FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1986 » No. 387/394
Jürgen Langenbach

Die Kartei und die Leichen

Zur Bürokratisierung der Welt

Für Carl

Die Kartei wuchs ständig ... (Die Gestapo besaß) zwei riesige Karteiräder, die automatisch arbeiteten und nur eine Bedienung durch zwei Personen ertorderten. Diese zwei Männer saßen wie vor einem Harmonium und konnten im Nu automatisch die benötigten Karteikarten herausholen ... Obwohl riesige Mengen von Karteikarten in die Trommeln hineingingen, glaube ich doch nicht, daß schließlich das ganze deutsche Volk darin erfaßt war.

(A. Eichmann)

Seit das Unglücksrad der verordneten Harmonie nicht mehr durch Fußtritte in Schwung versetzt werden muß, sondern das Unerwünschte auf einfachen Knopfdruck aus seinen Speichern spuckt, sind Zweifel an der Erfüllbarkeit des Bürokratentraums nicht länger angebracht. Alle haben Platz im Computer, und dies mit Haut und Haar, soll heißen: mit all jenen und als all jene mehr oder weniger besonderen Kennzeichen, die sich äußerlich ablesen, messen und zählen lassen. Allerdings geht es im innern der Datenbank weder so heimelig noch so solide zu, wie die zweideutige Lüge des Namens weismachen will: Solche Bank lädt nicht zur Rast, und das Kapital, mit dem sie wuchert, wird nicht vom Kunden angespart oder ausgeliehen; das Kapital ist vielmehr der ehemalige Kunde selbst, der die Auflösung seiner individualität in verrechenbare informationseinheiten nicht einmal mehr nachverfolgen kann, geschweige denn gegenzeichnen darf.

Den Gewinn streichen die Verwalter des Glücks ein. Sie können ihr Arbeitsmaterial, die Verwalteten, immer umstandsloser auf Normalform bringen und halten, weil die Arbeitsmittel, die elektronisch kurzgeschlossenen informations- und Manipulationswege, zusehends jede Vermittlung überflüssig machen, bald auch die des Fußtritts. Mag vergleichsweise harmlos erscheinen, wenn der Konzern sich als Rotkäppchens Großmutter verkleidet, um auch noch die Reste des Marktes und seiner Wahlfreiheit zu unterlaufen und dem Publikum die Ware unabweisbar aufzudrängen, ja überzustreifen (dabei kann etwa das eben geborene Kind der ersten Windel, mit deren Geschenk seine Ankunft von der Aufzuchtindustrie begrüßt wird, nicht nur die Grundzüge der modernen Ökonomie ablesen, es darf sich überdies darüber freuen, daß es vor seiner Geburt schon ein ganz eigenes Leben geführt hat: in der Datei der Danaer); oder mag sich offen bedroht fühlen, wem beim Übertreten einer Staatsgrenze schon gar nicht mehr ins Gesicht gesehen wird, weil umgekehrt der photographische Abzug seines Gesichts im Reisepaß den Nervenenden des Zentralgehirns direkt vorgeführt wird (wobei dann der zum Bürger Heranwachsende dem, was ihm doch noch ins Gesicht zeigt, der Maschinenpistole, nicht allein den Grad seiner Mündigkeit ablernen kann, vielmehr auch, wie nahe die maschinelle Gewalt schon auf die Haut gerückt ist). Gleichgültig, wie, wo und wann — keiner entgeht den zum elektronischen Schleppnetz ausgewachsenen Karteien.

Im Gegenteil, jede neue Handlung zieht die Maschen nur immer enger und dehnt die Mitte der Mittel immer weiter aus. im großen Verbund der Kabel, der bald in jede Wohnstube hineinreichen wird, rücken Nutzung, Kontrolle und Steuerung zur Ununterscheidbarkeit zusammen: Jeder Output aus dem Versorgungsnetz ist zugleich ein Input ins informationsnetz, und was mehr oder weniger freiwillig oder auch ganz unvermerkt eingegeben wird, findet mannigfache Verwertung. Der Computer in der Zollstation plaudert nicht nur aus, was er über den Reisewilligen bereits weiß, er wird sich auch merken, wohin dieser schon wieder unterwegs ist; immerhin weiß auch der Reisende um seine Registratur. Diese Gelegenheit hat der Angestellte im modernen Betrieb nicht mehr. Ihm bleibt verborgen, daß er zur Analyse seiner selbst beiträgt, wenn er nur das eine oder andere Getränk aus dem Automaten der Kantine zieht und zum bargeldlosen Entgelt seinen Betriebsausweis in den Zahlschlitz steckt. Die Elektronik, die den Ausweis liest, rechnet dann in mehr als einer Hinsicht ab: Der Konsumkontrolleur im einen Automaten ist verkabelt mit dem Leistungskontrolleur im anderen und beide zusammen errechnen in kürzester Frist, wie sich der Genuß welcher Menge welchen Getränks auf die Konzentrationsfähigkeit am Sichtbildarbeitsplatz auswirkt.

Endsieg des Kontors

Freilich reichen die Kabelstränge über das ökomomische Interesse des einen Unternehmens hinaus, auch die Getränkeindustrie weiß Bescheid, bevor noch der Schluck im Magen angekommen ist. Und schließlich müssen die Schäfer nicht mehr jedem einzelnen Mitglied ihrer Herde hinterherlaufen, wenn sie zuvor schon wissen, in welcher sozialen Abweichung es sich verirren wird. Jonathan Swift hat seinen reisenden Gulliver eine wissenschaftliche Akademie besuchen lassen, in der unter anderem Pläne zum Schutz des Staates vor seinen Bürgern ersonnen werden. Durchdringenden Erfolg verspricht ein Projekt, das die Gesinnung des Kopfes aus Konsistenz und Farbe der Exkremente des Leibes herausschnüffeln will — solcherart muß heute keiner mehr die Nase rümpfen, der Fortschritt der 250 Jahre seit Swift weist sich auch darin, daß auf die Analyse des Ausgeschiedenen verzichtet werden kann. Denn das Essen ist schon vor seinem Eintritt in den Körper registriert und auch das Mittagspausengetränk ist kein zu geringes Detail, um sich nicht als Bruchstück in jenes Puzzle zu fügen, zu dem die Staatspolizeien die Persönlichkeit der unter ihren Schutz Befohlenen erst auseinandernehmen, um sie dann zum sogenannten Persönlichkeitsprofil wieder zusammenzustückeln.

Das schlechtere Neue rückt das schlechte Alte in ein mildes Licht. Beinahe rührend muten sie schon an, die ungeschlachten Ahnen der Herrschaftsindustrie, die mühseligen Ausforschungsmethoden und die umständlichen Krämereien. Wie ein Fossil, das ins Museum des Fortschritts gehört, wirkt selbst Eichmanns halbautomatische Kartei inklusive der Räumlichkeiten, in denen sie und ihre Greifer arbeiteten: Die düstere Amtsstube von einst, im Staub deren Archive nicht nur die Furcht vor dem Vergessenwerden, sondern auch die Hoffnung auf ebendiese Nische nisten konnte, ist einem lichtdurchfluteten Saal gewichen, in dem auch noch der letzte Winkel so schattierungs- wie schonungslos ausgeleuchtet ist; sei’s die Betonburg, die durch keine Ritze mehr Tageslicht einläßt, um die feilgebotene Kunstwelt um so aufdringlicher mit dem Glanz des Kunstlichts aufzuputzen, sei’s der gläserne Verwaltungstrakt, dessen Rasterfassade ins innere der Räume den leichten Schatten eines Gitters wirft und dadurch ganz dezent den Zweck der Durchleuchtung des Eintretenden andeutet — beider Sterilität erinnert nur mehr an die Stätten des fortgeschrittensten Fortschritts, an Forschungslabor und Großklinikum.

Die zeitgemäße Verwaltung des Denkens wie des Verhaltens setzt ihren Wahnsinn mit wissenschaftlicher Methode durch. Denn die zeitgemäße Verwaltung ist die wissenschaftliche Methode selbst; diese aber hat ihr Prinzip in der Berechenbarkeit, deshalb trifft sie sich so gut mit dem präzisen Lauf der Maschinen, deshalb fordert sie dieselbe Präzision des Funktionierens quer durch alle Lebensbereiche. Ob einer zuwenig konsumiert oder sich ganz im Gegenteil zuviel eigene Gedanken macht, gleichviel, er wird in die Raster eingezwängt, so weit es eben geht. Solange der Störenfried jedoch noch nicht überhangslos ins Getriebe eingepaßt ist, solange Verhaltens- und Denkstandards weder von Gentechnologen ins Erbgut eingebaut noch von Sozialingenieuren in die Nervenbahnen einkonditioniert sind — solange heißt der Schlüssel zur Berechenbarkeit und Steuerung des Menschen Information.

Information freilich nicht nur über das bereits Geschehene, das Interesse gilt dem Möglichen und der Leitspruch der sozialen Medizin heißt Prophylaxe. Das Verwaltungsmonstrum schickt seine Sinne aus, um das in der überwachten Arbeit gewonnene Bild durch die Überwachung der Freizeit zu runden. Die Fernsehkamera verfolgt den vor sich selbst Beschützten vom Kaufhaus bis in den Schacht der Untergrundbahn, und kommt er endlich doch nach Hause, dann wartet dort schon der Fragesteller vom Forschungsinstitut, der schon längst keine Meinung mehr hören will, sondern nur noch testen soll, ob sich gegen die neueste Kreation auf dem Waren- oder Ideologiemarkt irgendwo noch Widerstand regt. Sind dann endlich genügend Informationseinheiten eingelocht, dann kann sich bei Bedarf das gesammelte Wissen selbst auf den Weg machen: Weil die Dateien den Verdächtigen schon besser kennen als dieser sich selbst, muß er schon gar nicht mehr verfolgt werden, vom Vertreter nicht und auch nicht von der Polizei; beide können vielmehr dort auf ihn warten, wo er nach Auskunft seines Persönlichkeitsprofils irgendwann mit Notwendigkeit hingehen wird.

Die Schrecken der alten Verkäuferaufdringlichkeit verblassen wie die der alten Bürokratie. Restringieren die einen die Freiheit der Wahl auf Reflexe, die auf optisch und akustisch nicht bewußt wahrnehmbare Signale hin einrasten, so wird bei den anderen der Prozeß nicht mehr wie bei Kafka geführt. Er wird vielmehr ganz kurz. Ort der Handlung ist keine Ruine und kein Hinterhof, sondern der Sicherheitstrakt. Und die Sorge des Angeklagten geht nicht dahin, den Richter und das Gesetz erst gar nicht zu finden, beide sind allhier: Das Gesetz selbst eilt mitten im Verfahren in aller Offenheit herbei und sperrt dem Kontakt auch noch die Schlupflöcher, die es bislang übersehen hatte.

Jene unscheinbare Glasscheibe, die den Klienten von seinem Anwalt trennt, kündet gerade in ihrer Unscheinbarkeit vom Endsieg des Büros. Schließt sich doch in ihrer Gestalt die gläserne Mauer, die an jedem Amtsschalter die Verwalter von den Verwalteten abschirmt, um die Schwerverwaltbaren wie ein Sarg, der um so hermetischer isoliert, je weniger er sinnlich wahrgenommen werden kann: Die Durchsichtigkeit selbst stellt sich zwischen die Menschen. Leidet Josef K. unter dem mangelnden Funktionieren der Büros, unter der Undurchschaubarkeit des Verfahrens und der individuellen Willkür des Kundigen, so wird der moderne Verdächtige von der Grelle des Allgemeinen geblendet, von der Präzision, mit der ihn die Gesetzes- und Urteilsmaschine verarbeitet. Unentrinnbar ist nicht mehr das Dunkel, sondern die kristalline Allmacht.

Aber die Gestaltwerdung des Abstrakten in der Unsichtbarkeit der Ein- und Abkapselung der Individuen ist nur die eine Seite des Glases. Über die andere gibt die Fassade der neuen Ämter Auskunft: Die alte Drohung, die immer gewaltigere Portale auftürmen mußte, um das Amt mit den Insignien der Allwissenheit und Allmacht auszustatten, decouvrierte eben dadurch ihre mangelnden Fundamente. Sie hatte die Gebärde nötig, gerade weil es mit ihrer Gottgleichheit so weit her nicht war.

Kristalline Allmacht

Der moderne Verwaltungsbau ruft dem Eintretenden zu, nun möge er wirklich alle Hoffnung fahrenlassen, er sei selbst zumindest so durchsichtig wie das Gebäude. Die Architektur droht nicht länger mit körperlicher Gewalt, sie stellt die intelligent gewordene Gewalt angemessen in den Raum, als gläsernen Käfig. In der letzten, nach außen verspiegelten Variante, gar als Hohn: Wer darauf zugeht, kommt sich in neuer Gestalt daraus entgegen. Er trifft sich mit der Projektion seiner selbst, der Projektion seiner Vielschichtugkeit auf die so glatte wie dünne Oberfläche des Spiegels, die ihn um jede Tiefe beschneidet und zum Ersatz in die durchsichtige Breite auswalzt. Aus der Entfernung schon kann jeder schen, wozu er hinter den Spiegeln geschrumpft ist: zur Nacktheit der fugenlosen Oberfläche und zur Plattheit des Widerspiegelbaren.

Wie das moderne Büro seine ratio nach außen kehrt, lehrt aber noch ein zweites: Es gibt gar kein Außerhalb mehr, die eine Dimension herrscht rundum; und zwar als das schlichte Nichts, als das die Haut das Ganze zu erkennen gibt. Mag der Spiegel noch mit der Freundlichkeit der erhalten gebliebenen Fassade von gegenüber winken, in Wahrheit winkt er mit der Drohung, der Nachbartrakt werde demnächst schon ganz genauso aussehen wie er, und wer sich dann im Spiegelkabinett verirre, werde aus dem Nichts und wieder Nichts auch nicht mehr herausfinden.

Derweil wird er aber noch gebraucht, und deshalb wird ihm der Weg gewiesen. Weil der architektonischen Einfalt eine Differenz des Gebrauchs nicht mehr abgelesen werden kann, findet der Orientierungssuchende sich selbst in einer weiteren Schrumpfform seiner selbst schon an die Wand geheftet und folgt den Weisungen des Piktogramms ins innere der Sterilität. Hat er die elektromagnetischen Schranken durchschritten, die erst die Tür öffnen und dann die Taschen des Eintretenden durchleuchten, weil er von vornherein verdächtig ist, dann wird er den Strichmännchen, die ihm die zu verrichtenden Bewegungen vorführen, um so mehr bedürfen. Wie draußen das Auge, wird drinnen die Sinnlichkeit insgesamt um Identfizierungsmöglichkeiten betrogen. So wenig man das Gebäude sieht, so wenig hört man die darin arbeitenden Maschinen, schreiben die Typenräder doch bald lautlos, obgleich auch ein Höllenlärm die wegrationalisierte Sekretärin nicht mehr stören könnte. Auch die Nase ist hilflos. Wo elektronisch gehobelt wird, da fallen keine Späne. Staubfrei muß es zugehen und ein künstliches Klima ist zu erzeugen, das Tag und Nacht, sommers wie winters dasselbe ist, weil der Computer eine eigene Empfindsamkeit besitzt, die kein Abweichen von seiner Norm duldet.

Die Sinnlichkeit des Menschen hat sich den Bedürfnissen der Büromaschine in Gänze unterzuordnen, weil nicht nur der Klient auf sein codierbares Maß gestutzt wird. Denn der irritierte Besucher, den ich bislang fingierte, ist einzig deshalb verwirrt, weil er aus abgelegenen Gegenden oder zurückhängenden sozialen Schichten den Weg in die Modernität antrat. Der zeitgemäße Besucher ist nicht er.

Der zeitgemäße Besucher kommt, wenn er das eine Büro als Kunde betritt, geradewegs aus dem anderen, in dem er hinter dem Sichtschirm sitzt. Oder er kommt von seinem Heimcomputer, an dem er sich in jene Arbeit einüben darf, die er nicht mehr hat. Deshalb wird ihm die Arbeitsstätte vertraut vorkommen, der Bildschirmarbeitsplatz des Sachbearbeiters für seine Steuererklärung sieht ganz genauso aus wie der eigene, mag er dort an der Erzeugung, welchen Produkts auch immer, mitwirken. Der vor dem Schalter und der dahinter sind aufs Verrichten derselben Funktion konditioniert, ohne große Mühe könnte der Kunde sich selbst bedienen. Die Arbeitsgänge ähneln sich an, unter dem Integral der Entqualifizierung des Arbeitenden. Von der ehemaligen Arbeit ist für den Menschen gerade noch der Reflex übriggeblieben, der das eine oder andere Maschinensignal zu beantworten hat. Schwierig schon die Entscheidung, ob die Einheitstätigkeit überhaupt noch in traditionellen Begriffen gefaßt werden kann.

Kopfarbeit ist es nicht, was da geleistet wird. Die Intelligenz steckt im Innern des Computers und verhilft dem fortschrittlichen Unternehmer bereits zum guten Gewissen, seinen Beitrag zur Eingliederung geistig Behinderter in die Produzentengemeinschaft leisten zu können. Manche der modernen Maschinen erfordern zu ihrer Bedienung einen Grad der Infantilisierung des Bedieners, den ein nach bisherigen Kriterien Erwachsener einfach nicht mehr aufbringen kann. Konsequent beschäftigt man dort den in der geistigen Entwicklung auf kindischem Niveau Gebliebenen.

Handarbeit ist es aber auch nicht, denn die Sinnlichkeit kann in solcher Arbeit genausowenig begreifen wie der Geist, wird doch vom ganzen Körper eben noch ein Auge, ein Nervenstrang und eine Fingerspitze benötigt. Andere Bewegungen verlieren ihr Lebensrecht und der Bürobote sitzt wie der Briefträger auf dem Sterbeetat, seit die Informationen von alleine durchs Kabel gehen. Ist jeder Haushalt erst einmal angeschlossen, wird auch noch der Weg zur Arbeitsstätte (und der zum Einkauf) entfallen. Die Evolution der Maschinen wird die des Menschen auf einen ganz neuen Status treiben, den des bewegungs- wie denkunfähigen Maschinenanhängsels, den der Seßhaftigkeit. Mit Ruhe allerdings darf die Lähmung nicht verwechselt werden, wegrationalisiert wird nicht jede, sondern nur die überflüssige Bewegung, und die Grenze zwischen Luxus und Notwendigkeit zieht der Fluß der Information und Waren, die ohne Verzug zurückgespiegelt und verbraucht werden wollen.

Das absehbare Ende ist welthistorisch nicht ohne Vorläufer, wenngleich man schon so tief wie Max Weber graben muß, um wenigstens entfernte Verwandte aufzuspüren: „Eine leblose Maschine ist geronnener Geist. Nur daß sie dies ist, gibt ihr die Macht, die Menschen in ihre Dienste zu zwingen ... Geronnener Geist ist aber auch jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation darstellt. Im Verein mit den toten Maschinen ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche dereinst vielleicht die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden.“ Weber hat die Prognose mitten im Ersten Weltkrieg gestellt, in dem für ihn die Verschmelzung der unterschiedlichsten Verwaltungsapparate zu einer Megamaschine sich abzuzeichnen begann — der kommandierende General übt schon dieselbe Tätigkeit aus wie der Konzernherr oder der Staatskanzler. Nun ist Max Weber der letzte, der sich gegen den Siegeszug der Bürorationalität gesträubt hätte. Er hat die fortschreitende Rationalisierung nicht nur für unabwendbar gehalten, er hat die Rationalisierung der Verwaltungsarbeit als Fortschritt propagiert wie sonst nur Taylor die der Fabriksarbeit. Gleichwohl graust offenbar selbst dem Propheten so sehr vor den Befunden der eigenen Analyse, daß er nur mehr rhetorisch fragt, ob es „überhaupt noch möglich (sei), irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn ‚individualistischen‘ Bewegungsfreiheit zu retten“.

Schwerlich, heißt die nicht ausgesprochene Antwort, die Rückzugsgefechte der Individualität sind in jedem Sinn verloren und kein Irgend verheißt Rettung. Der aus den Menschen heraus und anderswo zum Außenskelett geronnene Geist durchdringt und durchherrscht zuschends alle Lebensbereiche: im „technisch-ökonomischen Unterbau“ liegt nach Webers (nicht gar so materialismusfeindlicher) Analyse der Ursprung des Gehäuses der Hörigkeit, in der Präzision der Maschinen und der Kalkulierbarkeit der Märkte, wahrscheinlich auch beim Militär, das in Fragen der Abrichtung aufs Funktionieren über die traditionsreichsten Bestände an Knowhow verfügt. In Präzision und Berechenbarkeit liegt aber zugleich auch das Prinzip der bürokratischen Rationalität, das „Prinzip der Arbeitszerlegung in der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten ... ‚ohne Ansehen der Person‘“. Ohne daß sie noch angesehen werden, werden die Personen in Akten und Vorgänge zerlegt und als Sachen wieder zusammengesetzt und verfügbar gemacht, vor wie hinter dem Schalter.

Daß es dem, der das Geschäft des Zerlegens besorgt, nicht besser ergeht als seinem Arbeitsmaterial, hat für den gegenwärtigen Stand der Einheitsarbeit Joseph Weizenbaum gezeigt: In seiner „Macht der Computer und Ohnmacht der Vernunft“ berichtet Weizenbaum über den gelungenen Versuch des Bewußtseins der Maschinenbediener, mit dem Fortschreiten ihrer Herren Schritt zu halten. Die mit der Entwicklung neuer Computerprogramme Beschäftigten nennen sich selbst nicht mehr „Arbeiter“ und auch nicht mehr „Programmierer“, sondern „Hacker“. Das nicht mehr vorhandene Selbst bringt sich angemessen zu Bewußtsein, die „Hacker“ zerhacken nicht nur Informationen, die zuvor schon die Welt in ihre Codes zerhackt haben, sie zerhacken auch und zuvörderst sich selbst. Sie lösen sich auf in ein manisches stimulus/response-Spiel mit dem Computer. Weizenbaum findet nur einen verwandten Menschentypus, den des zwanghaften Spielers. Wie jener sein Leben vor dem Spieltisch verbringt, so sie das ihre vor dem Computerterminal, und wie jener das Übermächtige zu meistern wähnt, und doch nur verliert, so verlieren auch sie: sich selbst an die Maschine.

Soweit war es mit der Arbeitszerlegung zu Webers Zeiten noch nicht. Seinerzeit konnte die so verzweifelt formulierte Hoffnung auf die Rettung der Reste einen Haltepunkt im Fachwissen und der Aktenkundigkeit der Büroarbeiter finden. Seit das Herrschaftswissen jedoch aus den Gehirnen in die Software übersiedelt ist, ist dieser eine Halt so obsolet geworden wie es der zweite damals schon war. Weber setzt auf die Unschuld des Büros, auf die Verfügbarkeit der Gegenstand gewordenen instrumentellen Vernunft zu unterschiedlichen Zwecken. Er übersieht dabei die Differenz, die die total verwaltete Gesellschaft vom alten Ägypten trennt: Der moderne Pharao ist in den Zusammenhang der Herrschaftsmittel eingebunden und die lebende Maschine der Mittel duldet an ihrer Spitze nur mehr Geist von ihrem Geist.

Nur wenige Jahre nach Weber hat der (zu Unrecht hinter seinen Epigonen in Vergessenheit geratene) Jewgenij Samjatin seine Enttäuschung über das Mißlingen der Oktoberrevolution zum sozialutopischen Roman „Wir“ verarbeitet und darin jene Konsequenzen der bürokratischen Rationalität gezogen, die Weber vergeblich zu vermeiden sucht: Der „Einzige Staat“, eine Stadt aus (obendrein unzerbrechlichem) Glas, hat seinen Untertanen das „segensreiche Joch der Vernunft“ auferlegt und will auf wissenschaftlichem Weg das „mathematisch-fehlerfreie Glück“ herbeizwingen. Nach „Taylors Gesetz, rhythmisch und schnell“, wird im Einheitstakt nicht nur gearbeitet, sondern durchgängig gelebt. Zur „zärtlichen Musik“ eines Metronoms zählt der fiktive Erzähler „mechanisch bis fünfzig — fünfzig Kaubewegungen sind für einen Bissen gesetzlich vorgeschrieben“, und wenn der Automat noch einen Blick um sich werfen wollte, dann gäbe das allgegenwärtige Glas den Blick auf den „millionenhändigen Körper“ frei, der synchron den Bissen zum Mund führt: „Wie die große Kraft der Logik alles reinigt, was sie berührt“, reinigt sie auch die Menschen zur Transparenz ihrer gläsernen Gehäuse.

Oder versucht dies wenigstens. Denn zum Zeitpunkt der Berichterstattung ist er noch nicht restlos verhärtet, der „reine, feste Kristall unseres Lebens“. „Wir sind noch einige Schritte vom Ideal entfernt. Das Ideal ist dort, wo nichts mehr geschieht.“ Im letzten Freiraum der gar noch nicht geschlossenen Maschinisierung (Bürokratisierung, Rationalisierung) der Menschheit siedelt Samjatin seine Hoffnung an und treibt seine Vision in die letzte Alternative des letzten Gefechts: Im selben Augenblick, in dem eine Guerillabewegung den Widerstand zur Revolution eskaliert, entdecken die wissenschaftlichen Handlager der Macht die Technik der Gehirnchirurgie und beginnen ihre Operationen zur Beseitigung des Widerständigen.
Die Kastration der Phantasie. Das Stück endet im Bürgerkrieg, aber wer auch immer den Sieg davontragen wird, der Erzähler kann es nicht mehr überliefern. Er ist den Messern der Operationskommandos nicht entronnen und deshalb endgültig abgeschnitten vom Status des Menschen.

Was bei Weber noch angstvoll und mit vielen Einschränkungen skizziert ist, wird bei Samjatin in gnadenloser Konsequenz durchgespielt. Das Büro ist mit der Maschine identisch und beider integral heißt instrumentelle Vernunft. Wie das Arbeitsmaterial ohne jede Rücksicht auf seine inneren Zusammenhänge vom fließenden Band zerrissen und neu zusammengesetzt wird, so wird das Menschenmaterial der Verwaltung in Raster auf dem Lochstreifen zerstanzt und zur Verfügbarkeit synthetisiert. Und wie das Objekt, so das vormalige Subjekt; wie der „Hacker“ als Reflex des Computers zappelt, so torkelte einst Ch. Chaplin hinter seinen Handgriffen her. Aber den Fließbandarbeiter gibt es bald nicht mehr, die Zeiten sind noch moderner geworden und haben die Arbeit noch weiter vom Arbeiter weggerückt. Weil alle Materialien, die Natur und der Mensch, nach Maßgabe und Stand derselben Wissenschaft verarbeitet werden und weil sich die Maschine als Vergegenständlichung dieser Wissenschaft zwischen den Arbeiter und die Arbeit stellt, werden die übriggebliebenen Verrichtungen untereinander immer ähnlicher, und der Kontrollraum einer Raketenabschußbasis ist von dem einer Schweinemastanstalt kaum mehr zu unterscheiden.

Nichts darf mehr geschehen, was nicht vorherberechnet ist, und daß nichts geschieht, dafür sorgt das Totale Büro vermittels seiner „Präzision, Stetigkeit und vor allem Schleunigkeit der Operationen“. Verläuft die Operation erst einmal „so streng rational wie eine Maschine“, merkt Weber weiter an, dann ist ihre Herrschaft „so gut wie unzerbrechlich“. Denn zer- und gebrochen ist dann alles Widerständige und in-sich-Stehende. Die Karteileiche ist heute nicht mehr derjenige, der in der Kartei vergessen wurde und dort auch nach seinem physischen Tod noch herumgeistert. Gerade umgekehrt: Beim Eingang in die Kartei wird der Mensch in einen Leichnam verwandelt und mit dem Leben der Kartei wird er belehnt. Die Übermacht des Apparats verurteilt den Verapparateten zur schlechthinigen Ohnmacht, zur Impotenz. Nicht nur metaphorisch: Wie alle Erscheinungen der instrumentellen Vernunft hat auch das Unwesen der Bürokratie im deutschen Faschismus seinen ersten Höhepunkt erreicht. Im Nürnberger Ärzteprozeß kommt ein Plan zur Sprache, der die tödliche Kraft des Büros in aller Folgerichtigkeit verdoppelt — einer hat eine Methode zur Ausrottung unerwünschter Rassen durch Massensterilisation entworfen und zugleich darüber nachgedacht, wie die erforderliche radioaktive Bestrahlung der Geschlechtsorgane rationell zu bewerkstelligen wäre: „Ein Weg der praktischen Durchführung wäre z.B. die abzufertigenden Personen vor einen Schalter treten zu lassen, an dem sie Fragen gestellt erhalten ... Der Beamte, der hinter dem Schalter sitzt, kann die (Röntgen-)Apparatur bedienen.“

Auch hinter dem Schalter — schöner Trost — ist die Macht nicht zu Hause. Sie läßt sich überhaupt nicht mehr greifen, schon gar nicht in Personen, auch nicht in Positionen. Sie diffundiert, löst sich auf in das Instrumentarium, das im Schalter selbst am Werk ist. Schon Büchners Danton hatte den Wütern der Ordnung prophezeit, sie würden am Ende noch sich selbst liquidieren. Wiederum ist es im deutschen Faschismus wahr geworden, auch der hinter dem Schalter wird von der Büromaschine zweimal gefressen: Einer der Angeklagten im Nürnberger Prozeß sinniert darüber, „wie günstig sich die deutsche Manie, genaue Aufzeichnungen über alles zu machen, auswirkt. Jetzt haben sie genügend Beweismaterial für ihren Prozeß. Hahaha!“

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1986
, Seite 19
Autor/inn/en:

Jürgen Langenbach:

Geboren 1950 in Lahr (Deutschland). Studierte Philosophie und Sozialwissenschaften in Freiburg im Breisgau und schloss 1980 seine Dissertation an der Uni Wien ab. Als Wissenschaftsjournalist arbeitete er u.a. für „Falter“ und „Standard“. Seit 2002 schreibt Langenbach für „Die Presse“ und ist auch als Buchautor tätig, unter anderem über den Philosophen Günther Anders.

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