FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1990 » No. 439-441
Richard Christ

Wir Tschuschen der Piefkes?

Des Autors satirische Glossen aus unsrer ehrwürdigen Tante im Geiste, der „Weltbühne“ in Berlin-Ost, wollten wir ursprünglich nachdrucken, solang deren geringe Verbreitung in westlichen Landen dies tunlich sein läßt. Vielleicht im Herbst — diesmal erhielten wir frisch seine zornigen Funksignale vom sinkenden Schiff.

Gorbatschows Reformen waren in Moskau noch kaum angekündigt und in Berlin-Ost bereits verteufelt, als ich während eines Aufenthaltes in Wien mit einem Freund zum Heurigen verabredet war; am Tag davor sagte er ab, wegen der Einladung zu einem offiziellen Zeremoniell, das übrigens mein eigenes Land betreffe, die DDR. Die Einzelheiten, mit denen meine Neugier bedient wurde, lesen sich heute wie eine Satire.

Doktorhut für Mittagswut

Eine Wiener Hochschule verlieh per akademischem Festakt das Ehrendoktorat (oder war es die Würde eines Ehrensenators? — gleichviel, was liegt heut’ schon noch an dem kleinen Unterschied) an ein Politbüromitglied der SED. An einen Mann, der seit vielen Jahren die DDR-Wirtschaft unwidersprochen kommandierte, ihre Konkurrenzfähigkeit und Rentabilität schädigte, indem er sie ideologisch statt betriebswirtschaftlich führen und kontrollieren ließ; dessen Wirtschaftsprogramm sowohl innovative wie ökologische Anstrengungen weitgehend ausklammerte und der, was im Land am ehesten auffiel, die Regale der Läden leerfegte, indem er auch den letzten geraden Nagel auf die Exportliste setzte und für den Eigenbedarf der Eingeborenen nur die Nägel ohne Köpfe übrigließ. Der, auch dies war hinlänglich bekannt, das Zusammenbrechen der überalterten Technologie durch punktuelle Eilinvestitionen verhinderte mittels Valuten, die aus dem Einkauf von Giftmüll in westlichen Ländern und dem Verkauf von Häftlingen an westliche Länder stammten.

Man mag gleichgültig sein gegen akademisches Zeremoniell und den offenbar unausrottbaren Respekt Österreichs vor Titulaturen belächeln, indes sollten gerade die Verleiher ihre akademischen Würden, seien diese auch nur honoris causa vergeben, nicht so sehr verachten, daß sie jene einem Dilettanten nachwerfen, den einzig die politische Macht legitimiert füs Regierungsamt. Ich bin, sagte ich damals meinem Wiener Freund, in Wirtschaftsdingen hundert Prozent Idiot, aber mir scheint, ihr würdet unserer Gesellschaft wie auch diesem Mann mehr helfen, wenn ihr ihm an eurer Universität einen Grundkurs für Wirtschaftsführung bezahlt. Mit dem „Dok-“ oder „Senator“ bestätigt ihr dagegen einen Funktionär in seinem Tun, der auch den geringsten fachlichen Einwand gegen seine verhängnisvolle Wirtschaftspolitik als Angriff auf den Leninismus denunziert und jeden Widersacher in die Wüste schickt.

Ich war, wie man sich denken kann, mehr erbittert über die Bedrohung des Heurigenabends als über die akademische Selbstbeschmutzung. Wie sich nun die Dinge entwickelten in ihrer privaten und staatspolitischen Gesetzmäßigkeit:

  • Wir gingen doch zum Heurigen, der Festakt hatte einen Teilnehmer weniger, das Ehren-torat wurde mit Laudatio und Dank verliehen, die DDR-Wirtschaft näherte sich nach den exakten Plänen des Geehrten zuverlässig ihrem Zusammenbruch;
  • der neugebackene -tor h.c. Günther Mittag endlich ist heute — dem Vernehmen nach — noch oder wieder auf freiem Fuß, sieht sich aber demnächst wohl, zusammen mit vielen Gralsrittern von der dienstäglichen Politbüro-Runde, nochmals vor einem öffentlichen Gericht wieder. Wobei die Schwierigkeit der Justiz weniger darin bestehen dürfte, daß ihre Angestellten vom Examen an mit jeder Beförderung in eine tiefere Hörigkeit zum System derer gerieten, die nun abzuurteilen sind, als vielmehr darin, daß keine Paragraphen im Strafrecht stehen, die Dilettantismus, Unbelehrbarkeit, Rechthaberei, Dünkel, Besserwisserei und Machtbesessenheit pönalisieren.

Zum Glück für die Wiener akademische Bürokratie ziehen sich in Berlin die Prozeßvorbereitungen unendlich in die Länge, so daß noch etwas Zeit bleibt für die Entscheidung, ob es geraten wäre, die Ehren...-torwürde zurückzufordern, ehe sie vielleicht auf einem geschorenen Schädel sitzt. Aber möglicherweise auch ist der Rückruf bereits erfolgt, in aller Stille, wie man etwas bereinigt, was einem nachträglich peinlich sein muß.

Enthüllungen von Kleinformat

Obige Petitesse ist den Medien meiner Heimat bisher entgangen, wiewohl sie nach der Wende, als verständliche Reaktion auf vierzig Jahre Maulkorb, einem Enthüllungszwang verfielen, bei dem sie ihren BRD-Kollegen nur wenig übrig liessen. Die Bevölkerung aber, lesbarer Blätter so lange entwöhnt, stürzt sich auf die Nähkästchen-Plaudereien aus dem Leben ihrer davongejagten Parteiprominenz um so gieriger, als die Bürgernähe der Unfehlbaren mit der Zahl ihrer Regierungsjahre immer mehr gegen Null fiel und selbst ranghöhere Funktionäre sich kaum eines privaten Umgangs mit Politbüromitgliedern rühmen konnten. Nun wurden mit eins die Tore der Gralsburg, des vielberedeten Wandlitz, aufgestoßen, doch was der verblüfften Nation in die Nase stieg, war konzentrierter Kleinbürgermief. Wer hinter den Mauern des — in konzentrischen Kreisen angelegten, militärisch abgesicherten — selbstgewählten Ghettos Enthüllungen überschweren Kalibers erwartet hatte, war arg enttäuscht. Genosse Raffke und Genossin Neureich hatten sich den Sozialismus als Selbstbedienungsladen eingerichtet. War das die Empörung der Nation wert, dieses bißchen vom Klassenfeind abgeguckter Wohlstand à la „Schöner Wohnen“, die Jagdhütten, überlangen Autos, die japanische Hi-Fi-Anlage, der abgeschirmte Urlaubs-Bungalow, das elitäre Krankenhaus, die unentgeltlichen Jet-Flüge? In den meisten westlichen Regierungen findet sich Vergleichbares, oft in größerem Maßstab, auch mit mehr Geschmack. Insofern hatte der verflossene Volkskammerpräsident Sindermann recht, als er auf Vorwürfe wegen „unsozialistischer Lebensweise“ sinndermanngemäß antwortete: Unsere Privilegien waren doch gar nicht der Rede wert, die drüben hatten ja viel mehr.

Nein, das eigentliche Versagen, wie es letztlich auch zum Untergang des Landes führte, lag jenseits einer großmannssüchtigen Lebensführung. Sie dachten nicht mehr ans Regieren und ersetzten es durch Reagieren, um ihre Privilegien zu sichern und alle in Schach zu halten, die irgendwie als potentielle Kritiker in Frage kamen. Gänzlich unglaubwürdig klingt die Aussage eines Eingeweihten und ist doch durch die erlebte Praxis belegt: Während Woche um Woche nach Niederreißen des Grenzzauns zwischen Ungarn und Österreich Tausende die DDR verließen und die Anträge auf Aussiedelung seit Jahren nach Hunderttausenden zählten, befaßte sich das Politbüro in seinen Sitzungen nicht ein einziges Mal mit dieser für das Land tödlichen Gefahr. In den Zeitungen wurden Artikel und bestellte oder redaktionsgefertigte Leserbriefe veröffentlicht, die betonten, daß nicht der geringste Anlaß bestehe, Abwanderern eine Träne nachzuweinen, die seien ohnehin nur Störenfriede. In einem vom ganzen Land höhnisch verlachten Interview wurde — im Partei-Zentralorgan „Neues Deutschland“ — gar nachgewiesen, daß Bürger gegen ihren Willen von westlichen Agenten mittels Menthol-Zigaretten betäubt, via Ungarn und Österreich in die BRD verschleppt würden; Interview und Opfer erwiesen sich nachträglich als von der Stasi getürkt.

Literatur-Revolten

Im Unterschied zur Sowjetunion, wo die Wende zu Perestroika und Glasnost durch die Literatur (Autoren wie Aitmatow, Rybakow, Granin, Abramow, Okudshawa, deren Bücher ich zuletzt las, fallen mir ein, es sind unendlich viel mehr) entscheidend mit vorbereitet wurde, ist der Anteil der zeitgenössischen DDR-Belletristik an der Wende nicht übermäßig, aber auch nicht zu unterschätzen. Außerdem muß erwähnt werden, daß sich die Mitglieder des PEN-Zentrums DDR im März 1989 in einer Resolution nicht nur für Salman Rushdie und seine iranischen Kollegen einsetzten, sondern auch für die Freilassung von Vaclav Havel (was zur vorübergehenden Entlassung des damaligen stellvertretenden Kulturministers führte, der mit dafürgestimmt hatte). Und spät, aber immerhin vor der Wende, Mitte September, brachten mehrere AutorInnen in einer Sitzung der Berliner Sektion des DDR-Schriftstellerverbandes eine Resolution ein, daß es höchste Zeit sei, sich mit der Frage des Ausblutens unseres Landes zu befassen, und zwar öffentlich, und die Gründe dafür bei uns selbst zu suchen, nicht in einer „Abwerbekampagne des Westens“. Die Resolution, an die Nachrichtenagentur ADN adressiert, wurde mit übergroßer Mehrheit angenommen, aber ebenso wie die Havel-Erklärung nicht publiziert. (Diese Versammlung, bei der nur einige Hardliner gegen die Resolution stimmten, war gleichsam die Verabschiedung der langjährigen Leitung und ihres Präsidenten durch die Mitgliedschaft. Unter diesem Eindruck regte ich an, daß der Berliner Vorstand, dem ich viele Jahre als einer der stellvertretenden Vorsitzenden angehört hatte, zurücktreten solle. Ich erhielt keine Mehrheit im Vorstand und trat im Alleingang von der Funktion zurück, von einigen wegen Kapitulantentum beschimpft.)

Hochmut nach/vor dem Fall

In ihrer detailbesessenen Enthüllungslust lenkten die Medien eher von den verhängnisvollsten Fehlern des Systems ab, als daß sie diese genau analysierten. Es wurde nicht mehr reagiert, das war gesagt, und die Wirtschaft war fehlgeleitet. Nicht weniger schwer wogen die Fehler in der Jugendpolitik. Das Wissen der Schulabgänger war fachweise durchaus auch international präsentabel, aber da Schüler wie Lehrer wußten, auf welche Fragen welche Antworten zu geben und welche Bekenntnisse abzulegen waren, entstand einvernehmlich ein Klima allgemeiner Heuchelei. Wer die richtigen Antworten nicht geben wollte, kam nicht voran. Begabungen wurden vergeudet, Studienwünsche mißachtet, Karrieren zertreten, wo nichts außer fachlicher Eignung vorlag; belohnt wurden politisch richtige Bekenntnisse selbst dann, wenn Unbegabung und Dilettantismus offensichtlich waren. Die Personalunion Honecker-Honecker machte jede Kritik an der Volksbildung äußerst schwierig: wer bei der Ministerin anfragte, erfuhr indirekt die Antwort auch des Gatten und Generalsekretärs. Ein bißchen Rumänien war das schon, und das Land kostete es Hunderttausende junger begabter und begeisterungsfähiger Leute, die keinerlei Möglichkeit sahen, sich zu verwirklichen.

Verhängnisvoll war ebenfalls, daß die Parteiführung die Ökonomie auf Kosten der Umwelt forçierte und alle Umweltdaten zur Geheimsache erklärte, deren Veröffentlichung unter Strafe stand. So hielt sich in weiten Kreisen der Bevölkerung die Illusion, es sei doch alles gar nicht so schlimm. In den Großstädten oder im mitteldeutschen Industriegebiet kannten die Menschen keinen einzigen Wert der Luft- und Wasserverschmutzung, während zum Beispiel nach Tschernobyl die Salatköpfe für Wandlitz im Berliner Institut für Strahlenschutz sorgfältig gemessen und erst dann freigegeben wurden.

Im Wahn der inneren Sicherheit

Am meisten verfiel, besonders mit der Abwehr der sowjetischen Reformbestrebungen, die Innen- und Sicherheitspolitik. Für die Öffentlichkeit sichtbar wurde es vor allem durch das Verbot sowjetischer Zeitschriften, Filme und Bücher. Der für Staatssicherheit zuständige Minister war, mit über achtzig, der Älteste in einem durchwegs vergreisten, altersstarrsinnigen Politbüro, das sich selbst einsperrte und in einer politischen Wunschwelt lebte, ohne noch die Realitäten analysieren zu können. Hauptmotiv aller Maßnahmen der Gerontokraten war ein lawinenschnell anwachsendes Mißtrauen. Die Losung hieß: Keine Fehlerdiskussion! Wer dennoch Unzulängliches anmerkte, sah sich schnell in die Opposition gestellt und observiert. Da die Zahl der Kritiker aber mit der Zahl der Unzulänglichkeiten wuchs, ordnete der Minister und Armeegeneral eine sogenannte flächendeckende Überwachung an. Eine Erzählung Kafkas (den die Kulturpolitik jahrelang als „Formalisten“ ausgesperrt hatte) vom Tier, das einen Bau anlegt und die Sicherheitsmaßnahmen durch immer neue Sicherungen zu sichern sucht, wurde Staatswirklichkeit. Der General befehligte an die hunderttausend hauptamtliche Mitarbeiter und beinah ebensoviele Zuträger, Gelegenheitsarbeiter, Schnüffler, Provokateure und Aufpasser — man kann sich ausrechnen, wie sich das Verhältnis bei einer Bevölkerung von zwölf Millionen Erwachsenen darstellt. Noch liegen erst wenige Auswertungen des aufgefundenen Materials vor, und niemand weiß genau, was vernichtet, was ins Ausland verbracht worden ist, aber schon jetzt ist deutlich: Die Überwacher wurden am Ende des Materials nicht mehr Herr, sie erstickten darin. Millionen Dossiers entstanden aus Berichten, abgehörten Telefonaten, erbrochenen Briefen, alles wurde schriftlich und elektronisch aufgezeichnet. Es wurden zum Beispiel alle Adressen erfaßt von Empfängern, in deren Post nicht zugelassene Zeitungen oder Zeitschriften oder Ausschnitte daraus gefunden wurden. Erfaßt wurden Briefmarkensammler, die sich auf westliche Motive spezialisiert hatten. In den Stasi-Einrichtungen wurden Gebirge von Briefen und Karten entdeckt, mit denen Jugendliche Autogramme westlicher Rockstars erbeten (auf die sie aber zur ihrer Verwunderung nie Antwort erhalten) hatten. Die Suchraster wurden immer enger, die Querverbindungen immer unüberschaubarer, weil jeder mehrfach eingespeichert wurde. Eine ganze Nation war in den Augen einer Handvoll Funktionäre verdächtig geworden — ein Zustand, den Brecht schon zum 17. Juni 1953 ironisiert hatte: „Wäre es da nicht besser, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein neues?“

Das Volk indes selbst, nicht die Regierung, hielt sich an seinen Dichter und begann sich aufzulösen. Es war ohnehin verstört, daß bei Wahlen dreist manipuliert wurde und die Ergebnisse im voraus festlagen, wie jüngst durch die Geständnisse von Wahlleitern bestätigt wurde. Das Volk stimmte mit den Füßen ab, es begann in Scharen davonzulaufen. Die klassische Situation am Vorabend von Revolutionen war eingetreten: Die oben konnten nicht mehr, obwohl sie gern noch gewollt hätten, die unten wollten nicht mehr, obwohl sie vielleicht noch eine Strecke gekonnt hätten. Eine Umwälzung war fällig. Das Politbüro versuchte, Köpfe zu retten. Mit einiger Gewalt löste man den krankheitsgeschwächten Honecker durch Krenz ab, auf den noch viele setzten; aber trotz beschworener Abkehr vom alten Kurs und gelobter Reue begann er mit einer Lüge: Die Partei hat die Wende eingeleitet, behauptete er mit seinem gewinnend zähnebleckenden Lächeln, das er in den Tagen als Jugend-Vorsteher eingeübt und später fürs reifere Publikum vervollkommnet hatte. Er wußte am besten, daß seine Partei alles versucht hatte, die Wende zu vereiteln, und es eher Zufall war, daß dem Schlagstockeinsatz vom 7./8. Oktober in Berlin nicht Schußwaffen- und Panzereinsatz in Leipzig folgten, nach rumänischem oder chinesischem Vorbild.

Illusion: „Alternativer Weg“

Bei der denkwürdigen Demonstration vom 4. November in Berlin hatte es noch allen Anschein, das Volk sei in der Lage, eine große, historisch einmalige Chance zu verwirklichen. Liest man heute, was um diese Zeit herum gedruckt wurde, so dominiert die Vorstellung von einem alternativen Weg bei Politikern des Ostens nicht weniger als bei vielen des Westens. Rolf Henrichs „Vormundschaftlicher Staat“ z.B., eine großangelegte Analyse des sogenannten realen Sozialismus, mündet in einem Bündel von Vorschlägen zur Reorganisation von Staat und Gesellschaft. Der Staat war ausdrücklich als Gegenentwurf zu einem kapitalistischen Deutschland gedacht. (Henrich gehört, mit seinem Buch wie als Gründungsmitglied der Oppositionsgruppe „Neues Forum“, zu den Vordenkern der Wende.) Ähnlich sind die Positionen in dem „Brief an die Deutschen Demokratischen Revolutionäre“ des ehemaligen Hamburger SPD-Bürgermeisters v. Dohnany. Er machte dem DDR-Volk Mut, die einmalige Gelegenheit zur Umformung des vorhandenen politbürokratischen Systems in eine offene, demokratisch kontrollierte, aber (anders und konsequenter als bei Henrich) auf Privateigentum an Produktionsmitteln aufgebaute Gesellschaft zu nutzen und dabei jene Fehler zu vermeiden, die in der BRD systemimmanent geworden sind. v. Dohnany räumte sogar ein, daß bei einer irgendwann in der Zukunft vollzogenen Konföderation beider deutscher Staaten Wege gefunden werden könnten, die Vorzüge einer neuen ostdeutschen Verfassung auf die westdeutsche zu übertragen oder beide zu beiderseitigem Vorteil zu verschmelzen. Heute lesen sich diese Entwürfe wie Leichenreden am offenen Grab.

Noch während die Politiker ihre Vorschläge zu Papier brachten, änderte sich die politische Wirklichkeit. Das Auseinanderfallen von Idee und Verlauf der ostdeutschen Oktoberrevolution zeigt sich bis in den Titel hinein in einer Sammlung von Aufsätzen, die im Frühjahr als Gemeinschaftsausgabe der Verlage Reclam (DDR) und Luchterhand (BRD) erschien. Als dieser erste gesamtdeutsche politische Reader gegen Ende des Jahres 1989 konzipiert wurde, trug er noch den Titel „Hoffnung DDR“. Bereits in den Januartagen, während auf den Demonstrationen die selbstbewußte Losung „Wir sind das Volk!“ mehr und mehr ersetzt wurde durch das bedingungslos anschlußbereite „Wir sind ein Volk!“, ergänzten die Herausgeber den Titel um ein Fragezeichen: „Hoffnung DDR?“ Erschienen ist die Sammlung schließlich mit einem Titel, der das Unumkehrbare der Entwicklung festschreibt, nicht ohne Mitschwingen von Wehmut:

Nichts mehr wird so sein, wie es war

(Zweifach leider.)

Und zwar deshalb, wie es im Vorwort heißt, weil sich bald nach jenem 4. November mit seiner Demonstration eines noch geeinten politischen Willens abzeichnete,

daß die wichtigsten Voraussetzungen für eine Gesellschaft jenseits der bisher verwirklichten Formen von Kapitalismus und Staatssozialismus fehlten: ein Minimum an politischer und ökonomischer Stabilität und vor allem auf sich selbst vertrauende Bürger, die in ihrer großen Mehrheit an die Verwirklichung einer Alternative glauben können.

Genau diese Alternative war von den Beiträgern der Sammlung beschworen worden, ob sie aus Ost oder West kamen, ob sie sozialdemokratische oder alternative oder grüne, emanzipatorische oder ökologische Interessen vertraten, kirchliche oder die der Vierten Internationale. Übereinstimmung, bei allen Nuancen, bestand darin, was beim Versuch eines Neubeginns vermieden werden sollte, was man nicht wollte: keine Zweidrittelgesellschaft mit Dauerarbeitslosen in Millionen und Sozialhilfeempfängern am Rande des Existenzminimums; keine Wegwerfgesellschaft unterm Zwang des Konsums, unterm Psychoterror der Werbung; keine Auto- und Plastikgesellschaft ohne Umweltgewissen; keine Ellbogengesellschaft, die nicht Raum läßt für die Benachteiligten, Behinderten, anders Sprechenden, Denkenden Liebenden, für andere Hautfarben; keine Wohlstandsgesellschaft auf Kosten anderer Welten. Mit am wichtigsten: keine Männergesellschaft, die sich als Verdienst anrechnet, wenn sie der Frau auch ein paar Chancen einräumt, und ihr wieder den Paragraphen 218 beschert.

Was all diese Absichtserklärungen jedoch aufhob, war die entschiedene Front gegen ein neues gesellschaftspolitisches Experiment unter wie auch immer gesetzten sozialistischen Vorzeichen: der überwiegende Teil der Bevölkerung lehnte das ab. Im Vorfeld der Volkskammerwahlen, als der Wahlkampf immer deutlicher zur Walstatt bundesdeutscher Parteien wurde und die Versprechungen und Verlockungen dreizehn aufs Dutzend zählten, verkamen die großen und edlen Vorsätze, die im Geiste des Hölderlin-Wortes standen:

„Soviel Anfang war noch nie“

Der Anfang enthielt in zynischer Dialektik bereits das Ende. Wie bei jenem Homer-Schwärmer, von dem Lichtenberg berichtet, er habe statt angenommen immer Agamemnon gelesen, lasen die Wähler des ersten freien DDR-Parlaments statt Demokratie nur immer Demark-kratie. Das brachte ein Wahlergebnis, vor dem die meisten dann ratlos standen. Vornan die siegreichen Konservativen, die erkennbare Furcht vor der Verantwortung zeigten; die SPD sah sich verbittert um den sicheren Sieg gebracht, die PdS trotz ihres Teilsiegs isoliert, die Mütter und Väter der Wende jedoch, sie waren vergessen, kein Interviewer interessierte sich am Wahlabend noch für sie. Aus war der Traum von einer DDR als gleichberechtigtem Verhandlungspartner, der in eine deutsche Staatenkonföderation etwas einzubringen hätte. Der Anschluß nach BRD-Grundgesetz-Artikel 23 war perfekt und damit ein anderer Traum nahe der Erfüllung: der Enkel Adenauers kann auf seinem Königsweg zum Urenkel Bismarcks avançieren.

Katzenjammer im Herbst

Der ist abzusehen. Mit der Aufgabe der Währungshoheit ist der Staat DDR de fakto erloschen. Was noch bleibt, sind vom Rhein her gesteuerte Vollzugsorgane, gleichviel, ob der Anschluß der Länder und die gemeinsame Bundestagswahl heuer oder erst übers Jahr erfolgt und Bonn noch ein Weilchen Hauptstadt bleibt. Noch will (ich schreibe kurz vor der D-Mark-Einführung) die Wählermehrheit nicht die banale Wahrheit zulassen, daß die mit allen Mitteln erstrebte Zugehörigkeit zur westlichen Währungshoheit nicht zugleich garantiert, daß jeder über die harte Knete auch ausreichend verfügen wird. Unter dem Konkurrenzdruck wird ein Massenbankrott von DDR-Firmen erfolgen, die Zahl der Arbeitslosen ist bereits fürs heurige Jahresende mit einer Million oder mehr prognostiziert — etwa jeden zwölften Erwachsenen soll’s also treffen! Viele erbauen sich dennoch an dem Umstellungsverhältnis eins zu eins bei Löhnen und Gehältern, ohne das vergleichweise niedrige Lohnniveau und den bereits beschlossenen Wegfall der Subventionen für Grundnahrungsmittel einzukalkulieren, nicht zu reden vom möglichen Anziehen der Mieten und Verkehrstarife. Schließlich die Renten: Siebzig Prozent des Arbeitseinkommens, das klingt nach Sattwerden — aber wieder sind die niedrigen Löhne und Gehälter die Berechnunsgrundlage. Im bevorstehenden Herbst wird also viel Enttäuschung aufkommen in diesem Land, das schon sein Staatswappen verloren hat, und die wenigsten Menschen werden nicht in das Bedauern des polnischen Aphoristikers Lec einstimmen:

Die Phönizier haben das Geld erfunden, sehr gut — aber warum so wenig?

Die Erkenntnis wird um sich greifen, daß die eine Bevormundung durch die andere fast übergangslos abgelöst ward, statt der ideologischen nun die monetäre. BRD-Recht wird ohne Umstände der DDR übergestülpt, die Ergebnisse sind fallweise fast skurril. Die Wettiner melden sich mit Ansprüchen auf einst königliche Immobilien in Dresden. Ein Enkel legt Papiere vor, daß seinem Großvater die Ostberliner Friedrichstraße gehört. Ostelbier inspizieren einstige Herrenhäuser und das umliegende Land, das von Genossenschaften bestellt wird. So bis ins kleinste: Die Nachbarn in meinem Berliner Vorort blicken geängstigt durch die Hecke, wenn auf der Straße ein Mercedes vorfährt — ihre Häuser stehen auf gepachtetem Boden. Ein gutmeinender Wiener Freund warnte: „Paßt’s bloß auf, daß ihr net die Tschuschen von die Piefkes werd’ts!“ Falls doch, so bleibt abzuwarten, ob jene rechtbehalten, die von Herbstunruhen sprechen als einer logischen Verlängerung der „Eilig-Deutschland“-Rufe.

In einer besonders schwierigen Situation befinden sich die Kulturschaffenden. Ich rede von der

Lage der Schriftsteller,

weil ich mit ihren Belangen am besten vertraut bin. Natürlich haben wir alle darauf gewartet, endlich ohne Zensur schreiben, uns unzensuriert informieren und unkontrolliert reisen zu können. Wie nun weiter? Oft war zu hören, DDR-Schriftsteller genössen viele Privilegien. Vor einigen Wochen fand ich einen Aufsatz in der „Welt“, dessen Verfasser ernstlich behauptete, jedes Mitglied des DDR-Schriftstellerverbandes habe ein staatliches Gehalt bezogen und dürfe schon vor Erscheinen einer Arbeit Tantiemen kassieren. Schwer auszumachen ist, ob Uninformiertheit oder Lüge dem Verfasser von so viel Unsinn die Feder geführt hat. Keiner der knapp neunhundert Verbandsmitglieder hat je ein staatliches Gehalt für seine Mitgliedschaft bezogen. Was wir hatten, als Privileg, wenn man so will, war ein zahlreiches, treues, urteilsfähiges und kaufbereites Publikum. Woraus sich die Höhe der Auflagen, die rasche Folge von Nachauflagen bei erfolgreichen Büchern, auch die günstige Verwertung von Nebenrechten ergibt. Wir hatten außerdem ein überaus autorenfreundliches Urheberrecht, das den Autor als ökonomisch Schwächeren gegenüber dem Verlag begünstigte und keinem Verleger erlaubte, aus den Hirnschalen seiner Autoren Champagner zu saufen, wie es einst dem alten Rowohlt, wenn ich mich recht erinnere, scherzhaft vorgehalten wurde. Erst vor wenigen Jahren wurde die Mindesttantieme für Debutanten von 10 auf 12 Prozent vom Ladenverkaufspreis erhöht, die maximale Beteiligung des Autors betrug 18 (früher 15) Prozent. Die Buchpreise waren zwar verhältnismäßig niedrig, aber bei hohen Startauflagen und raschem Nachdruck fiel der Ertrag für den Autor so aus, daß er unpressiert an ein neues Projekt gehen konnte.

Viele Autoren des Auslands, und ich weiß es auch von Österreich, haben uns um dieses Urheberrecht beneidet. Es wird bald außer Kraft sein. Alles wird sich ändern für ein Land, das nicht ohne Stolz (selbst bei Kenntnis auch der negativen Gründe hiefür) ein „Leseland“ genannt wurde. Schöngeistige Literatur übernahm ja in der stalinistischen Kulturpolitik oft die Aufgaben der Medien. Das hatte einen simplen, für die Parteiführer nicht eben schmeichelhaften Grund: Sie lasen Bücher in der Regel nur, wenn ihre Veröffentlichung umstritten war. Politbüromitglieder hatten ihre Logen auf den Fußballfeldern, nicht im Theater; sie beglückwünschten und honorierten Goldmedaillengewinner, seltener Lyriker, Liedermacher, Stückeschreiber, mit denen lagen sie eher im Streit. Sie füllten ihre gewiß karge Freizeit mit Fernsehen oder mit Filmen, die das Publikum nur selten zu sehen bekam. Bücherlesen war nicht ihre Gewohnheit. Deshalb konnte der aberwitzige Fall eintreten, daß ein Stück Prosa etwa für den Zeitungsabdruck, die Radiosendung verboten wurde, als Buch aber erscheinen konnte.

Nun sind die Medien im Besitz aller Rechte, die ihnen zukommen, und die Bücher werden, sozusagen, wieder literarischer. Damit auch weniger zeitpolitisch aufregend. Die Zeitung hat Hochkonjunktur, das Buch tritt zurück. Außerdem drängt der Buchmarkt der Bundesrepublik mit Macht in die DDR-Läden. Der Nachholbedarf der Leser ist selbstverständlich riesig, keinem sollte verdacht werden, wenn er Autoren, denen er über Jahrzehnte die Treue gehalten, fürs erste in Pension schickt und sich auf das Neue stürzt: von Koestler bis Konsalik, von Solshenitzin bis Simmel.

Hinzu kommt, daß der Buchhandel sich abwartend verhält, bei DDR-Verlagen kaum noch Bestellungen aufgibt oder bereits zugestellte Partien zurück weist.

Die Verlage ihrerseits,

über Nacht finanziell selbständig geworden, sofern sie vorher volkseigen waren, kürzen oder streichen Auflagen, annullieren Verträge, kalkulieren schärfer, entwerfen mit neuen Buchprogrammen Überlebensstrategien und entlassen Mitarbeiter. Kein DDR-Verlag verfügte bisher über eine leistungsstarke Werbeabteilung; da das Buch trotz hoher Auflagen meist zur sogenannten Bückware gehörte, war keine Werbung nötig, im Gegenteil, oft wurden Rezensionen vermieden, um nicht noch mehr potentielle Käufer schnell vergriffener Bücher zu verärgern. Von den siebzig, achtzig Belletristik-Verlagen, so rechnen Branchenkenner, werden vielleicht sieben, acht bestehen können. Was wiederum bedeutet, daß sich der Status vieler Autoren ändern muß. Ein großer Teil lebte freischaffend, was bei den relativ niedrigen Lebenshaltungskosten selbst den weniger Erfolgreichen möglich war. In Zukunft wird wohl nur noch ein geringer Prozentsatz ausschließlich vom Ertrag der Feder leben können; auch dann, wenn das Publikum nach Befriedigung seiner ersten Neugier auf bisher ausgesperrte Bücher zu seinen Stammautoren zurückkehren möchte. Denn bei steigenden Lebenshaltungskosten wird erfahrungsgemäß zuerst an der Kultur gespart. Was natürlich nicht allein für das Buch gilt.

Freischaffende Maler, Graphiker, Musiker etc.

werden sich, so ist zu fürchten, vor den Sozialämtern einfinden und einander das Warten verkürzen mit Erinnerungen an die große Zukunft, die hinter ihnen liegt. Da der Freischaffende als selbstständiger Unternehmer gilt, steht ihm keine Arbeitslosenunterstützung zu. Ob sich wenigstens ein Teil der Autoren durch Medienarbeit über Wasser wird halten können, bleibt abzuwarten.

Die Lage der Zeitungen

ist nicht rosig, bei einigen Zeitschriften eher schon verzweifelt. Auch die Zeitungsverlage müssen sich von volks- oder organisationseigenen zu anderen Eigentums- und Rechtsformen wandeln, was um so schwieriger ist, als niemand auf diesem Gebiet bisher Erfahrungen sammeln konnte und keine Wirtschaftsjuristen zur Verfügung stehen, die etwa beraten könnten, wie man einen staatlichen Verlag in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umwandelt. Westliche Branchenriesen begannen zeitig und unter Umgehung noch geltender DDR-Gesetze ihre Erzeugnisse mit vielfältigen Methoden anzubieten. Ich erinnere mich, daß auf dem Berliner Alexanderplatz im Frühjahr tagelang die druckfrischen Exemplare von Springers „Morgenpost“ auf dem Pflaster lagen, zum kostenlos Nehmen. Als die Schriftsteller ihren Außerordentlichen Kongreß abhielten (im März; ein klägliches Unternehmen, jedoch Spiegelbild der neuen Verhältnisse: es wurde fast nur über Marktstrategien gesprochen, nicht über Literatur, auch die Leser wurden vergessen), konnten sie sich in den Pausen reichlich bedienen mit kostenlos gelieferten Presseerzeugnissen. Ich selbst habe einen Monat lang ein Freiabonnement einer BRD-Zeitung erhalten, ohne bis heute zu wissen, wie ich in die Werbekartei geriet. Bäcker- und Papierwarenläden, Kaufhallen, Kioske bieten eine gewaltige Palette von Druckschriften an, nur mit Mühe konnten die Belieferer von den DDR-Behörden abgehalten werden, zum Kurs eins zu eins zu verkaufen, was für viele landeseigene Unternehmen den raschen Konkurs bedeutet hätte.

Bei Zeitungen scheint sich der Konkurrenzdruck noch nicht allzustark auszuwirken, da regionale Berichterstattung nicht ohne weiters zu ersetzen ist. Aber ein Blick ins „Börsenblatt“ des BRD-Buchhandels lehrt, daß in allen DDR-Bezirken bzw. -Ländern Neugründungen en masse bevorstehen, für die bereits Titelschutz in Anspruch genommen wird. Auch in der polygraphischen Industrie zahlt sich nun bitter aus, daß die DDR in anderen Erdteilen modernste Druckereien installiert hat, während die eigenen Unternehmen zum Teil noch mit vorsintflutlicher Technologie arbeiten muß. Entsprechend ist das Erscheinungsbild für gewöhnlich miserabel, besonders in mehrfarbig gedruckten Zeitschriften. Die meisten kümmern neben ihren hochglänzenden, perfekt aufgemachten westlichen Vettern als Aschenbrödel dahin; nur Nibelungentreue oder nostalgisches Mitleid wird ihnen einen Rest von Beziehern halten, auch der wird am Ende zur Regenbogenpresse überwechseln, für die schon lange vor der Währungsumstellung die Werbung eingesetzt hat, vor allem auf Berliner S-Bahnhöfen.

Die elektronischen Medien

sind, nicht zuletzt, in Bedrängnis. Beim Rundfunk machen sich, in Vorausschau auf die künftige Kulturhoheit der bald zu wählenden Landesregierungen, die ehemaligen Landesstudios stark. Früher waren ihnen nur wenige Stunden Sendezeit pro Tag gewährt, nun beanspruchen „Sachsenstudio“, „Antenne Brandenburg“ und andere die volle Sendezeit und benutzen dafür Frequenzen des bisherigen elitären Kultursenders „DDR II“. Der frühere Sender „Stimme der DDR“, dessen Sendeauftrag (lang- und ultrakurzwellige Verbreitung der Vorzüge des Sozialismus, besonders über die Grenzen hinweg) hinfällig geworden ist, sendet jetzt wieder wie früher als „Deutschlandsender“ und fusionierte mit Radio „DDR II“, wodurch ein beträchtlicher Teil der Mitarbeiter entlassen werden muß. Was wird mit „DDR I“, wenn es keine DDR mehr gibt, mit „Radio Berlin International“, parallel zum allmächtigen „Deutschlandfunk“ der BRD? Was mit dem „Berliner Rundfunk“, wenn die Stadt wieder eins ist und heute im westlichen Teil wenigstens acht Sender ausstrahlen? Nebenbei: auch dort ist man nicht unbesorgt; der Sendeauftrag des „RIAS“ zum Beispiel (Wiederherstellung der deutschen Einheit) ist erfüllt, eine neue Konzeption wäre angebracht. Der „Sender Freies Berlin“ kämpft um die Hörer des Berlin-Umfelds Brandenburg. Was schließlich wird aus der zentralen Hörspiel- und Feature-Produktion des DDR-Rundfunks, einer großen und bewährten Einrichtung, die bisher alle Sender beliefert hat? Was aus den beiden Programmen des DDR-Fernsehfunks, der durchaus nicht freudig bereit ist, von ARD oder ZDF geschluckt zu werden? Fragen über Fragen, und jede Lösung schließt die Entscheidung über Tausende qualifizierter Mitarbeiter ein, die bestenfalls für eine Umschulung in Frage kommen.

Von den psychologischen Auswirkungen ist vorderhand nur das Lüftchen zu spüren, das dem Taifun vorausgeht. Viele haben noch nicht begriffen, daß sie ab Herbst auf der Straße sitzen werden; wer vierzig Jahre lang in einem Staat gelebt hat, der ihm das Recht auf Arbeit per Verfassung garantierte, vermag sich das Phänomen Arbeitslosigkeit eher als einen politischen Begriff denn als persönliches Schicksal vorzustellen. Merkbar sind vielerorts Frustration, Ratlosigkeit, Verunsicherung, oft drapiert mit Galgenhumor. Es gibt Fälle von Verzweiflung, auch Reaktionen, die in der Intensivstation enden.

Es ist schwierig, sich in einem Staat zurechtzufinden, der mit jedem Tag ein Stückchen mehr wegschmilzt. Dessen Gesetze kraftlos geworden sind. Dessen Traditionen demontiert werden. Über den täglich unglaubliche Scheußlichkeiten aus seiner stalinistischen Vergangenheit enthüllt werden. Eine wichtige Einsicht, wie ich finde, ist die, daß jede Spekulation mit „Wenn“ und „Hätte“ Mostrich nach Tisch ist. (Senf zum Dessert. Anm. für österreichische LeserInnen.) Die DDR stand, es ist davon eingangs die Rede gewesen, kurz vor dem Ausbluten, vor dem ökonomischen und moralischen Ende. Irgendeine Änderung war unumgänglich. Nun ist es nötig, Vor- und Nachteile der Verhältnisse, wie sie durch demokratische Wahlen entstanden sind, abzuwägen und sich darauf einzurichten. Oder sich ein anderes Land zu suchen, auch das ist ja für alle eine neue Möglichkeit nach Abriß der Mauer. Mit der Ablehnung des alternativen Weges ist viel verloren, aber auch so bleibt noch einiges auf der Aktivseite zu verbuchen. In einer offenen Gesellschaft leben ist auf andere Art schwierig, wenn auch interessanter. Der einzelne wird wieder gefordert, was vor allem den Wünschen der Jugend entgegenkommt. Es wird für jeden lebenswichtig sein, mit neuen Errungenschaften umgehen zu lernen. Wir beginnen in vielem noch einmal von vorn, das ist nicht in allem ein Nachteil. Gut wäre, wenn uns von allen einst gepriesenen revolutionären Tugenden wenigstens die Geduld erhalten bliebe. Eine

Anekdote zum Schluß,

die mich selbst betrifft: Vor genau 20 Jahren begann ich für die „Weltbühne“ zu schreiben, schon damals ein legendäres Stück Publizistik in der Tradition Jacobsohns, Ossietzkys, Tucholskis. Ich machte, etwas leichtfertig gewiß, den Vorschlag, eine satirisch pointierte politische Kolumne einzuführen. Budzislawski, der das Blatt über Prag, Paris durch die Emigration gebracht hatte und aus amerikanischem Exil zurückgekehrt war, ein Mann von enormer publizistischer Erfahrung, lachte mich aus: Glauben Sie, frage er sinngemäß, daß in Moskau irgend jemand sehr erheitert sein wird, wenn er Ihre Interpretationen des Weltgeschehens liest? Natürlich hatte er recht, der alte Zeitungsfuchs; kein Ereignis hätte damals anders als in einer Verlautbarung von TASS kommentiert werden können. Ich blieb trotzdem beim Blatt, schrieb satirisches Feuilleton, Rezensionen, Reiseberichte, und habe nun, nach zwanzig Jahren, endlich doch meine Kolumne. Bleibt nur zu hoffen, daß das Blättchen auch diese unsichere Zeit übersteht.

Wie es überhaupt weitergeht mit Schreiben und Drucken in ostdeutschen Landen, ich bin sehr neugierig darauf. Werden wir uns rasch dem Markt anpassen und unsere größte Chance darin sehen, alles Gewesene schnell zu vergessen? Oder werden wir die Vergangenheit aufarbeiten und so zu verstehen versuchen, wie alles gekommen ist? Literatur hat in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht unwesentlich dazu beigetragen, das Bewußtsein der DDR-Leser zu formen. Wäre es möglich, daß sie, bei einem neuen Ansatz, zur nachträglichen Identitätsfindung beiträgt in einer Zeit, da es die DDR längst nicht mehr gibt? Ich erwarte solche Bücher nicht erst in zwanzig, dreißig Jahren, wie mein Kollege Christoph Hein kürzlich im Österreichischen Rundfunk formuliert hat. Wer lebt, wird sehen, sagen die Franzosen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1990
, Seite 23
Autor/inn/en:

Richard Christ:

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