FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 131
Paul Hernadi

Von Kapitalisten und Misanthropen

Soziologische Betrachtungen zum Werk G. E. Lessings

Nathan der Weise, der Jude, der Klassische, der Zeitgemäße — sie verdecken oft den Blick auf Nathan den Bürger. Sir William Sampson oder der Oberst Odoardo Galotti, ein Patrizier mit Landgut und kleinadeligem Lebensstil, werden viel häufiger als der Kaufmann Nathan zu den frühen Repräsentanten des dritten Standes auf dem deutschen Theater gezählt. Dabei ließ sich aus den Ländern George Lillos und Denis Diderots mit der Dramaturgie des bürgerlichen Trauerspieles nicht gleich der emanzipierte Bürger nach Deutschland einführen. Die französische Revolution mußte um zwölf Jahre näherrücken, bevor aus der Emilia Galotti eine Luise Millerin wurde. Daher ist die Fülle echt bürgerlicher Elemente im „Nathan“ um so erstaunlicher.

Vergleichen wir einmal Lessings frühere Bühnenwerke mit seinem letzten dramatischen Gedicht. Berufsarbeit und Geldverdienen bleiben außerhalb der Sphäre der drei Trauerspiele „Miss Sara Sampson“ (1755), „Philotas“ (1759) und „Emilia Galotti“ (1772). In drei frühen Lustspielen spielt das Geld immerhin eine wichtige Rolle: Im Einakter „Die Juden“ (1749) verhinderte der Reisende einen Raubüberfall und sollte reich belohnt werden; „Der Freigeist“ (1749) ist völlig verschuldet und bei den Gläubigern auf den wohlwollenden Einfluß seines vermeintlichen Feindes Theophan angewiesen; der Vater des „Jungen Gelehrten“ (1747) wird schon im Rollenverzeichnis als „ein alter Kaufmann“ angeführt, und die Intrige um das Erbe seines Mündels Juliane trägt wesentlich zum Stoff der köstlichen Charakterkarikatur des eingebildeten jungen Pedanten Damis bei. Aber das Geld wird in diesen Stücken bloß ererbt und verschenkt, erschwindelt und verspielt, erheiratet, geschuldet oder komischen Dienern zugeworfen; beruflicher Gelderwerb durch die Hauptpersonen wird nicht einmal angedeutet. Erst im Hintergrund der „Minna von Barnhelm“ (1763) erscheint eine realistischere Ökonomie, die allerdings an typisch vorbürgerliche Formen des Gelderwerbs, wie Sold und Wirtshaus, gebunden bleibt.

Ganz anders im „Nathan dem Weisen“ (1779). Der Anfang des ersten Auftritts exponiert bereits die Tätigkeit des Kaufmannsstandes. Nathan kehrt von einer Geschäftsreise heim und erzählt Daja, daß er, von Babylon nach Jerusalem „seitab bald rechts, bald links“ abbiegend, „gut zweihundert Meilen“ zurücklegte, da er — man beachte den harten Ausdruck — „Schulden einkassieren“ mußte. Seine Ankunft hört Recha im Halbschlaf: „Horch! Horch! Da kommen die Kamele meines Vaters“ (I, 1) und schon am Ende des zweiten Auftrittes mustert ein Muselmann mit neugier’gem Blick die „zwanzig hochbeladenen Kamele“ und ihre reiche Last, „was an edeln Spezereien, an Steinen und an Stoffen, Indien und Persien und Syrien, gar Sina, Kostbares nur gewähren“ (Daja; I, 6). Dem Sultan sagt Nathan: „Ich will sicherlich dich so bedienen, daß ich deiner fernern Kundschaft würdig bleibe ... Du sollst das Beste haben von allem; sollst es um den billigsten Preis haben“ (III, 5). „Eine Menge Beutel“ voll Geld werden als Nathans Darlehen in den Palast des Saladin getragen (IV, 3), und sie stehen am Anfang des nächsten Aktes nach zweimaligem Szenenwechsel wieder auf der Bühne. Nachdem der Sultan den „siebenjährigen Tribut des reichen Nils“ erhalten hat, ruft er gleich dem neugewonnenen Freund zu: „Komm, sag mir, was du brauchst, so recht was Großes zu unternehmen! Denn auch ... ihr Handelsleute könnt des baren Geldes zuviel nie haben“ (Letzter Auftritt).

Freilich hat all dies orientalisch-exotische Dimensionen; desto tiefsinniger ist das Gespräch zwischen Sittah und Saladin. Die Schwester des Sultans erzählt, daß es von Nathan heiße, „er habe Salomons und Davids Gräber erforscht und wisse deren Siegel durch ein mächtiges geheimes Wort zu lösen“. Die kluge Sittah weiß natürlich, daß „seines Reichtums Quelle weit ergiebiger, weit unerschöpflicher“ sei als „so ein Grab voll Mammon“, worauf Saladin bemerkt: „Denn er handelt, wie ich hörte.“ Dies wird von Sittah ausführlich bestätigt:

SITTAH:
Sein Saumtier treibt auf allen Straßen, zieht
Durch alle Wüsten; seine Schiffe liegen
In allen Häfen. Das hat mir wohl eh
AI-Hafi selbst gesagt und voll Entzücken
Hinzugefügt, wie groß, wie edel dieser
Sein Freund anwende, was so klug und emsig
Er zu erwerben für zu klein nicht achte.
(II, 3)

Nathan erwirbt klug und emsig, während wir selbst Diderots „Père de famille“ (1758) nur groß und edel anwenden sehen. Es geht Nathan nichts über Rechas Wohlergehen und doch läßt er sie um den Vater zittern, wenn seine Reisen über Berge, Wüsten und die Ströme Euphrat, Tigris, Jordan führen müssen (I, 2). Obgleich der reiche Mann, der dem Sultan aus der Verlegenheit helfen kann, auf den gefahrvollen Lebenswandel nicht mehr angewiesen wäre, denn nicht einmal ein großes Haus will er führen (außer Daja hören wir nichts von Nathans Bediensteten), und selbst wenn das alte abgebrannt worden wäre, hätte er sich ein bequemeres — und nicht etwa ein prunkvolleres — gebaut (I, 1). Die Analogie zum neuzeitlichen Puritaner, der den Gelderwerb durch Berufsarbeit als gottgewollten Lebenszweck betrachtet und an seiner maßvollen Lebensführung trotz angesammelter Reichtümer festhält, liegt nahe. Diese zwei Aspekte der reformierten (vor allem der calvinistisch reformierten) Besitzauffassung führten aber nach Max Webers religionssoziologischen Forschungen zur „Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang“. (In: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.) Bei Nathans echt kapitalistischer Trennung zwischen dem privaten und dem „Betriebsvermögen“ konnte eine im Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge unangebrachte „Kapitalbildung“ nur durch die immer wieder betonte Spendebereitschaft Nathans (und Saladins) unterbunden werden. Der Bettel wird hier allerdings nicht mehr wie in der mittelalterlichen Ethik glorifiziert; der positive Wertakzent liegt auf dem Bürger, der geben kann, weil er stets aufs neue erwirbt.

Was für Saladin prinzipiell „der Kleinigkeiten kleinste“ (III, 4) ist, „das leidige, verwünschte Geld“ (II, 1), gilt dem idealen Bürger Nathan zwar nicht als Selbstzweck, doch immerhin als ein wichtiges und ernstzunehmendes Mittel. Er möchte den Tempelherrn für Rechas Rettung aus den Flammen reich belohnen, verdankt ständigen Bestechungen das Schweigen Dajas über die Herkunft des Mädchens, erklärt sich bereit, dem Klosterbruder das Gebetbuch, das über die Verwandten der Stieftochter Auskunft geben soll, mit Gold aufzuwiegen. Erst im Anblick von Rechas Tränen, die es ihm „zu trocknen weit angelegener ist“, fragt Nathan den Sultan, der ihm Geld anbietet: „Und warum zuerst von dieser Kleinigkeit?“ (Letzter Auftritt.) Der Saladins Bettlerparadies zugrunde liegende Widerspruch wird politisch wie soziologisch, ja fast ontologisch gedeutet:

DERWISCH:
Es wär nicht Geckerei,
Bei Hunderttausenden die Menschen drücken,
Ausmergeln, plündern, martern, würgen; und
Ein Menschenfreund an einzeln scheinen wollen?
Es wär nicht Geckerei, des Höchsten Milde,
Die sonder Auswahl über Bös’ und Gute
Und Flur und Wüstenei, in Sonnenschein
Und Regen sich verbreitet, nachzuäffen,
Und nicht des Höchsten immer volle Hand
Zu haben? Was? es wär nicht Geckerei ...

Vergeblich ruft ihm Nathan zu: „Genug! hör auf!“ Der von Saladin zum Schatzmeister gemachte Derwisch läßt sich nicht beschwichtigen:

DERWISCH:
Laßt meiner Geckerei
Mich doch nur auch erwähnen! — Was? es wäre
Nicht Geckerei, an solchen Geckereien
Die gute Seite dennoch auszuspüren,
Um Anteil, dieser guten Seite wegen,
An dieser Geckerei zu nehmen? He?
Das nicht?

Darauf läßt sich nur eines sagen:

NATHAN:
Al-Hafi, mache, daß du bald
In deine Wüste wieder kommst. Ich fürchte,
Grad unter Menschen möchtest du ein Mensch
Zu sein verlernen.
(I, 3)

Wir wissen nicht, was für ein Schicksal Lessing im geplanten Nachspiel zum „Nathan“, das „Der Derwisch“ heißen sollte, dieser interessanten Gestalt beschert hätte. Im „Nathan“ steht er konsequenter als der ähnlich veranlagte Klosterbruder für eine Verhaltensweise, die den Dramatiker seit jeher beschäftigte: für den verachtungsvollen Rückzug aus der Gesellschaft. In Molières „Misanthrope“ (1666) stand Lessing dafür bereits vor Rousseaus preisgekröntem zivilisationsfeindlichem Aufsatz (1750) ein Vorbild zur Verfügung; ein Vorbild, dem er in fast jedem seiner Dramen Züge nachgezeichnet und hinzugefügt hat. Eines springt dabei ins Auge. Vor Nathan standen den Lessing’schen Misanthropen durchwegs Gegenspieler — niemals ein Protagonist — gegenüber.

Damis, der junge Gelehrte, verdankt Namen und so manchen Charakterzug dem entstellten Portrait, das Célimène von einem (natürlich abwesenden) Pariser zeichnet („Le Misanthrope“, II, 4). Auch Lessings Damis „veut avoir trop d’esprit“, auch er „veut voir des défauts à tout ce qu’on écrit“ und „regarde en pitié tout ce que chacun dit“. Selbst mit dem Molière’schen Titelhelden hat er einiges gemeinsam, so vor allem die Verachtung seiner Umwelt. Obwohl Damis auf diese Verachtung ein ungleich kleineres Recht hat und dementsprechend ungleich komischer wirkt als der Misanthrope, lassen sich die Worte, mit denen Damis den Valer, diese positivste männliche Figur des Lustspiels, beschimpft, in unserem Zusammenhang besonders aufhorchen. „Er hat sich das Vorurteil in den Kopf setzen lassen, daß man sich vollends durch den Umgang und durch die Kenntnis der Welt geschickt machen müsse, dem Staate nützliche Dienste zu erweisen“ (II, 12). Der junge Gelehrte will nur die „dummen Deutschen“ verlassen und hofft, in Frankreich und England Oasen der Gelehrsamkeit zu finden; der gründlicher enttäuschte Derwisch bricht gleich zu den Oasen der Wüste auf. Im Verhältnis Damis—Valer ist jedoch die Alternative Derwisch—Nathan vorgeprägt, und Lessings nächstem „Menschenfeind“, dem erbitterten Freigeist voller Vorurteile, steht im jungen Geistlichen Theophan, der weltgewandt ist und Kredit hat, ebenfalls tolerante Urbanität gegenüber.

Die tiefere Problematik des Misanthropen zeigt allerdings erst Tellheim. Der Major weigert sich, der „blinden Zärtlichkeit“ eines anderen Menschen das ganze Glück zu verdanken, und bietet die Heirat erst begeistert an, sobald Minna die Unglücklichere zu sein scheint. Das erinnert an den egoistischen Altruismus des Alceste, den dieser vor seiner Célimène nicht einmal verschweigt:

ALCESTE:
Oui, je voudrais qu’aucun ne vous trouvât aimable,
Que vous fussiez réduite en un sort misérable,
Que le Ciel, en naissant, ne vous eût donné rien,
Que vous n’eussiez ni rang, ni naissance, ni bien,
Afin que de mon caur l’éclatant sacrifice
Vous pût d’un pareil sort réparer l’injustice,
Et que j’eusse la joie et la gloire, en ce jour,
De vous voir tenir tout des mains de mon amour.
(IV, 3)

Noch deutlicher weist die große Szene zwischen Tellheim und Minna (IV, 8) den Major mit seinem „schrecklichen Lachen des Menschenhasses“ als einen würdigen Nachfahren des Alceste aus. Wenn er androht: „Eher soll mich hier das äußerste Elend, vor den Augen meiner Verleumder, verzehren ...“, so klingt in den Obertönen jene Genugtuung über die Bosheit der Welt mit, die in der Molière’schen Partitur echt rationalistisch sogar notiert steht: Gerne läßt sich der Misanthrope ein ungerechtes Urteil zwanzigtausend Franken kosten, damit er das Recht hat, „de pester / Contre l’iniquité de la nature humaine, / Et de nourrir pour elle une immortelle haine“ (V, 1).

Tellheims Erbitterung gegen die Umwelt mag immer noch weniger berechtigt sein als jene des Misanthropen. Immerhin darf er — ungleich dem jungen Gelehrten und dem Freigeist — trotz königlicher Rehabilitation auf dem Standpunkt der getrennten Wege beharren und dabei auf unsere Sympathie rechnen. Auch Minna scheint seinen Plan zu bejahen, „in der ganzen ... Welt den stillsten, heitersten, lachendsten Winkel“ auszusuchen, „dem zum Paradiese nichts fehlt als ein glückliches Paar“. Inzwischen lag freilich der halbe Rousseau vor — Lessing hatte bereits im April 1751 dessen damals erst einige Monate alten Zivilisationspessimismus für eine Beilage der „Berlinischen privilegierten Staats- und Gelehrtenzeitung“ scharfsinnig rezensiert —, doch haftet dem hartnäckigen Major ein deutlicher Zug belächelnswerter Misanthropie an.

Lessings Ehrenrettung des Alceste gegen Rousseaus Kritik ist in dieser Hinsicht sehr charakteristisch. Nach Rousseau erweise sich Molière als Feind der Tugend, indem er uns über den ehrlichen Alceste lachen (und den Misanthropen damit verächtlich) mache. „Nicht doch“, erwidert Lessing in der „Hamburgischen Dramaturgie“, „der Misanthrop wird nicht verächtlich, er bleibt, wer er ist, und das Lachen, welches aus den Situationen entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das Geringste.“ Lachen und Verlachen seien eben „weit auseinander“ (St. 28). Mit Lessings Theorie und Praxis der gemischten Charaktere und seiner Ablehnung einer simplifizierenden Schwarz-Weiß-Malerei stimmt auch die Bestimmung des Lächerlichen im „Laokoon“ trefflich überein: „Häßlichkeit ist Unvollkommenheit, und zu dem Lächerlichen wird ein Contrast von Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten erfordert“ (XXIII).

Die Zitate aus den theoretischen Schriften führen nur scheinbar von den Vorformen des Derwisch, dieser Schlüsselgestalt im dramatischen Denken des späten Lessing, weg. Denn der von Lessing ästhetisch bejahte „Contrast von Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten“ ergibt in dem achtungswürdigen Misanthropen Odoardo jenen Schuß von Lächerlichem, den die meisten Deutungen und Inszenierungen der „Emilia Galotti“ von der Perspektive der „Kabale und Liebe“ aus zu eliminieren trachten.

Es liegt kein zureichender Grund vor, den prächtig gemischten Charakter des Obersten Galotti ins Prokrustesbett der Literaturgeschichte für rechtschaffene Bürger zu stecken. Über die wenigen Schritte, die seine Tochter am Morgen ihrer Hochzeit ohne Begleitung zur Kirche gehen durfte, hat er vorwurfsvoll zu bemerken: „Einer ist genug zu einem Fehltritt“ (II, 2). Als er hört, daß sich der Prinz von Emilia entzückt zeigte, denkt er zuerst an die eigene Ehre: „Das gerade wäre der Ort, wo ich am tödlichsten zu verwunden bin“ (II, 4). Zur Rache muß er den Dolch von einer Frau, der Gräfin Orsina, borgen; im Angesicht seiner Feinde fährt er „schnell nach dem Schubsacke“, um die Hand statt mit dem Dolch leer wieder herauszuziehen (V, 5); er drückt der Tochter zum Selbstmord die Waffe in die Hand, um sie ihr wieder zu entreißen, und rafft sich zur Tat erst auf, nachdem Emilia auf den römischen Virginius angespielt und mit dem Ausruf „Solcher Väter gibt es keinen mehr!“ seine Eitelkeit verletzt hat (V, 7). Von einem solchen Vater her läßt sich Emilias verzweifelte Selbstanklage, die als für psychologisch unglaubwürdig gescholten wurde, leichter begreifen. Sie ist der Schrei einer anerzogenen und sich nun gegen das eigene Wesen kehrende Misanthropie. „Verführung ist die wahre Gewalt. — Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut“ (V, 7). Spricht Emilia nicht deutlich genug die Sprache des Vaters, dem „alles verdächtig, alles strafbar“ scheint (II, 5) und der für den Ehrenhüter, der er doch ist, einen merkwürdig langen und mit Erotik voll geladenen Fluch parat hat? (V, 2) Alceste als Junggeselle konnte der Gesellschaft ohne Folgen für die Mitmenschen den Rücken kehren. Wie es dem Ehepaar Tellheim-Minna in ihrem abgelegenen Heim ergangen ist, muß dahingestellt bleiben. Odoardo erzog eine Tochter in seinem Geist; sein Los ist das Los des Menschenfeindes als Familienvater.

Oder sehe ich Gespenster und bevölkere eine klassizistische Dramatik der getrennten Gattungen auf unberechtigte Weise mit tragikomischen Misanthropen? Die sehr persönlich klingende Klage im 21. Stück der „Hamburgischen Dramaturgie“ spricht jedenfalls nicht gegen mich. „Was für ein Eigentumsrecht erhält ein Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, daß er seinen Titel davon hergenommen? Wenn er ihn stillschweigend gebraucht hätte, so würde ich ihn wiederum stillschweigend brauchen dürfen, und niemand würde mich darüber zum Nachahmer machen. Aber so wage es einer einmal, und mache z.B. einen neuen Misanthropen. Wann er auch keinen Zug von dem Molière’schen nimmt, so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Copie heißen. Genug, daß Molière den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat unrecht, daß er fünfzig Jahre später lebet; und daß die Sprache für die unendlichen Varietäten des menschlichen Gemüts nicht auch unendliche Benennungen hat.“

Zu den „unendlichen Varietäten“ des Misanthropen gehört endlich der Derwisch. Sein „endroit écarté / Où d’être homme d’honneur on ait la liberté“ (Le Misanthrope, V, 4) befindet sich am Ganges. Vor seinem Auszug aus der Gesellschaft fragt er Nathan, ob er nicht mitgehen will als hier „der einzige, der noch so würdig wäre, daß er am Ganges lebte“. Der leidgeprüfte Weise zeigt sich nicht grundsätzlich abgeneigt. In Übereinstimmung mit seiner früheren tiefsinnig-grotesken Frage „Entläuft dir denn die Wüste?“ (I, 3) meint er jedenfalls: „Ich dächte zwar, das blieb uns ja noch immer übrig. Doch, Al-Hafi, will ich’s überlegen. Warte ...“ Der Derwisch erwidert: „So was überlegt sich nicht.“ Der Bürger Nathan hat noch mit Staat und Familie zu schaffen: „Nur bis ich von dem Sultan wiederkomme; bis ich Abschied erst ...“ Gerade davon will der Derwisch nichts wissen:

AL-HAFI:
Wer überlegt, der sucht
Bewegungsgründe, nicht zu dürfen. Wer
Sich Knall und Fall, ihm selbst zu leben, nicht
Entschließen kann, der lebet andrer Sklav’
Auf immer.
(II, 9)

Und damit hat er gar nicht einmal unrecht. Nur begreift der Derwisch eben nicht, daß das Sicheinfügen in die Gesellschaft vielleicht eine größere Freiheit der Selbstüberwindung bedeutet als seine Flucht als Misanthrop.

Die frühen Lustspiele Lessings antizipieren bereits Nathans bürgerliches Bildungsideal. Die dogmatische Verallgemeinerung vermeintlicher Erkenntnisse wird im „Freigeist“ wie in den „Juden“ angeprangert. Im „Jungen Gelehrten“ macht sich Lessing über die Pseudogelehrsamkeit des Damis und das Spießertum von dessen Vater gleicherweise lustig. Das Argument des letzteren für die von Damis „philologisch“ widerlegte Auffassung, Xanthippe sei eine böse Frau gewesen, spricht Bände: „Mein Beweis ist das Abc-Buch. Wer so ein Buch hat schreiben können, das so allgemein geworden ist, der muß es gewiß besser verstanden haben als du. Und kurz, mir liegt daran, daß Xanthippe eine böse Frau gewesen ist. Ich könnte mich nicht zufrieden geben, wenn ich meine erste Frau“ — die er immer eine Xanthippe nannte — „so oft sollte gelobt haben“ (III, 4). Statt esoterischer Gelehrsamkeit und emotionell beherrschter Banausie ist Bildung für Valer — wir lernten ihn als Wortführer der „Kenntnis der Welt“ und der „dem Staate nützlichen Dienste“ kennen — ein Prozeß. Er sagte: „Ich würde den für meinen Feind halten, welcher mir den Vorzug, täglich zu mehrerem Verstande zu kommen, streitig machen wollte“ (III, 7). Wenn die Kammerjungfer Lisette von diesem Valer einmal sagt, er sei ein Kapitalist (III, 1), mag das noch einfach den zahlungskräftigen Mann bedeuten. Bei Nathan ist es völlig klar, daß er seine Sprach- und Menschenkenntnis dem bürgerlichen Beruf eines reisenden Kaufmanns verdankt. „Mein Vater liebt die kalte Buchgelehrsamkeit, die sich mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt, zu wenig“ (V, 6), sagt Recha, der Nathan den „Samen der Vernunft“ in die Seele streute (III, 1), ohne ihr das Lesen richtig beizubringen. Wie Valer im Gegensatz zu Damis und dessen geschwätzigem Vater, prahlt auch Nathan niemals mit seinem Wissen. Saladin muß über ihn sagen: „Des Menschen wahre Vorteile ... hast du zu kennen wenigstens gesucht; hast drüber nachgedacht: das auch allein macht schon den Weisen“ (III, 5). Für den ehrlich Suchenden dürfen die letzten Fragen bis zum Ablauf der „tausend tausend Jahre“ der Ringparabel offenbleiben. Lessing schrieb einige Monate vor der Vollendung des „Nathan“: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ‚Wähle!‘ ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ‚Vater, gib! Die reine Wahrheit ist doch nur für Dich allein.“‘(In: „Eine Duplik“, 1778.) Was läßt sich aber einem Sultan antworten, der die Wahrheit über die Religionen und deren Stifter fordert — „so bar, so blank, als ob die Wahrheit Münze wäre?“ Der Bürger Nathan setzt „Leib und Leben, Gut und Blut“ für die Wahrheit aufs Spiel nur, „wanns nötig ist und nutzt“; er weiß von Fällen, in denen „getäuscht zu werden uns heilsamer“ sein kann als mit der Wahrheit eines anderen konfrontiert zu werden, denn die Wahrheit kann nicht „wie Geld in Sack“ in den Kopf eingestrichen werden. Zumal vermutet er richtig, daß ihm Saladin die Frage ursprünglich als eine Falle stellt. Da kommt der rettende Einfall („Nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab“): das „Geschichtchen“ von den drei Ringen. Mit ihm wird die Frage nach der wahren Religion freilich eher umgangen als beantwortet; statt deren Beantwortung werden, wie Heinz Politzer schreibt, „der Menschenwelt der bürgerlichen Aufklärung die Maximen der Humanität empfohlen: Sanftmut, herzliche Verträglichkeit, Wohltun und innigste Ergebenheit in Gott“ (in: „The German Quarterly“ Mai 1958). Philosophisch gesprochen: „Das Wahrheitsproblem der Religionen ist dem Verfügungsbereich der theoretischen Vernunft entzogen und der praktischen Vernunft zur Entscheidung vorgelegt ... Die sittliche Praxis wird zum Kriterium der Beantwortung der Frage nach der wahren Religion“ (Günter Rohrmoser, in: „Das deutsche Drama“, Hg. B. v. Wiese, 1958).

Allerdings läßt Nathan die „theoretische“ Erzählung von den drei Ringen „praktisch“ nicht bloß ausklingen. War ihr wichtigstes Motiv schon von vornherein a-feudal gewesen — der ursprüngliche Ring sollte nicht dem ältesten, sondern dem geliebtesten Sohn zufallen —, so drückte Lessing der Parabel seiner Hauptquelle (Boccaccio I, 3) einen bürgerlichen Stempel auf. Nathans Ring (das heißt: die „wahre“ Religion) vermochte „vor Gott und Menschen angenehm zu machen (1), wer in dieser Zuversicht ihn trug (2)“. Diese zwei neuen Motive legen nicht nur die Aufforderung des Richters zur toleranten Bewährung nahe. („Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen.“) Sie deuten über die Aufklärungsphilosophie hinaus auf jene Züge der protestantischen Ethik hin, die Max Weber mit dem Geist und der Entstehung des modernen Kapitalismus in Verbindung brachte. Diese Ethik wertet — freilich mit Anlehnung an das Alte Testament — das legale Vorwärtskommen in der Welt und selbst die guten Werke als Zeichen der Gnade (1), die unerschütterliche Zuversicht des Auserwählten auf seinen Gnadenstand aber als Pflicht (2).

Die weitgehende Übereinstimmung von Max Webers „protestantischer Ethik“ mit der Denk- und Lebensweise Nathans zeugt freilich noch deutlicher von dessen Bürgerlichkeit, wenn Webers Kritiker recht haben und die für Webers Untersuchungen ausschlaggebende zweite Phase des Calvinismus ihrerseits vom „Geist des Kapitalismus“ stark beeinflußt wurde. Wie dem auch sei, hier grenzen wir an das soziologisch nicht mehr Auslotbare. Die Tiefe Nathans und seines Glaubens ist die Tiefe des Abgrundes, den die rasenden Christen, die seine Frau mit sieben hoffnungsvollen Söhnen ermordeten, in seinem Leben aufgerissen hatten und den die Vernunft „mit sanfter Stimme“ ihm überbrücken half (IV, 7). Daß er sich, statt andächtig zu schwärmen, gut zu handeln entschloß (I, 2), daß er das Christenmädchen aufnahm und als eigene Tochter erzog, daß er zu seinem Beruf zurückkehrte und ihn nach Kräften weiter ausübte — all das brachte Nathan auf die Bahn kleiner bürgerlicher Kompromisse. Unentwegt muß er Dajas bestechen, ab und zu einen Saladin mit Märchen abspeisen. Wir ahnen, daß er dem in die Wüste jagenden Derwisch nicht ganz ohne Neid nachlächelt: „Der wahre Bettler ist doch einzig und allein der wahre König“ (II, 9). Trotzdem bleibt Nathan unter den Menschen, und seine Alltagskompromisse des Bürgers erhalten von dem großen, Nathans Leben neu begründenden „Kompromiß“ eine unanfechtbare Würde. Seine Versöhnung mit Gott, mit dem er „gerechtet“, mit der Welt, die er „verwünscht“, und mit der Christenheit, der er „Haß zugeschworen“ hat (IV, 7), befestigt Nathan in seinem Bürgertum, indem sie ihn darüber erhebt.

FORVM des FORVMs

Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1964
, Seite 560
Autor/inn/en:

Paul Hernadi: Aus Ungarn gebürtig, ist ein junger Wiener Theaterwissenschaftler, der sich vor allem mit den Problemen der europäischen Nachkriegsdramatik befaßt. Er arbeitet gegenwärtig an einer umfangreichen Studie, mit der er diese Dramatik in den größeren Zusammenhang der europäischen Philosophie und allgemeinen Geistesgeschichte einordnen will.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags

Begriffsinventar

Personen