, wie alles Fremde, traumhaft. Ist sie traumhaft, so hat sie Stille in sich und Schönheit … Bis freilich die Gefahr so anwächst, dass sie (wie wir es oben auseinandergesetzt hatten) eine zweite „Reaktion“, mindestens für einen Augenblick, erzwingt. Das ist hier nun der Fall: Der Cornet erkennt, in einem hellen Augenblick, freilich nicht länger, den Feind als Feind, wirft sich auf ihn … aber kann doch das Wirklichkeitsbewusstsein nicht durchhalten. Nicht unter sechzehn Krummsäbeln stirbt er, sondern unter 16 Strahlen eines Springbrunnens. Tod und Schönheit sind, wie wir gesehen hatten, wiederum auf eine einzige Platte photographiert, und die springenden Blutstropfen sind ihm Rubine der Schlachtfelder. Diese Ästhetisierung der Tollkühnheit ist bereits eine ungeheuer verfeinerte und aristokratisierte Version der Militärvergötterung, eine Vorwegnahme der „Ästhetik des Tötens“, wie sie entsetzlich von Mussolinis Sohn formuliert wurde, der die Wirkung einer unter Abessiniern explodierenden Fliegerbombe mit dem Sich-Öffnen einer Rose verglich. . [12]]

Natürlich ist diese Verkoppelung von Schönheit und Töten (die die Verkoppelung von Schönheit und Sterben in der Spätromantik abgelöst hat) uralt. Hier aber ist diese Verkoppelung deshalb so unerträglich, weil sie nicht der wirklichen Kampfeslust oder wirklichem Hass (wie bei Kleist) entsprang, sondern in kunstgewerblich müder Attitüde. Die scheinbar unbegreifliche Freude am Gefecht bei Rilke ähnelt der Apotheose irgendeiner Perversion durch einen Impotenten. Der Tonus des Wirklichkeitsbewusstseins ist so niedrig, dass, um dieses Bewusstsein auf normale Höhe zu bringen, die schärfsten Mittel verwendet werden müssen. Das „Ich töte, also bin ich“ und das „Ich bin, und das ist schön“ – verschmilzt zu dem Satze: Ich töte, und das ist schön – und die Säbel werden zur „Wasserkunst“.

Aus dem „Kein schönrer Tod ist auf der Welt“ ist (freilich nicht in Rilkes Worten) „Kein entzückenderer Tod“ geworden.

* * *

Dass das Sterben des Cornet von Rilke nicht direkt ausgesprochen, sondern nur die Schatten, die der Tod wirft, referiert werden, ist völlig konsequent. Sätze wie: „Er fiel“ oder „Er starb“ wären nach dem Vorangehenden unassimilierbare Fremdkörper. Sie wären so widerspruchsvoll, wie etwa eine Beschreibung des eigenen Sterbens in einer Autobiographie wäre. Denn das Prinzip (und der Charme) des Rilkeschen Stils bestand ja darin, dass er, obwohl scheinbar in der dritten Person, doch nicht über die Zustände des Cornet sprach, sondern „aus ihnen heraus“.

Die Indirektheit, mit der er über den Tod des Cornet schreibt, geht so weit, dass selbst die letzte Zeile noch von ihr affiziert ist. Nicht etwa, dass die Mutter des von Langenau bei der Nachricht geweint habe, teilt R. mit, sondern dass „eine“ alte Frau geweint habe. Nein, auch das nicht; sondern, dass der Bote „eine“ alte Frau habe weinen sehen. Der Satz spricht also scheinbar, mindestens grammatisch, von dem Boten, nicht von der Mutter; vom Sehen, nicht vom Gesehenen. Denn die einzige Tatsache, die für R. gilt, ist ja eben der Eindruck, den etwas macht, nicht die Sache selbst.

[1Köstlich in dem vieldeutigen Sinne des Deliziösen, des Unbefleckten, des Teuren, des nur in kleinen Portionen zu Kostenden – aber es wurde eben eine Köstlichkeit nur für die Volksküche: costume-jewellery heißt Derartiges in Amerika.

[2[[Eigentlich sind es nur 28 Seiten mit jeweils ein paar Zeilen Text, die 1912 bei Insel erschienen sind. Obwohl so wenig und urheberrechtlich frei, ist der Rilke-Text hier nicht mit abgedruckt, weil leicht online zugänglich. Die von Anders angegebene Seite findet sich im nachstehenden Link auf der jeweils um 1 vermehrten Seitenzahl: Rainer Maria Rilke: Gesammelte Werke IV. Schriften in Prosa. Erster Teil. Leipzig 1924. Online unter: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Weise_von_Liebe_und_Tod_des_Cornets_Christoph_Rilke (von 1927 als Text) oder unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Cornet_Christoph_Rilke (Faksimile aller Seiten als JPGs) (letzter Zugriff: 4.11.2015).

Zu Günther Anders’ irriger Datierung: Rilke hatte seinen Cornet 1899 geschrieben und erstmals in: Deutsche Arbeit Jg. 4/1904, H. 1 veröffentlicht. Der erste selbständige Druck im Umfang von 26 Seiten erschien 1906 bei A. Juncker, Berlin; Leipzig; Stuttgart. Die Insel-Ausgabe bot dann ab 1912 die endgültige Fassung, von der bis 2006 laut Wikipedia 54 Auflagen mit 1,14 Millionen Exemplaren erschienen sind oder verbreitet wurden; mit einen neuen Schub an Publikumsinteresse durch Auslaufen des urheberrechtlichen Schutzes 1996, 70 Jahre nach Rilkes Tod.

Es soll bitte nicht irritieren, wenn Anders Anführungszeichen nicht nur für Zitate, sondern – neben Unterstreichungen, die hier kursiv wiedergegeben werden – auch zur Hervorhebung mancher Ausdrücke verwendet; und mehrmals drei Punkte statt eines Gedankenstrichs setzt. Sonst ist hier seine Rechtschreibung von 1948, die unter den Bedingungen des US-amerikanischen Exils ohne Umlaute und ß auskommen musste, heutigen Gepflogenheiten angepasst. Das von ihm sorgfältig handschriftlich verbesserte Original befindet sich bei seinem Nachlass unter der Signatur ÖLA 237/04 (W 36) im Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. ((Der zutreffende Titel des Beitrages fällt in die alleinige Verantwortung der Redaktion, der Text allein in diejenige des Autors. Alle Anmerkungen in eckigen Klammern: hinzugefügt von G. O.)]

[3Wenn man die benutzten Reimsilben der Reihenfolge nach alphabetisch ordnet; „Binnenreime“, also solche, die nicht Zeilenenden ausmachen, mit „B“ bezeichnet; Reimvarianten (wie „Baum“ und „bäumt“) mit einem „V“; und Binnenvarianten mit „BV“, dann sieht das Reimschema der Zeilen 5–16 folgendermaßen aus:

Zeile 1(träumt)a

Zeile 2(schreit)Bb, (an) c

Zeile 3(schreit)Bb, (schreit) b

Zeile 4(Traum)Va

Zeile 5(Barmherzigkeit)b

Zeile 6(Baum)Va

Zeile 7(an)c

Zeile 8(Mann)c

Zeile 9bäumt)Ba, (Leib) d

Zeile 10(Baum)(BVa), (Weib) d

Zeile 11(bloß)e

Zeile 12(los)e

[4[[Siehe. Mary Wigman performs Hexentanz. In: https://www.youtube.com/watch?v=wkYSRKix9Ls et al. ibid. (letzter Zugriff: 4.11.2015).]

[5s. d. Verfassers „La Sculpture sans Foyer“, in „Deucalion“, Paris 1947 [mit Untertitel: Étude sur Rodin par Guenther Stern Anders. Siehe. Günther Stern, Homeless Sculpture. In: Philosophy and Phenomenological Research Vol. V, No. 2. Deutsche Rückübersetzung von Werner Reimann: Günther Anders. Obdachlose Skulptur. Hrsg. v. G. O. München 1994.]

[6[[Siehe Dalcroze Eurhythmics teacher John Colman gives a demonstration. 1966. In: https://www.youtube.com/watch?v=RXB67nHnty0 et al. ibid. (letzter Zugriff 4.11.2015).]

[7[[Carl Schmitt-Dorotić, Politische Romantik. München; Leipzig 1919.]

[8Das klingt, als sei bei Rilke eine gewisse materialistische Note zu finden; in der Tat spielen ja bei ihm die nährenden Dinge der Welt, insbesondere natürlich die köstlichen, eine große Rolle … Aber der Vorrang, den in gewissem Sinne bei ihm die „Dinge“ vor den Menschen und ihren Aufgaben haben, ist bei ihm selbst bereits spiritualisiert – der Gegenstand hat bereits sozusagen eine Transsubstantiation durchgemacht –, und [die Dinge] sind, obwohl stumm, doch Boten, die – sich selber melden.

[9Auch hier wieder die Variation der männlichen und weiblichen Reimworte: das Wort „flackernden“ bereitet die Reimworte der nächsten Zeilen „nackt“ und „Trakt“ vor.

[10Über die ganz ähnliche Sehnsucht nach „Verbindlichkeit“ ohne jeden Inhalt siehe meinen Sartre-Aufsatz „Götterdämmerung und kein Ende“.

[11Technisch ordnen sich die gehetzten gereimten Vierfüßler folgendermaßen an: a a a b c b d d e f f g g c g h i k

Auffällig ist dabei die Unregelmäßigkeit der Häufigkeit und Reihenfolge der Reimstrophen: die Tatsache, dass c (Fahne) erst einmal als ungereimtes Wort auftaucht; das hat eine Wirkung, als wenn ein Reiter aus seiner rasenden Reitrichtung plötzlich einen Quersprung macht, um sofort wieder auf alter Straße in Gang zu kommen. Erst nach neun Zeilen findet c sein (identisches) Reimwort. – Einen vollends erschreckenden Eindruck macht die neunte Zeilenendung (e „Seinen“), die völlig außerhalb, und nie als Reim aufgenommen, dasteht: ein geradezu genialer Kunstgriff: denn der Inhalt dieser Zeile ist das „Außerhalb-Stehen“; der rasende Ritt hinter den anderen her hat den von L. so weit nach vorne gebracht, dass er außerhalb der Seinen ist. Die beiden letzten Zeilen (i und k) gehorchen zwar noch dem gleichen Rhythmus wie die anderen, aber da sie bereits ungereimt sind, führen sie bereits in die Prosa der nächsten Seite zurück.

[12[[Glaublich: Vittorio Mussolini: Bomber über Abessinien. München 1937; nicht überprüft.]

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1948
Autor/inn/en:

Günther Anders:

Günther Anders wurde am 12. Juli 1902 in Breslau geboren. Nach dem Studium der Philosophie 1924 Promotion bei Husserl. Danach gleichzeitig philosophische, journalistische und belletristische Arbeit in Paris und Berlin. 1933 Emigration nach Paris, 1936 nach Amerika. Dort viele „odd jobs“, unter anderem Fabrikarbeit, aus deren Analyse sich später sein Hauptwerk ‚Die Antiquiertheit des Menschen‘ ergab. Ab 1945 Versuch, auf die atomare Situation angemessen zu reagieren. Mitinitiator der internationalen Anti-Atombewegung. 1958 Besuch von Hiroshima. 1959 Briefwechsel mit dem Hiroshima—Piloten Claude Eatherly. Stark engagiert in der Bekämpfung des Vietnamkrieges. — Auszeichnungen: 1936 Novellenpreis der Emigration, Amsterdam; 1962 Premio Omegna (der ,Resistanza Italiana‘); 1967 Kritikerpreis; 1978 Literaturpreis der ‚Bayerischen Akademie der Schönen Künste‘; 1979 Österreichischer Saatspreis für Kulturpublizistik; 1980 Preis für Kulturpublizistik der Stadt Wien; 1983 Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt; 1992 Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Günther Anders starb am 17.12.1992 in Wien.

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