FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1963 » No. 112
Oscar Fritz Schuh

Zwischen Engagement und Verstaatlichung

Über die Stellung des Künstlers in der westlichen Demokratie

Ein kommunistischer Staat, der seine Schriftsteller ins Gefängnis wirft, nimmt deren Funktion und Verantwortlichkeit wenigstens ernst: diesen verblüffenden Gedanken äußerte unlängst ein berühmter französischer Schriftsteller in einem Interview. Was man dagegen im Westen für literarische Freiheit hält, das sei, so betonte dieser Mann, nichts anderes als die völlige Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit gegenüber dem, was die Schriftsteller zu sagen haben. Ausdrücklich steht da zu lesen: „Wir sind nicht frei. Man ignoriert uns. Das ist viel ärger, als verfolgt zu werden, ja, das ist noch viel entmutigender.“

Früher haben die Mächtigen der Erde dem Künstler genau jenen Platz zugewiesen, der mit den vitalen Interessen der Macht gerade noch vereinbar war. Die Kunst sollte ihnen Nutzen bringen und nicht für sie zur Gefahr werden. In späteren Zeiten wurde der Künstler von seiner Lakaienfunktion befreit. Nicht mehr bediente er die Pharaonen, sondern er beschenkte die Menschheit mit den Gaben seines Geistes. Heute fühlt sich der „engagierte“ Dichter aus einem übernatürlichen Sendungsbewußtsein heraus der ganzen Menschheit verpflichtet, und er erträgt alles leichter als die Nichtanerkennung dieser messianischen Attitüde. Er will für die heilende Botschaft, die er zu bringen glaubt, lieber zum Märtyrer werden, als daß er gewillt ist, in die Bezirke des Nur-Ästhetischen zurückzuweichen.

Eine solche Meinung wie die oben zitierte steht keineswegs vereinzelt da. Wir haben immer wieder feststellen können, daß der linksgerichtete Schriftsteller den Westen — der seine Werke druckt, spielt, auszeichnet, mit Preisen bedenkt — verachtet, während er den Osten — in dem seine Bücher nicht gedruckt und seine Stücke nicht oder nur unter den größten Schwierigkeiten gespielt werden dürfen — glorifiziert. Wie konnte es zu diesem Zustand kommen, der zweierlei Maßstäbe aufstellt? Verstehen wird man das nur, wenn man den Typ des heutigen Schriftstellers unter dem Gesichtspunkt des engagierten Literaten sieht. „Litterature engagée“ ist kein leeres Schlagwort — noch immer nicht und eigentlich weniger denn je. Um ihrer Wirksamkeit willen verzichtet die Literatur unserer Tage auf ästhetische Reinheit und vermischt sich bewußt mit anderen Formen gesellschaftlicher Aktivität. Dieses Phänomen ist übrigens keineswegs auf die epische und dramatische Literatur beschränkt; auch in der bildenden Kunst haben sich die Grenzen so weit verwischt, daß gewisse Wirkungen der Malerei heute mit dem Mittel der „subjektiven“ Photographie erzielt werden können. So haben sich auch die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur verwischt.

Viele der heutigen Schriftsteller lieben es, sich als Journalisten zu bezeichnen. Sie wollen ausdrücklich aus dem elfenbeinernen Turm heraus und sich in Tagesfragen der Politik und des öffentlichen Lebens einschalten. Das Manifest siegt über das Manuskript. Während Maler und Komponisten sich immerhin noch damit begnügen, Bilder oder Kompositionen herzustellen, wollen viele der jungen Schriftsteller die Isolation des l’art pour l’art sprengen. Der junge Schiller hat zu Problemen seiner Zeit Stellung genommen, wie eineinhalb Jahrhunderte später Brecht und Sartre. Man will nicht mehr und nicht weniger als eine grundlegende Änderung der Gesellschaftsordnung. Nicht zufällig kommt das Wort „reaktionär“ so oft im Vokabular der engagierten Schriftsteller vor.

Die bürgerliche Gesellschaft, gegen die der Kampf geht, lebt heute im Zeichen des „dégagement“. Saturiert, selbstzufrieden und träge, merkt sie nicht einmal, daß sie Fortschritte zu verzeichnen hat, die nur deshalb höchst widerwillig zur Kenntnis genommen werden, weil sie eben ein Werk der bürgerlichen Gesellschaft sind. Wenn ich die junge Schriftstellergeneration richtig interpretiere, so mißtraut sie jedem bürgerlichen Regime von Grund auf. Dieses tief eingewurzelte Vorurteil kommt für sie ja nicht von ungefähr. Allzu schlimme Erfahrungen hat die Menschheit in den letzten Jahrzehnten mit den bürgerlichen Regierungsformen machen müssen, sei es, daß diese nicht stark genug gewesen sind, dem Aufkommen des Faschismus Einhalt zu gebieten, sei es, daß sie bis in die jüngste Gegenwart hinein immer wieder Zeichen der Unentschlossenheit, der Unsicherheit bekundet haben.

Wenn man heute schon feststellen kann, daß der Westen auf dem Wege der Evolution sich seinen eigenen Sozialismus geschaffen hat, so wird der Gegner dieses Systems immer wieder einwenden können, daß es zu dieser Umwälzung gar nicht gekommen wäre, wenn nicht das Großwerden der kommunistischen Idee im Osten den Westen zu sehr weitgehenden Konzessionen gezwungen hätte. Er wird auch einwenden, daß die stalinistischen Entartungserscheinungen im Osten nichts anderes seien als die Quittung für jene Sünden, die das industrielle Zeitalter in seinem Aufkommen — bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts — in England, Deutschland und anderen Ländern begangen hat. Dieser Auffassung nach war vermutlich auch Stalin nichts anderes als die späte Sühne für die bornierte Dummheit, mit der man ein Industriezeitalter begonnen hat, ohne zuerst einmal die notwendigen sozialen Voraussetzungen zu schaffen. Wenn man die frühen Stücke Gerhart Hauptmanns liest, weiß man über diese Sünden Bescheid. Heute freilich hat sich auch in der bürgerlichen Welt schon vieles wieder ausgeglichen. Noch immer kann das Bürgertum dort, wo es sich in weiser Zurückhaltung seiner Mittel bedient, eine positive Kraft sein.

Der Marxismus ist eine Heilslehre; das macht im Grunde auch seine Faszination auf die Intellektuellen von heute aus. Ein berühmter Mann dieses Jahrhunderts hat einmal Marx als einen der großen Menschheitslehrer bezeichnet. Darin ist also schon die Analogie zu Erscheinungen wie Buddha angedeutet und der ans Mythische grenzende Grundzug der marxistischen Lehre gesehen. Gerade dieser mythische Grundzug, der den Messianismus einer Klasse predigt, macht diese Ideologie so attraktiv.

Wenn man heute die linksgerichteten Schriftsteller immer wieder auf Verirrungen, auf Terrormaßnahmen, auf Grausamkeiten im Osten hinweist, dann präsentieren sie als Gegenargument die Feststellung, wieviel Irrtümer und Verirrungen sich das Christentum in seiner zwei Jahrtausende langen Geschichte hat zuschulden kommen lassen; auch der Hinweis auf Hexenverbrennungen, auf Ketzerverfolgungen, auf Inquisition, auf Feuer und Schwert fehlt niemals.

Da der Kommunismus eine verhältnismäßig junge Lehre ist, pochen seine Adepten überdies darauf, daß ihm eine gewisse Bewährungsfrist zugebilligt werden dürfe.

Die linksgerichteten Schriftsteller haben nicht nur eine tiefe Abneigung gegen alle bürgerlichen Regierungsformen, sie haben — und das ist viel gefährlicher — auch kein Vertrauen mehr in sie. Sie haben den Eindruck, daß, wenn es eines Tages irgendwo zu Kurzschlußhandlungen kommen sollte, diese im Lager der westlichen Demokratie erfolgen könnten. Und mit einer gewissen illegitimen Überheblichkeit wird überdies angezweifelt, ob es neben Korruption und Dilettantismus überhaupt noch fundierte Wertmaßstäbe in der Demokratie gibt. Einmischung wie Nichteinmischung des Staates in prinzipielle Fragen wird in gleicher Weise skeptisch beurteilt.

Wir, die wir so schlechte Erfahrungen mit der Einmischung des Staates in kulturelle Dinge gemacht haben, begrüßen es eigentlich, daß die Demokratie sich nicht oder nur sehr wenig um die Kunst kümmert. Wir wünschen eigentlich nichts anderes, als vom Staat und seinen Institutionen nicht gestört zu werden. Selbstverständlich ist in einer Diktatur viel leichter überschaubar, was zu wagen ist und was nicht. Im Westen untersteht man der öffentlichen Meinung. Und diese läßt sich nicht durch Gesetze oder Parteibeschlüsse diktieren.

Wer also nicht sein Genügen darin findet, daß seine Bücher gelesen und diskutiert werden, wer stellvertretend für die Menschheit stehen will, kommt sich in dem demokratischen System des Industriezeitalters sehr verloren vor. Der Schriftsteller übt bei uns einen Beruf aus, wie ein Ingenieur oder ein Arzt einen Beruf ausübt, und wenn es ihm gelingt, einen Verleger zu finden, der seine Werke publiziert, wenn er neben seinen Lesern auch noch die wichtigsten einflußreichen Persönlichkeiten der Publizistik für sich gewinnt, dann dürfte das Ziel des nicht-engagierten Schriftstellers erreicht sein.

Auf dem Gebiete des Theaters verhält es sich einigermaßen anders. Dort bringt nämlich die Verstaatlichung des Gebildes „Theater“, wie sie in den deutschsprachigen Ländern üblich geworden ist, schon wesentlich andere Konsequenzen mit sich. Wenn beispielsweise die Presse die Leitung eines Theaters angreift, kann sie immer mit dem beliebten Motto vom „kleinen Steuerzahler“ aufwarten. Da aber in der westlichen Welt Richtlinien für die Leitung eines Theaters nicht vorliegen, kann man in jedem Falle sagen, die Steuergelder seien verschwendet, ob sie nun für die Aufführung eines klassischen oder eines modernen Stückes aufgewendet wurden. Auch ist natürlich der Theatermann nicht unabhängig von dem, was die Vertreter eines Kommunalwesens über ihn zu beschließen gedenken. Nur wenn er ein mutiger und souveräner Mann ist, kann er sich den Gefahren, die ihm da möglicherweise drohen, mehr oder weniger entziehen.

Im Augenblick, da Ost und West ihre Wirtschaftssysteme mit starrer Dogmatik verteidigen, wird es wohl nicht ganz leicht sein, nach einer dritten Form zu suchen. Wie kann sich etwas frei entfalten, wenn jede Lockerung auf der einen Seite automatisch von der anderen Seite als Sieg reklamiert wird? Überdies erweist sich die Tatsache, daß in der modernen Demokratie, im Wohlfahrts- und Wohlstandsstaat, Konsumgüter erzeugt und an den Mann gebracht werden müssen, auch auf dem Gebiete der Nachrichtenvermittlung als nicht ganz unbedenklich. Wenn Zeitungen und Zeitschriften an den Verkauf, an die Abonnenten denken müssen, kommt die ethische Verantwortung des Journalisten, von der immer wieder die Rede ist, dabei meist zu kurz — vorausgesetzt, daß sie überhaupt vorhanden ist.

Auch die Karriere mancher Politiker stärkt nicht gerade das Vertrauen in unsere Regierungsform. Das etwas starre System der Parteien-Demokratie bringt es mit sich, daß sehr oft Leute, die in anderen Berufen nichts erreicht haben, sich zu guter Letzt in der Politik versuchen, verkrachte Prokuristen, ehrgeizbesessene Lehrer, nichtarrivierte Ärzte. Dort haben sie die Möglichkeit, ihr Geltungsbedürfnis zu befriedigen, in Einflußsphären einzudringen, die ihnen sonst versperrt wären, und so über Menschen gesetzt zu werden, die ihnen all das voraus haben, was im Leben eigentlich gelten sollte: persönliche und berufliche Tüchtigkeit.

Man nimmt es den Schriftstellern übel, wenn sie sich zu Cliquen zusammenschließen, wenn sie versuchen, möglichst viele Schlüsselpositionen auf dem kulturellen Sektor besetzt zu halten; man wettert gegen die Komponisten, wenn sie ein engmaschiges Netz von Beziehungen auszubreiten versuchen und mit Hilfe dieser Kontakte eine Art anonymer Diktatur errichten über das Musikleben eines Staates. Weshalb aber schließen sie sich in Cliquen zusammen, die sie dann euphemistisch „Freundeskreise“ zu nennen pflegen? Weil sie eine Macht werden wollen wie die Interessengemeinschaften, die in Wahrheit unser politisches Leben bestimmen. Daß die Interessenverbände der Literatur und der Musik mitunter genauso intolerant auftreten wie ihre Vorbilder aus der bürgerlichen Gesellschaft, ist nur die Konsequenz dieser Entwicklung.

In der Diktatur nennt man ein Werk, das einem nicht gefällt, volksfremd oder zersetzend. In der Demokratie nennt man ein Werk, das einem nicht in die Richtung paßt, schlecht. Für die nicht-engagierten Außenseiter ist die zweite Form der Ablehnung entschieden die gefährlichere. In der Diktatur genügt die Ablehnung durch den Staat, um dem Betroffenen eine Sympathiefront der Oppositionellen zu sichern. Gegen ein Qualitätsurteil, ob es aus sachlichen oder unsachlichen Gründen gefällt ist, gibt es keine Berufung. Wollte man bei dem ganzen Geschehen die moralischen Denkkategorien ausschalten, wollte man eingestehen, daß die einen etwas erreichen wollen und daß die anderen dagegen sind, daß dies geschieht, dann könnte man vielleicht zu neuen Definitionen kommen, und es würde eines Tages dazukommen, daß die falsche moralische Beteuerung, das Erbübel unserer Generation, endlich aus dem Vokabular der Intellektuellen verschwindet.

Würde bei uns beispielsweise ein Filmproduzent, der schlechte Filme macht und damit Geld verdient, zu sagen wagen, er tue dies, um Geld zu verdienen, träfe ihn der moralische Boykott. Deshalb gesteht nicht einmal er sich selbst das Motiv seines Handelns ein. Er wird also sagen, er stelle diese rührseligen Filme her, weil er damit sehr vielen Menschen Freude mache, weil er in das Leben auch der einfachen und simplen Leute etwas Sonne trage, und wie die Argumente, die wir seit Jahren kennen, alle heißen mögen. Ein Literat wiederum schreibt pornographische Romane und behauptet dann, er wolle ein Sittenbild der Gegenwart schaffen. Der Mut zum persönlichen Bekenntnis ist kaum vorhanden. Es gibt Normen und Dogmen, hinter denen man sich versteckt. Eben diese Haltung ist es auch, die jegliche Kritik an der Regierung so schematisch, so einförmig und im letzten Grunde so erfolglos macht.

Unsere jungen Autoren sind selbst daran schuld, wenn sie sich in die Rolle der Hofnarren haben hineinmanövrieren lassen. Denn sowohl das Bekenntnis zum Kommunismus wie das zum Antikommunismus ist in vielen Fällen nicht ganz echt. Vor allem die Polemik der Renegaten, der Enttäuschten, überzeugt nicht immer. Wer enttäuscht werden kann, gibt zu, daß er sich in einem entscheidenden Moment seines Lebens geirrt hat. Heute käme es nicht darauf an, Pro- oder Antikommunist zu sein, sondern einen Ausweg zu suchen, der aus dem Dilemma, entweder Pro- oder Antikommunist zu sein, herausführt. Müssen wir wirklich darauf warten, bis die bewaffnete Macht eines anderen Planeten eine Invasion auf der Erde unternimmt, um eine Einigung herbeizuführen? Wäre es nicht viel eher an der Zeit, gewisse Moralbegriffe — „gut“, „schlecht“, „anständig“, „unanständig“ — endlich umzudenken? Wir werden in Kürze zum Mond fliegen, aber unser Vokabular ist noch das unserer Großväter, so sehr wir uns auch bemühen, diese Tatsache zu tarnen.

Wieviel Begabung wird darauf verwendet, über Sinn und Unsinn des Fortschritts nachzudenken, welches Maß an Arbeitsintensität wird verbraucht, um in Tagungen, Diskussionen, Round-Table-Gesprächen darüber klar zu werden, wie der Sinn der Freiheit in der heutigen Zeit zu deuten sei. Das Vokabular, in dem Worte wie „Friede“ und „Freiheit“ die oberste Rolle spielen, ist heute dauernd von Inflation bedroht; auch die simpelste Einigung, was denn unter Freiheit, unter persönlicher Entscheidungsmöglichkeit zu verstehen sei, ist heute nicht mehr zu erzielen.

In dieser Situation wird es sehr bald möglich sein, alles beweisen und alles widerlegen zu können. Diesen Zustand hat ein Teil unserer Literatur bereits vorwegnehmend zu seinem Thema gemacht. Die Führer der nicht-engagierten Literatur, an der Spitze Ionesco, haben uns zwar nicht weitergebracht, aber sie haben uns sehr amüsant diesen neuen Aspekt unserer Welt eröffnet. Warum gibt es das absurde Theater? Weil viele Geschehnisse unserer Zeit, die uns unfaßbar erscheinen (auch die Greuel der jüngsten Vergangenheit gehören dazu), sich wahrscheinlich vorläufig nur mit den Mitteln des Unrealistischen, des Unwahrscheinlichen darstellen lassen.

Ein einziger hat einen Blick darüber hinaus getan und analog dem neuen wissenschaftlichen Weltbild der Physik ein Lebenspanorama chiffriert und gleichzeitig enträtselt: Samuel Beckett in seinen letzten Stücken. Ist das noch engagierte Literatur oder nicht? Sind das religiöse Dramen oder atheistische Stücke? Ich glaube, angesichts eines Phänomens wie Beckett versagen all diese bisher üblichen Unterscheidungsbegriffe. Wir werden im babylonischen Chaos der Sprachverwirrung landen, wenn wir nicht versuchen, neue Maximen zu ersinnen, die über das Denken von Hegel hinaus dort Bilder ahnen und deuten lassen, wo die etwas vordergründige Analyse versagt.

Es ist ein sehr konventionelles und einseitiges Denken, das heute allgemein vertreten wird. Es ist an der Zeit, die Konventionen abzustreifen und die Einseitigkeit durch ein komplettes Denkmodell zu ersetzen. Auch daß das Bewußtsein neue Zustände erreichen kann, daß Begriffe wie Logik und Vernunft nicht mehr ausreichen, um die Veränderungen zu registrieren, die wir täglich erfahren, muß einmal zur Kenntnis genommen werden. Bei uns herrscht noch immer (oder von neuem) eine Inquisition der Denkformen des 19. Jahrhunderts; nur die Physiker haben sich aus ihr befreit. Was man heute das „wissenschaftliche Denken“ nennt, ist nämlich in Wahrheit nur eine sehr begrenzte und einseitige Denkmöglichkeit. Die Menschen haben sich eine ganz bestimmte kleine Sphäre des Denkens erobert und diese in höchstem Maße kultiviert, dafür aber andere Möglichkeiten des Denkens, die früheren Jahrhunderten gegeben waren, verkümmern lassen.

Die Situation des deutschen Theaters ist dadurch gekennzeichnet, daß jene Stücke aus dem Themenkreis der jüngeren Vergangenheit die größten Erfolgschancen haben, die Anklage und Entschuldigung in einem enthalten, die demonstrieren, daß zwar Unrecht begangen wurde, daß die Menschheit aber, unabhängig von der geographischen Lage eines Landes, an jedem Ort und zu jeder Zeit solchen Irrtümern unterliegen kann. Ob Stücke dieser Art imstande sind, das Thema der „unbewältigten Vergangenheit“ in eine neue Phase der Deutung zu rücken, bleibe dahingestellt. Wären sie doch damals alle nur ein bißchen skeptischer gewesen, und wären sie jetzt etwas weniger zerknirscht! Dann würden unsere Intellektuellen auch nicht permanent diesen etwas sentimentalen Minderwertigkeitskomplex der Jugend gegenüber äußern. Auch die Tatsache, daß in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine politische Entwicklung vor sich gegangen ist, die sich sonst in einem Jahrtausend abzuspielen pflegt, läßt die Schuldfrage dieser Generation in keinem sanfteren Lichte erscheinen.

Die ganze Diagnose der „unbewältigten Vergangenheit“ krankt daran, daß sie einen Menschentypus in den Vordergrund stellt, den es gar nicht gibt. Ein einziger hat dieses Problem gemeistert: Qualtinger mit seinem „Herrn Karl“. Das erklärt auch die Mischung von Faszination und Schrecken, die dieses geniale Stück zwangsläufig hervorrufen mußte. Qualtinger hat mit diesem Stück den modernen „Jedermann“ geschaffen. So und nicht anders sieht der Durchschnittsmensch dieses Jahrhunderts aus; der „Herr Karl“ könnte genauso gut ein Beamter in höherer Stellung oder ein Schriftsteller oder ein Industrieller gewesen sein. Dadurch würde sich nur die Terminologie, das Vokabular, aber nicht das Grundsätzliche des Typs ändern. Denn das Reaktionsvermögen des Durchschnittsmenschen, dessen Haltung aus einer seltsamen Mischung von Blödheit, Selbstgefälligkeit, Gemeinheit, Sentimentalität besteht, hat sich gegenüber den damaligen Zeiten wenig verändert. Nur die Fakten und die Objekte, an denen sich diese Eigenschaften entzünden, sind vergleichsweise uninteressant geworden. Weil ein Typ wie der „Herr Karl“ die Apokalypse überlebt hat, wird seine Erscheinung zu einer großen Dramenfigur.

Daß Politiker morgen widerrufen müssen, was sie gestern verkündet haben, gehört wohl zu den Risken ihres Berufs. Und daß man sich im Umgang mit der Politik bisweilen die Hände schmutzig macht, wissen wir nicht erst seit Sartre. In unserer Literatur hat diese ganz unpathetische, dafür viel gefährlichere Verflechtung von politischer Idee und politischer Wirklichkeit jedoch bisher kaum einen Niederschlag gefunden. Wenn man sieht, wie oberflächlich, wie konventionell Romane und Stücke, die in der Nazizeit spielen, die Schicksale der Menschen dieser Zeit behandeln, dann weiß man, daß das Ausmaß der Tragödie, die wir überlebt haben, noch gar nicht wahrgenommen wurde. Wahrscheinlich haben wir von dieser makabren Periode unseres Jahrhunderts noch zu wenig Abstand, wahrscheinlich mißglücken darum fast alle „Zeitstücke“.

Die Vertreter der „engagierten Literatur“ sprechen davon, daß sie eine öffentliche Verantwortung übernehmen müssen, daß sie sich der Not der Gegenwart öffnen wollen, und was dergleichen Redensarten mehr sind. Würde ein Schriftsteller wieder frei einbekennen, er schreibt, weil es ihm Freude macht oder weil er sich für begabt genug hält, um zu schreiben, würde er sagen, daß Dinge des öffentlichen und täglichen Lebens ihn zum Widerspruch reizen, daß er seine, wie er glaubt, bessere Meinung den offiziellen Ansichten gegenüberstellt: dann wäre alles sehr viel leichter. Wir reden von sittlicher Pflicht, wo wir von der Lust am Widerspruch reden sollten. Der Ton unserer Opposition ist aber manchmal genau so borniert wie der bei den Parteispitzen übliche.

Er ist es vor allem — und das sollte eigentlich zu denken geben — bei der jungen Generation. Zugegeben, die literarische Jugend hat es heute schwerer als im ersten Drittel dieses Jahrhunderts. Die Zwanzigerjahre konnten zwar den Autoren nicht im entferntesten die materielle Sicherheit bieten, wie sie in unseren Tagen durch das Aufkommen der Massenmedien möglich geworden ist. Dafür war jene Zeit in der Lage, Namen zu prägen; und die Prädikate, die verliehen wurden, hatten Gültigkeit. Heute, im Zeitalter der deutschen Minderwertigkeitskomplexe, sind bleibende Positionen schwer zu erobern. Sich der früheren Generationen zu entledigen mit dem Hinweis, diese hätten angesichts der heraufkommenden faschistischen Bewegung versagt, ist zwar bequem, aber keine Lösung.

Was wir über die menschlichen Eigenschaften eines Schriftstellers wissen, über das, was man den „Charakter“ zu nennen pflegt, das vergißt sich sehr schnell. Deshalb sollten wir nicht immer fragen: Ist, was die Jugend schreibt, von sittlicher Verantwortung getragen? Sondern wir sollten sagen: Ist, was sie schreibt, begabt genug, um gelesen, gehört, gespielt und diskutiert zu werden? Ich weiß nicht, ob Deutschland heute besser oder schlechter regiert wird als andere Länder. Ich weiß nur, daß in jedem Regime dort, wo die Kunst das vordergründig Verständliche übersteigt, die Schwierigkeiten beginnen. Beckett hat auch in den reaktionären Kreisen Westdeutschlands mehr Gegner als Brecht. Bei Brecht besticht die Phrase, das Schlagwort. Bei Beckett reizt die scheinbare Unverständlichkeit zum wütenden Protest. In der Abneigung gegen moderne Kunstäußerungen sind sich eigentlich alle Staatsformen ziemlich einig.

So weit sind die Banausen in Ost und West in ihren Meinungen also gar nicht voneinander geschieden, wie es manchmal den Anschein hat. Und es wäre den Herrschenden in allen Ländern wohler, wenn es keinen Beckett, keinen Soulages und keinen Boulez gäbe. Kunst wird im Westen möglicherweise nicht verstanden, aber toleriert. Sie wird im Osten bestimmt nicht verstanden, aber verboten. Ob der Osten im Lauf der nächsten Jahrzehnte toleranter werden wird und der Westen schon im Lauf der nächsten Jahre immer intoleranter — was viele prophezeien —, ist heute weder zu beweisen noch zu widerlegen.

Reden wir also nicht mehr von „engagierter Literatur“, reden wir nicht mehr von Jugend, reden wir von Talent und Talentlosigkeit.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1963
, Seite 196
Autor/inn/en:

Oscar Fritz Schuh: Prof. Oscar Fritz Schuh, Schöpfer beispielhafter Operninszenierungen in Wien und Salzburg (wo heuer unter seiner Regie „Cosi fan tutte“ und „Penelope“ gegeben werden), läßt seine Theatererfahrung seit einem Jahr fast gänzlich dem Schauspiel zugute kommen: er leitet das Berliner „Theater am Kurfürstendamm“, das er zu einer der interessantesten Sprechbühnen Deutschlands gemacht hat.

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