FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1984 » No. 366
Ivan Illich

Grüne Politik als Kunst des Möglichen

Die „Besänftigung“ der Produktionstechnik ist mehr als Naturschutz: Sie ist Forderung nach Gleichberechtigung und Autonomie.

Es ist an der Zeit, „sanft“ nicht mehr mit „grün“ zu verwechseln, auch wenn die grüne Politik in der Praxis sich weitgehend für Besänftigung der naturgestaltenden Technik einsetzt. „Sanft“ beschwichtigt die Logik des „Kriegens“. Politische Entscheidungen haben nur dann spezifische Grünkraft, wenn sie die unkritische Techno-Logik umstülpen, die seit zweihundert Jahren den sozialen Machtkampf bestimmt. „Grün“ läßt sich weder auf linke Interessenvertretung reduzieren, noch auf „sanfte“ Naturgestaltung.

In der trivialen Techno-Logik ist das Fahrrad ein Verkehrsmittel. Es dient dem mit menschlicher Energie angetriebenen Selbst-Transport. „Grüne“ Techno-Logik stülpt diese Sichtweise um. Das Fahrrad wird zum Mittel, um den Transportzwang in einer schon zersiedelten Gesellschaft abzubauen, und die Füße durch Technik zu beschwingen. Wie ein von innen nach außen umgestülpter Sack eröffnet grünes Denken diese Logik der Kritik und stellt sich durch diese Umstülpung in Gegensatz zum verfilzten Begriffspaket, das die ökonomische und technokratische Naturhaftigkeit des Atomstaates legitimieren soll.

Der unkritisch-naturgestaltenden Forschungspolitik stellt also grünes Denken eine Wissenschaftspolitik gegenüber, deren Ziel der Aufbau gesellschaftsheilender lokaler Selbsthilfekräfte ist.

Unmittelbar besteht die Kunst des grünen Politikers darin, sanfte Alternativen zur modernen Staatspolitik aufzuzeigen und deren konkrete Konsequenzen — in schlauer Staatswidrigkeit — dem Wähler als praktisch vorteilhaft und nicht nur ethisch notwendig erscheinen zu lassen. Letztlich kann eben der Politiker nicht umhin, für seine Logik zu werben. Und die Logik, daß Technik primär nicht der Produktion und Naturgestaltung dienen soll, sondern dem Aufbau von begrenzten Gemeinschaften, erscheint nicht nur der Rechten, sondern besonders der traditionellen Linken als ärgerlicher Unsinn.

Das Vorurteil, daß Technik ihrer „Natur“ nach ein Mittel sei, um Natur — sei es sanft oder hart — produktiv zu gestalten, will ich entlarven. Um gleichzeitig auf die Entstehungsgeschichte der vorherrschenden Techno-Logik hinzuweisen, beschreibe ich die umstülpende Funktion grünen Denkens bei einem mittelalterlichen Techno-Logiker.

Mein Autor ist ein Mönch aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts und als Hugo vom Kloster Sanct Victor in Paris bekannt. Hugo ist ein Meister in der Kunst, originelle Einfälle bescheiden und mit dem Anschein der Selbstverständlickeit vorzutragen. Wie über das Wesen der Ehe, über den ethischen Wert der Wollust, über die soziale Wirksamkeit des Zeichnens, hat Hugo auch zur grünen Logik der Technik einen einzigartigen Beitrag geleistet, der in der Geschichtsschreibung der Technik bisher nicht wahrgenommen wurde.

Für Hugo sind Handwerk, Bergbau, Verkehr ebenso wie Schauspiel Heilkünste für eine Gesellschaft, die durch eigenes Verschulden mit der Naturordnung in Konflikt geraten ist. Technik ist für Hugo der materielle Ausdruck gesellschaftlicher Anstrengung, um ein historisch gestörtes Verhältnis zwischen einer vom Menschen gebrochenen Natur und einer deshalb von der Natur bedrohten Menschheit erträglicher zu gestalten.

Hugos Terminologie ist vom Auge her bestimmt, vom Glanz der Wahrheit, die für ihn Schönheit ist. Alles, was außerhalb Gottes schön ist, ist auch schönen Beschränkungen unterworfen: so auch das Leben des ersten Menschenpaares im Paradies. Die Freude des Paradieses war durch göttliche Verordnungen beschränkt. Der Zugriff des Menschen nach der verbotenen Frucht hat die Schönheit der Schöpfung verletzt und die Natur zum Widersacher des Menschen gemacht. Die Paradiesgärtner müssen fortan aus einem blutenden Schoß geboren werden und ihre Nahrung von einem Acker voller Disteln und Dornen gewinnen, ihr Leben in Schweiß und Mühsal fristen. Der Spiegel in den Augen, im Verstand und im Herzen der Menschen ist fortan getrübt.

Die Suche nach einer Abhilfe für diesen selbstverschuldeten Zustand nennt Hugo Philisophie. Wissenschaftliches Vorgehen — das er in seiner Gesamtheit Philosophie nennt — ist das Bemühen, trotz dieser peinlichen Schwächung soweit wie möglich schön zu leben. Seine Wissenschaftstheorie legt Hugo mehrfach, besonders im „Dialog mit Dindimus“ dar. Es geht ihm, mitten im hohen Mittelalter, um eine folgerichtige ökologische Begründung der wissenschaftlichen Methode, vermeintlich ohne Rückgriff auf das Dogma. So wählt er, als sein Alter Ego einen tugendhaften Brahmanen, den das Mittelalter aus dem Alexanderroman kannte und zum „unbewußten Christen“ stilisiert hatte: König Dindimus.

In einem von Hugo 1129 geschriebenen Dialog erläutert dieser Dindimus das Wesensmerkmal wissenschaftlichen Vorgehens, das die Einheit der Philosophie begründet. Es besteht nach Dindimus in der überlegten Suche nach Mitteln zur Abhilfe jener gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten, die durch Umweltzerstörung verursacht worden sind. Durch die Wahl eines heidnischen Sprachrohrs besteht Hugo darauf, daß Wissenschaft als gesellschaftsheilendes Vorgehen auch den Indern zugänglich und von der Theologie unabhängig ist.

Dindimus erklärt, daß die Blicke der Menschen nach ihrem Verstoß gegen die Naturordnung zwar verfinstert wurden, aber das ewige Feuer in den äußeren Sinnen und in der Phantasie des Herzens doch nicht verschwand. Nach der Logik der zeitgenössischen Lichtsymbolik „kann es kein Geschöpf geben, das nicht irgendeinen Strahl hätte, die Grünkraft (viriditas), ihre Samen oder Blüten, oder einfachhin die Schönheit sonst wäre es ja kein Geschöpf“ — wie sich Hildegard von Bingen ausdrückt (Op. D. 1,4,11).

Nach Dindimus entzündet sich dieses Feuer stets von neuem an der Neugier, an der Freude an Überraschung und an der Lust zur Bewunderung, die alle zur Wahrheitsliebe treiben. Diese Philia (Liebe) zur Sophia (Wahrheit) ist nicht ein Verweilen beim schon Bekannten, sondern ein stetes Streben nach weiterem Verständnis von Einsichten, auf deren ersten Geschmack der Suchende schon gekommen ist.

Die Wissenschaft, die Hugo beschreibt, hat drei Hauptteile, die gleichzeitig Heilmittel gegen die dreifache Unzulänglichkeit des menschlichen Daseins darstellen: Die Suche nach Weisheit gegen die Unwissenheit, die Suche nach Tugend gegen das Laster und das Ringen um Kompetenz im Erwerb des nötigen Lebensunterhaltes gegen die Hinfälligkeit. Für die Weisheit wurden die theoretischen, für die Tugend die praktischen und für den Lebensunterhalt die mechanischen Künste entdeckt. Theorie, Praxis und Mechanik sind die drei Kuren für die menschliche Unzulänglichkeit in der Sündflut, die wir ausgelöst haben.

Hugo verlegt also nicht n[ur das] Wesensmaterial aller wissens[chaftli]chen Tätigkeiten in die Such[e nach] [*] Remedien (Genesungsmitteln) für ökologische Unzulänglichkeiten. Er ist auch der erste und bis heute einzige Denker, für den die wissenschaftliche Reflexion über die mechanica — also die Techno-Logik — einen der drei Grundpfeiler der Philosophie, also der Gesamtwissenschaft, darstellt.

Hugo resigniert nicht vor dem Verlust der paradiesischen Umwelt, aber er versucht auch nicht, die gebrochene Natur der Herrschaft des Menschen zu unterwerfen. In der verschuldeten Disharmonie zwischen Mensch und Umwelt sieht er vielmehr eine felix culpa, eine glückliche Herausforderung, durch die Kunst den gefallenen Menschen noch über die Schönheit des paradiesischen Zustandes hinaus zu erheben.

Die Betrachtung der Technik als Quelle von einer besonderen Art der Einsicht führt Hugo dazu, neben das Buch der Schöpfung und das Buch der Offenbarung ein drittes zu legen, nämlich das durch die Technik geschaffene gesellschaftsheilende Kunstwerk.

Dieses „Buch“ stellt gegenüber den beiden anderen etwas Besonderes dar: die anderen sind reines Gotteswerk, das menschlicher Raubbau in Unordnung gebracht hat. Mühsam, wie durch einen Schleier, versucht sie der Wissenschaftler zu entziffern. Die Technik in Hugos Denken ist wie ein gebrochener Spiegel. Sie spiegelt für den Philosphen die Natur, wie sie der Mensch nachahmt, und die menschliche Intention, die durch die Sünde abgestumpft ist. Aus der zweigesichtigen Mischeigenschaft der Kunst, zur Hälfte schöpfende Vorstellung und zur Hälfte Nachahmung des Gotteswerkes, erklärt Dindimus die Etymologie von „mechane“ — mit dem linguistischen Draufgängertum seiner Zeit leitet er das Wort aus dem griechischem „moechari“, „außerehelichen Verkehr pflegen“ ab.

Sowohl Hugos Lehre von der gesamten Philosophie als Heilmittel, als auch sein Versuch, die Technik zum Objekt und Ausgangspunkt ökoanthropologischer Forschung zu machen, haben ihn nicht überlebt. Sehr bald wurde Aristoteles aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt, und Hugos bescheidene Suche nach heilender Weisheit wurde durch die charakteristisch westliche Suche nach universeller, systematischer Wahrheit verdrängt.

In Europa vollzog sich auch ein technischer Umbruch. Allein der Eisenverbrauch verdoppelte sich. Hufeisen, Steigeisen, Räderpflüge und Sensen setzten sich durch. Die Kreuzzüge verschlangen Eisen für Rüstung, Schwerter, Lanzen. Zu Hugos Lebzeiten verdoppelte sich die Anzahl der Wassermühlen, und sie betrieben nicht mehr nur Mühlsteine, sondern Erzhämmer, Schmieden, Walzen und Pumpen fürs Bergwerk. Immer zahlreicher wurden Männer gebraucht, die Mühlen und Grabwerke bauten, warteten, reparierten.

In Stadt und Land sah man diese Praktiker der neuen Künste als faszinierendes und abstoßendes Gesindel. Das Wort mechanica drang in die Umgangssprache ein, wurde aber zur Bezeichnung der unheimlichen fahrenden Experten verwendet. Und als es zwei Generationen nach Hugo zur Gründung der ersten Universitäten kam, hätte kein Philosoph mehr mit der Mechanik als Studienfach zu tun haben wollen. Selbst die Medizin konnte sich nur unter Ausschluß der Chirurgie im Auditorium behaupten: diese war Handwerk und des Studierten unwürdig.

Theoretische, akademische Forschung und technischer Fortschritt in den Künsten bleiben auf vierhundert Jahre getrennte Unternehmen, auch wenn beide immer deutlicher auf die Beherrschung der Natur, geistig beziehungsweise sachlich, zielten. Als dann im 18. und 19. Jahrhundert aus der Kreuzung von Wissenschaft und Künsten die technologischen Lehrfächer entstanden, stand schon Wissenschaft so sehr im Dienst der Welt-Bewältigung, daß die Logik dieser Konvergenz, also die Techno-Logik, auf weitere zweihundert Jahre aus den meisten Überlegungen ausgeblendet blieb. Kritik an der herrschenden Techno-Logik wurde bestenfalls aus der Perspektive von Sekten geübt.

Erst Ghandi in den dreißiger Jahren, dann der radikale Flügel der grünen Bewegung im letzten Jahrzehnt haben Techno-Logik politisch thematisiert.

Aus der von mir entwickelten Unterscheidung läßt sich ein Grundkonflikt positiv deuten, der immer dann auftaucht, wenn eine grüne Bewegung institutionell-politische Verantwortung trägt. Unvermeidbar erstreckt sich dann diese Verantwortung auf zwei Prozesse der technischen Gesellschaftsgestaltung, deren Logik eine entgegengesetze ist:

Die Besänftigung der agressiven Formen industrieller Produktion steht im Alltag meist im Vordergrund. Wie kann das Automobil umweltschonend, die Schule weniger autoritär, die Medizin weniger giftig gestaltet werden? Wie können also mehr Menschen mit mehr Gleichberechtigung und weniger Zwang etwas „kriegen“?

Andrerseits ist nach grüner Logik die Technik (Technologie) überhaupt nicht Kriegswerkzeug, Machtmittel zur Gestaltung von Herrschaft über Natur draußen und drinnen — sondern Hilfsmittel (remedium), Stütze und Krücke, die es kleinen Gemeinschaften erlaubt, in einer zerfahrenen, zersiedelten, verschulten, von Informationen überschwemmten Umwelt autonom, bescheiden, schöner zu überleben.

Wenn der Konflikt zwischen produzierender und heilender Techno-Logik klar gesehen wird, ist grüne Praxis seine Vermittlung. Die Besänftigung der Produktionstechnik wird zu mehr als Naturschutz: sie wird zur Forderung nach Gleichberechtigung und Autonomie: nur sanfter Verkehr erlaubt jedem das Gehen und Radfahren.

[*Textportionen in eckigen Klammern fehlen im Heft aufgrund eines Druck- (bzw. Montage-)fehlers und wurden deshalb hier hoffentlich sinnentsprechend ergänzt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1984
, Seite 52
Autor/inn/en:

Ivan Illich:

Ivan Illich, geboren in Wien, lebte abwechselnd in Mexico City, Guernavaca, Berlin, Göttingen, ab und zu in Salzburg, selten in seiner Heimatstadt. Er war Professor an allen möglichen Universitäten und gilt als der bedeutendste Kulturphilosoph ökologischer Observanz.

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