FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1966 » No. 147
Oskar Kokoschka

Warnung vor der Weltpolizei

Am 1. März wurde Oskar Kokoschka 80 Jahre alt. Aus diesem Anlaß bringen wir nachstehend erstmals in deutscher Übersetzung (von Dr. Otto Graf) Ausschnitte aus einem Aufsatz, den Kokoschka im Jahre 1945 im Londoner Exil verfaßt hat. Der Originaltitel lautet: „A petition from a foreign artist to the righteous people of Great Britain for a secure and present peace. Humbly tendered and signed by Oskar Kokoschka, December 1945“. Der in „Kokoschka Life and Work“ (Edith Hoffmann, London 1947) vollständig veröffentlichte Aufsatz wird demnächst in einer vom Museum des 20. Jahrhunderts vorbereiteten Publikation erscheinen.

In diesem Land fühle ich mich frei, die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft zu stellen. Obwohl diese Frage aus einem Winkel kommt, aus dem man es vielleicht nicht erwartet, möge die Mahnung eines vertriebenen Künstlers vor weiterer Schmälerung der Freiheit, selbst nach dem Sieg, nicht als ganz unbegründet angesehen werden. Die leidende Welt schreit die Wahrheit hinaus, daß die Versuche des Menschen, seinen Weg zurück zur Kultur zu finden, durch Ungewißheit gelähmt sind. Wir werden von hohen Autoritäten gewarnt, denen es ziemlich klar war, daß der landesübliche Gebrauch des Losungswortes „Nationalismus“ die Streitfrage des Befreiungskrieges, die verschiedenen Vorstellungen von Freiheit und Demokratie verwirren mußte. Während des Krieges gab die Idee der Demokratie einer verzweifelnden Welt neue Hoffnung. Heute muß man offen zugeben, daß dem nicht so ist.

Wenn wir jetzt nicht begreifen, daß das Fallen des Vorhanges tiefe geistige Probleme mit sich bringt, begreifen wir auch nicht unsere Aufgabe, ja sie wird auch der Nachwelt dunkel bleiben.

Daß Reformen in einer größtenteils unwilligen Gesellschaft ohne Zerstörung des Gerüstes eben dieser Gesellschaft nicht gelingen können, ist ein Dilemma, dessen Lösung dem demokratischen Politiker (dem es überlassen ist, die Form des kommenden Friedens festzusetzen) entgehen muß, ebenso wie es in diesem Stadium dem Wirtschaftler und dem technischen und militärischen Fachmann verborgen bleibt.

Die Aufgabe des schöpferischen Menschen ist es, erstens zu erkennen und zu benennen, was den Geist des Menschen verfinstert, und zweitens, den Geist zu befreien.

Porträt Egon Wellesz
Oskar Kokoschka, 1910-1912, New York, The Joseph H. Hirshhorn Foundation Inc. Reproduktion aus dem Werk Kristian Sotriffer, Malerei und Plastik in Österreich, Von Makart bis Wotruba, Verlag Anton Schroll & Co., Wien und München.

Als Künstler weiß ich um die augenblickliche Tendenz zur geistigen Konformität, die noch nie so stark vorhanden war wie heute. Diese Tendenz droht die Originalität des individuellen Geistes einzuschränken. Sie führt den Menschen dazu, freiwillig sich ausgedehnten Organisationssystemen zu verschreiben, die ihn zu einer künstlichen, seiner wahren Natur nicht mehr entsprechenden Lebensführung drängen. Der Künstler hat keinen Grund, darüber erstaunt zu sein, daß es keine Kultur gibt, die wie früher eine Epoche trägt, wenn die Handlungen des Menschen aufhören, ein Produkt seines Willens zu sein; aber auch nicht darüber, daß die Vernichtung, die überall dort im Gange ist, wo der schöpferische Geist sich regt, selbst in den finstersten Zeiten nicht übertroffen wurde.

Die Uniformität hat die Phantasie verdorben. Wird es dem Künstler allein überlassen bleiben, den Weg zurück zur Kultur zu suchen, in diesem Labyrinth der Sinnlosigkeit, das die Welt heute darstellt? Weil er aus Berufung für ästhetisches Interesse nicht ganz blind ist, kann man ihn niemals glauben machen, daß disparate Teile in ein harmonisches, und wie es sein sollte, natürliches Ganzes umgeformt werden können.

Prager Hafen
Oskar Kokoschka, 1936, Wien, Österreichische Galerie. Reproduktion aus dem Werk Gerhard Schmidt, Neue Malerei in Österreich, Verlag Brüder Rosenbaum, Wien.

Es ist mehr als ein Zufall, daß das Zeitalter der Mechanisierung mit der makabren Manie des Totentanzes begann. Dann eröffnete der Dreißigjährige Krieg eine Epoche freiwilliger Unterwerfung unter das Schicksal. Der Geist des Menschen war zu reformieren. Das Individuum mit Phantasie, menschlichem Verständnis, Erinnerung, das menschliche Wesen, das sieht, hört, tastet und riecht, wurde dazu verdammt, ein abstrakter Begriff zu werden, eine gespenstische numerische Tatsache, systematisch in wirtschaftliche Karteien eingereiht. Die frühen Kriege des industriellen Wettbewerbs waren der erste erfolgreiche Versuch, der Gesellschaft das Evangelium der politischen Wirtschaftsführung aufzuzwingen, menschlichen Fleiß als das Arbeiten der Nationalen Produktionsmaschine auszugeben.

Selbst in Zeiten finsteren Aberglaubens wich der Mensch nicht so weit vom rechten Pfade ab, daß er vergaß, daß seinen Privilegien Pflichten entsprechen, die eine Gemeinschaft gegenüber der fernen Nachwelt hat. Das Urteil über unsere aufgeblasene Zwergengeneration wird nicht nur den Mangel guter Manieren ankreiden. Wir haben Generationen zur Armut verurteilt. Wir kamen in die Welt wie in ein gastliches Haus. Wir sollten es nicht in schlimmerem Zustande verlassen, als wir es gefunden haben.

Seit der ignorante Rationalist die Furcht vor dem Teufel verloren hat, achtet er kein moralisches Gesetz mehr in der ganzen Welt. Er hält die Erde für sein Eigentum, mit dem er machen kann, was ihm gut dünkt. Da er nichts von der Kunst des Lebens gelernt und keinen Geschmack hat, ist er doch nur ein Bettler auf hohem Roß, verfährt er mit der Welt, wie er will. Er betritt sie hilflos, voller Angst, und verbraucht sie wie eine brennende Zigarette.

Wenn die „Ordnung der Liebe“ total zusammengebrochen ist, folgt eine Weltpolizei als einzig verteidigbare Macht. Wenn der Dienst an der Gesellschaft nicht mehr praktiziert, bekannt oder bezeugt wird, steht es schlimm um das genaue Urteilsvermögen. In einer „reformierten“ Welt, die nur für einen selbst da ist, kommt der Geist natürlicherweise aus dem Gleichgewicht. Der Mensch lebt in der Versuchung, Gespenster für Wirklichkeit zu halten, da er das gesunde geistige Sehen verlor. Arglist und Wahnsinn treiben das zügellose Denken mit rekordbrechender Geschwindigkeit hin zur Katastrophe. Sind nicht mehr und mehr Menschen bereit, ihre eigene Sicherheit durch Zerstörung der übrigen Welt zu erkaufen?

Diese Zwischenphase der Demokratie kann nicht lange dauern. Die scheinbar nützliche Übertragung der „Methode des doppelten Bodens auf die moralische Ebene“ wird folgerichtig mit der Unifizierung der Industriegesellschaft unter einer einzigen Macht aufhören. Wir fallen dem Irrtum der Vereinfachung zum Opfer, wenn wir von Demokratie und Faschismus so sprechen, als ob das Begriffe wären wie Schwarz und Weiß.

Während der ganzen Epoche der Industrialisierung war es eine offenkundige Tatsache, daß das „Wachsen der Unterwürfigkeit des modernen Menschen durch die Furcht bestimmt wurde“. Der bedrängte Geist weiß nicht, wo die Gründe seiner Unzufriedenheit liegen. Der Hauptzweck kontrollierter Massenerziehung liegt in der Vorbereitung auf den Arbeitsplatz in der industriellen Produktion. Aber sie liefert kein solides psychologisches Fundament. Der moderne Mensch erhält keine Chance, sich vernünftig an die Bedingungen seiner Umwelt anzupassen. Die Maschine produziert keine Kultur. Folgerichtig versucht der zum Industrialismus bekehrte Mensch gar nicht mehr den Grund seines Verdrusses zu finden.

Stilleben mit dem toten Hammel
Oskar Kokoschka, 1910, Wien, Österreichische Galerie. Reproduktion aus dem Werk Gerhard Schmidt, Neue Malerei in Österreich, Verlag Brüder Rosenbaum, Wien.

Durch welche ideologischen Subtilitäten sich auch die Demokratie vom Faschismus zu unterscheiden scheint, so wird doch eines klar: auf beiden Seiten der Barrikade ist man bereit, sich dem Zwang zu unterwerfen, der von außen auf der physischen, von innen auf der psychischen Ebene ausgeübt wird. Diese Bereitwilligkeit zum Behaviorismus, d.h. zur Gleichschaltung, wird durch den Verlust der Immunität des Geistes gegen ununterbrochene Schockwirkung herbeigeführt. Das würde erklären, warum totalitäre Herrschaft mittels der loyalen Unterstützung durch die Massen errichtet werden kann. Es genügte, das Gefühl der Furcht auszubeuten, das durch den Lebenskampf in der Industriegesellschaft zur fixen Idee wurde. Wirtschaftliche Ursachen scheinen mit unwiderstehlicher Konsequenz zu funktionieren. Der Geist aber, der die Maschine belebt, muß aus einer tiefen Schichte des Bewußtseins gehoben werden, die man nur durch sehr unklare Sinnesdaten erreichen kann und wo noch der Tagtraum des Stammesmythos lebt. Es ist nicht der Stammesmythos, der das Herdfeuer hegt. Es ist ein unaussprechlicher Albtraum; Gedanke ohne Form, eine mathematische Version von der Art des Schizophrenen, der seine monotonen Kritzeleien macht, um die wüsten Schrecken des Zusammenbruches zu bannen.

Dresden Neustadt II (Blick vom Atelier)
Oskar Kokoschka, 1921, The Detroit Institute of Arts. Reproduktion aus dem Werk Kristian Sotriffer, Malerei und Plastik in Österreich, Von Makart bis Wotruba, Verlag Anton Schroll & Co., Wien und München.

Das bewegliche Gleichgewicht der geistigen Interessen, die lebensformende Kultur geschaffen haben, ist erstarrt. Die Intoleranz der Ideologien, die um die Wirtschaft kreisen, macht es für jeden zu einer Lebensfrage, entschlossen so zu tun, als wäre er unifiziert, als ginge er im Gleichschritt des Fortschritts-Marsches mit. Nur einem Narren kann es entgehen, daß wir stündlich rückwärts statt vorwärts schreiten. Die Propaganda für den Generalplan verwendet die Technik, das Individuum über seine persönliche „raison d’être“ in Zweifel zu setzen. Die kommende Neue Ordnung erfüllt uns mit solcher Ehrfurcht, daß Fragen nach der moralischen Berechtigung ihrer Autorität überflüssig erscheinen, obwohl das politische Glaubensbekenntnis — die revolutionäre Lehre von der Freiheit aller — solche Fragen provoziert.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1966
, Seite 178
Autor/inn/en:

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