FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1967 » No. 167-168
Walter Strolz

Vom Ungenügen der Wissenschaft

Der nachfolgende Text wurde als Vortrag „Die Frage nach der ursprünglichen Einheit der Wissenschaften innerhalb der Ganzheit des Menschen“ an der Universität Zagreb gesprochen.

Wir versuchen fürs erste, durch eine Erläuterung der Frage selbst einen Schritt näher an die Sache heranzukommen, die uns an-geht und beansprucht. Gefragt wird nach der Einheit der Wissenschaften und nicht nach der einen Wissenschaft, die Vor- und Leitbild, einziger Maßstab und Ausrichtungspunkt für alle Wissenschaften sein könnte. Diese Wissenschaft schlechthin und rein an und für sich gibt es nicht, sondern die Wissenschaft begegnet uns immer schon als jeweils so oder so sachlich und geschichtlich bedingte.

Wissenschaft ist insofern immer auch geschichtlich bedingt, als sie einen ganz bestimmten, unverwechselbaren, geschichtlich zeitlichen Entstehungsort hat, der seinerseits wieder eingebettet und eingefügt ist in größere, der Wissenschaft vorausgehende und sie von Anfang an übergreifende Zusammenhänge des menschlichen Daseins. Z.B. ist die Entstehung der Naturwissenschaft, wie sie zum erstenmal in der neuzeitlichen Form, d.h. in ihrem streng mathematischen Charakter und Entwurf bei Galilei und Newton hervortritt, nicht ohne die Auflösung des mittelalterlichen Weltbildes, nicht ohne den Ausbruch des Menschen aus der kirchlich-theologischen Umklammerung des Selbstseins denkbar. Hegel hat diesen Vorgang der Freisetzung des Menschen zu einem neuen Selbstgefühl in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ gekennzeichnet:

Die Menschheit hat das Gefühl, der wirklichen Versöhnung des Geistes in ihm selbst und ein gutes Gewissen in ihrer Wirklichkeit, in der Weltlichkeit, erlangt. Der Menschengeist hat sich auf seine Füße gestellt. In diesem erlangten Selbstgefühle des Menschen liegt nicht eine Empörung gegen das Göttliche, sondern es zeigt sich darin die bessere Subjektivität, welche das Göttliche in sich empfindet, die vom Echten durchzogen ist, und die ihre Tätigkeit auf allgemeine Zwecke der Vernünftigkeit und der Schönheit richtet. [1]

Wenn also die Frage nach der ursprünglichen Einheit der Wissenschaften von einer oder der Wissenschaft an sich nicht beantwortet werden kann, weil es sie faktisch nicht gibt, so müssen wir noch schärfer nach dem möglichen Sinn des Leitwortes „Einheit“ fragen. Ist denn unsere Frage überhaupt noch eine wissenschaftliche oder ist sie schon ein Mißverständnis der Sache selbst? So wäre es, wenn wir die Meinung hätten, unsere Frage müsse sich nach wissenschaftlichen Methoden und Gesichtspunkten beantworten lassen, was voraussetzte, daß man das Wissen der Wissenschaft zum Maßstab für eine Frage nimmt, die von allem wissenschaftlich bestimmten und begrenzten Fragen fundamental zu unterscheiden ist.

Wir stehen mit unserer Frage in der Tat außerhalb der Wissenschaften, und so können wir mit Heidegger formulieren: „Das Wissen, das unsere Frage anstrebt, ist nicht besser und nicht schlechter — sondern ganz anders, anders als die Wissenschaft, aber auch anders als das, was man ‚Weltanschauung‘ nennt.“ [2]

Diese Frage ist aber auch als Frage nicht eine beliebig ausgewählte, sondern sie entspringt der Not unserer geschichtlichen Situation, die Heidegger schon 1929 in seiner Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ hinsichtlich unseres Themas ausgesprochen hat:

Die Gebiete der Wissenschaften liegen weit auseinander. Die Behandlungsart ihrer Gegenstände ist grundverschieden. Diese zerfallene Vielfältigkeit von Disziplinen wird heute nur noch durch die technische Organisation von Universitäten und Fakultäten zusammen- und durch die praktische Zwecksetzung der Fächer in einer Bedeutung gehalten. Dagegen ist die Verwurzelung der Wissenschaften in ihrem Wesensgrund abgestorben. [3]

Natur und Geist

Die Frage verweist uns zurück auf den Menschen, der Wissenschaft treibt, solches aber nur vermag, weil er denken und sich so auch wissenschaftlich betätigen kann. Vermutlich finden wir den Einstieg für die Entfaltung der gestellten Thematik dadurch, daß wir zunächst fragen, durch welche Leitgedanken und Entscheidungen es zur heutigen Vielfalt der Wissenschaften gekommen ist. Die Frage lautet: Welcher Grundzug bestimmt die Wissenschaften, welches ihnen vorausgehende und sie erst ermöglichende Erkenntnisprinzip liegt ihnen zugrunde und seit wann?

Man hat sich schon allzulange daran gewöhnt, die Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften einzuteilen. Das ist ein enthüllendes, aber ebenso auch ein verbergendes Prinzip, denn nach ihm sieht es so aus, als ob wir das, was wir selber sind und schaffen und das, was wir als Menschen nicht sind, in „Natur“ und „Geist“ aufteilen könnten. Die Wissenschaften können zwar dergestalt voneinander abgegrenzt und unterschieden werden. Doch tritt dadurch ihr Wesen nicht hervor. Das heißt konkreter: aus der Erfahrung der Einheit und Ganzheit des Menschen gedacht, ist es — immer und überall unabhängig davon, auf welches Gegenstandsgebiet sich von Fall zu Fall die wissenschaftliche Bemühung richtet — der Mensch, der Wissenschaft treibt.

Die der Tradition der Metaphysik entstammende Unterscheidung von „Natur“ und „Geist“ ist demgegenüber eine Bestimmung zweiten Ranges, die es allerdings erst möglich gemacht hat, den unsinnigen, heute aufgegebenen Begriff einer „reinen Naturwissenschaft“ zu bilden. Die große Frage ist dabei für alle Wissenschaften, in welcher Grundhaltung sie jeweils ein Gebiet erforschen. Für diesen Vorrang des Menschen in wissenschaftlichen Fragen und für die typisch neuzeitliche Denkungsart gibt uns Kant ein großes Beispiel in der Vorrede zur 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“. Er bezieht sich dort auf die Experimente von Galilei, Toricelli und Stahl und sagt dann, daß

die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt, daß sie mit Principien ihrer Urtheile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nöthigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem nothwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Principien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde. Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war.

In diesem Test Kants wird die hervorragende Rolle des Menschen für die Grundlegung und Grundhaltung der neuzeitlichen Naturwissenschaft dem nichtmenschlichen Seienden gegenüber sichtbar. Sie ist alles andere als selbstverständlich, wenn wir bedenken, daß z.B. Johannes Kepler seine Bestimmung noch darin sah, mit dem Psalmisten Gottes Größe und Erhabenheit in der Natur, die das Weltall erfüllende und durchwaltende Harmonie zu preisen, ohne an eine naturwissenschaftlich-technische Auswertung des Erkannten zu gehen. Bei ihm bleibt jede Einzelentdeckung immer auf die Einheit des göttlichen Planes bezogen.

Vor Kant ist es Descartes gewesen, der in seiner „Abhandlung über die Methode“ den „mathematischen Wissenschaften wegen der Sicherheit und Klarheit ihrer Gründe“ am meisten zutraut. Das Denken Descartes’ ist eine entscheidende Station auf dem Weg der Bestimmung und Auslegung des Menschseins nur durch es selbst und nichts anderes. Wir haben schon angedeutet, daß dieser Umbruch im Denken mit dem Akt der Befreiung des Menschen von der Theozentrik des mittelalterlichen Weltbildes zusammenhängt. Was sich schon in Leonardo da Vinci, Francis Bacon, Nikolaus von Cues abzuzeichnen begann, setzte sich als Grundtendenz im Denken von Descartes, Leibniz und Newton durch.

Die Zukehr des Menschen zu sich selbst und zur Welt ließ in rascher Folge neue Wissenschaften entstehen: Jetzt fängt der Mensch an, von sich selbst her Gesetze und Prinzipien zu entwerfen, die es ihm gestatten, Experimente anzusetzen, um das Seiende in seiner vorgegebenen Vielfalt zu erforschen und zu vermessen. Nun werden die Dinge vom erkennenden Subjekt aus als Objekte, als Gegen-stände begriffen, die man beobachten, berechnen, begründen oder verarbeiten kann, und was dabei herauskommt ist der durch die neuen Methoden erreichte Boden der Tat-sachen im strengen Sinn des Wortes, d.h., das so Erkannte ist Arbeit und Leistung, Tat und Werk des Menschen, ein Zeichen seines herrscherlichen Setzungsvermögens und seiner gebieterischen Umsicht.

Hegel hat, indem er das Selbstbewußtsein zum absoluten Prinzip des Denkens erhob und die Philosophie zur Wissenschaft von der Subjektivität als absolutem Moment im Geschichtsgang machte, jenes denkerische Leitwort ausgegeben, das für die neuzeitliche Entfaltung der Wissenschaften maß-gebend geworden ist. Am 22. Oktober 1818 sagte er bei der Eröffnung seiner Vorlesungen an der Universität Berlin:

Der Mut der Wahrheit, Glauben an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung des philosophischen Studiums, der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig achten. Von der Größe und Macht des Geistes kann er nicht groß genug denken, das verschlos sene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte, es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genuß bringen.

Ohne dieses Pathos der Selbst-erkenntnis und Selbst-gewißheit gäbe es die heutige ständig noch wachsende Vielfalt der Wissenschaft überhaupt nicht. Erst die „Revolution der Denkungsart“, um noch einmal das Wort Kants aufzunehmen, schuf die Voraussetzungen für das, was heute auf dem Gebiet der Wissenschaft geschieht. Aber welche philosophische Vorentscheidung hat der Mensch gefällt, um gerade in dieser Haltung gegenüber dem Seienden, das er selber ist und das er nicht ist, Wissenschaft zu treiben? Oder anders gefragt: Ist es dem Menschen als Wissenschaftler allein überlassen, was er erforscht und wie er es tut? Oder kommen im menschlichen Wissenwollen nichtwissenschaftliche Momente ins Spiel, ohne deren Berücksichtigung wir die hier zu erörternde Frage gar nicht sachgemäß weiterverfolgen können?

Sein und Wissenschaft

So wahr es ist, daß die moderne Abgrenzung der Sachbereiche der einzelnen Wissenschaften geschichtlich durch die Grundstellung der neuzeitlichen Metaphysik, durch ihre anthropozentrische Kehre und durch damit zusammenhängende gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Umwälzungen und Vorgänge bedingt ist, so gilt es doch anderseits, zunächst einmal daran zu erinnern, daß der Mensch vor dem Zeitalter der Wissenschaften schon von jeher den Dingen der Welt in vielfältiger Weise begegnet ist. Das heißt näherhin, das Seiende, das der Mensch nicht ist, die Natur im weitesten Sinne, hat sich immer schon in der Unterscheidung von Erde und Himmel, Finsternis und Licht, Wasser und Land, Gewächs und Getier, im Rhythmus der Jahreszeiten ihm eröffnet und zugesprochen.

Die Natur hat sich dem Menschen als von sich her aufgehende gezeigt im lautlosen Zug der Wolken über den Bergen, in Bäumen und Blumen, im Morgengesang der Vögel wie im samentragenden Wind, aber auch in plötzlichen Wetterstürzen und in Katastrophen, die durch Sturmfluten, Dürre und Feuer entfesselt wurden. Und der Mensch als ein Seiendes, das sich von all dem an-gesprochen weiß und sich zu ihm verhalten kann, war schon seit Jahrtausenden auch ohne Wissenschaft jenes Wesen, das sich selbst im Modus des Unterschiedes zur Natur in einer Welt auf-hält, in der es Sprache, Kunst, Religion, Säen und Ernten, Gesundheit und Krankheit, Hoffnung und Angst, Wahrheit und Irrtum, Zerfall und Erneuerung gibt und sich unausweichlich die Frage nach dem Sinn des Seienden im Ganzen in der unterschiedenen Einheit von Natur und Welt von Zeitalter zu Zeitalter in je anderer Sprache erhebt. Demzufolge setzt nicht der Mensch die Vielheit der Dinge und Beziehungen, die es in Natur und Welt gibt, sondern er wird durch sie be-troffen und er-fährt sie, indem er als Mensch sich immer schon bei ihnen aufhält und geschichtlich existierend unterwegs bleibt.

Das Faktum also, daß es verschiedene Wissenschaften gibt, gründet primär nicht in den mannigfaltigen Bezügen des menschlichen Wissenwollens, obwohl das selbstverständlich auch mitspricht und z.B. das ungeheure Wachstum der Menschheit in unserer Zeit Fragestellungen aufwirft, für die in einer früheren Epoche der Geschichte jeder Anhaltspunkt fehlte. [4] Ferner ist zu bedenken, daß gerade mit dieser Entwicklung neue gesellschaftliche Institutionen und Organisationen entstehen, um die sich auch verschiedene schon bestehende oder erst zu schaffende Wissenschaftszweige (etwa für Verkehrsplanung und Marktanalyse) kümmern müssen oder für deren Aufbau und Forschungsweg bestimmte Wissenschaften selbst verantwortlich sind (Atom- und Raumfahrtforschung).

Doch all dem zuvor muß sich für den Menschen, der die Erde sprechend-verstehend bewohnt, das Seiende von sich her schon als vielfältig Seiendes zur Ansprechung gezeigt und darin auch für eine wissenschaftliche Erfahrung eröffnet haben. Aber in die Lage, solches Wissen zu empfangen, wird der Mensch doch wiederum nicht durch die gleichsam bloß vor ihm unübersehbar ausgebreitete Fülle des Seienden gebracht, sondern vielmehr durch die staunend-fragende Dynamik seines Denkens, die sich im Wort, in der Sprache vollzieht.

Dem Menschen können sich die Dinge der Natur und die Ereignisse seiner Geschichte für ein verstehendes Erkennen und darin auch für das Wissen der Wissenschaft zeigen, weil er von seiner Seinsverfassung her zuinnerst ein sprechendes, Sinn und Bedeutung vernehmen könnendes und so allererst ein Wesen ist, zu dessen Berufung auch das Ent-decken und Er-finden, das Be-grenzen und das Überschreiten von Grenzen im Sinne der Wissenschaften gehört. In dieser existential-ontologischen Verwurzelung des Menschseins in der Sprache kündigt sich der Ort der ursprünglichen Einheit der Wissenschaft an, der sich jeder Beschreibung in wissenschaftlicher Weise entzieht.

Warum verhält es sich so? Die Wissenschaften grenzen sich gegenständlich voneinander ab. In der Physik geht der Physiker in dem Bestreben an die Natur heran, in ihr berechenbare Verhältnisse und Bezüge festzustellen. Damit ein solcher Schritt überhaupt getan werden kann, ist es notwendig, sich im vorhinein klarzuwerden, was man erkennen will und wie dies geschehen soll. Das Gegenstandsgebiet der Physik wird demzufolge von vornherein durch eine bestimmte Methode, eine Hypothese oder eine Theorie, die durch ein Experiment verifiziert werden soll, in den Blick genommen. Erst von hier aus, also von einer Vor-entscheidung her, die das Gebiet der Physik erst als ein solches von anderen Wissensfeldern abgrenzt und als ein eigenes konstituiert, ist es möglich, theoretisch-wissenschaftlich einen Begründungszusammenhang zu suchen, ihn in mathematischen Gesetzen und Formeln festzuhalten und dergestalt die Möglichkeit der wiederholenden Nachprüfbarkeit zu schaffen.

Dieses rechnerische Vorgehen ist für die Physik auch nach ihrem Umbruch von der klassischen zur Atomphysik maßgebend geblieben, obwohl hier die gesetzhafte Beobachtung der sogenannten leblosen Natur nur noch statistischen Charakter trägt. Die auf mathematische Weise befragte Natur aber ist nicht die Natur schlechthin, sondern nur die durch die Wissensbewegung des physikalischen Forschens gestellte Natur, die sich der physikalischen Erforschung und Begründung zeigt.

Physis und Physik

Die Physik selbst bleibt jedoch in jedem Stadium auf die immer schon vor jeder theoretischen Bearbeitung und Berechnung von sich her anwesende Natur angewiesen. Von dieser unübersteigbar waltenden Anfänglichkeit her hat sie sich immer schon dem Zugriff einer endgültigen und durchgängigen, allgemeinen Bestimmung und Gesetzlichkeit, wie sie die Physiker suchen, entzogen.

Die Natur ist in ihrer Gegenständigkeit für die moderne Naturwissenschaft nur eine Art, wie das Anwesende, das von alters her ‚physis‘ genannt wird, sich offenbart und der wissenschaftlichen Bearbeitung stellt. Auch wenn das Gegenstandsgebiet der Physik in sich einheitlich und geschlossen ist, kann diese Gegenständigkeit niemals die Wesensfülle der Natur einkreisen. Das wissenschaftliche Vorstellen vermag das Wesen der Natur nie zu umstellen, weil die Gegenständigkeit der Natur zum voraus nur eine Weise ist, in der sich die Natur herausstellt. Die Natur bleibt so für die Wissenschaft der Physik das Unumgängliche. [5]

Ähnlich verhält es sich mit der Abgrenzung des Bereiches der Biologie von dem der Physik. Jede Biologie als Wissenschaft vermag sich aus sich selbst nicht zu begründen. Daß sie nämlich überhaupt in die Lage kommt, die Erscheinungen des Lebens im Unterschied zur „leblosen Natur“ zu untersuchen, setzt ein ursprüngliches, nicht vom Menschen hergestelltes, sondern für ihn antreffbares Offenkundigsein der Natur in der Unterscheidung von Gestein, Gewächs und Getier voraus.

Und diese uns von der anwesenden Natur her immer schon gewährte, „natürliche“ Voraus-gabe gelangt ihrerseits erst im Licht des menschlichen Seinsverständnisses in den Horizont des Seienden im Ganzen; erst im vernehmenden Verstehen des Menschen ist Lebendiges von Nichtlebendigem unterscheidbar. Der Wesensbereich also, in dem sich die Biologie bewegt, kann von der Biologie als Wissenschaft nie gesetzt und begründet, sondern immer nur als schon vorausgegeben empfangen und übernommen werden.

Dieser scheidend-verbindende, mit wissenschaftlichen Denkformen und Verfahrensweisen grundsätzlich nicht erhellbare Bezug bestimmt jede Wissenschaft. So, um ein drittes Beispiel aus den sogenannten „Geisteswissenschaften“ zu nennen, auch die Geschichtswissenschaft. Sie behandelt die Zeugnisse der politischen, der Wirtschafts-, Sozial-, Kultur-, Literatur- und Religionsgeschichte; sie kommentiert die Ereignisse und Vorgänge der verschiedenen Epochen der Menschheit, sie arbeitet mit Leitbegriffen wie Vor- und Frühgeschichte, Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Dabei stehen ihr für die Erschließung der „historischen Quellen“ und die Erkenntnis dessen, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Ranke), eine ganze Reihe von Hilfswissenschaften, wie Archäologie, Numismatik, Paläographie, Kunstgeschichte usw., zur Verfügung. Der Historiker aber sieht sich, obwohl er sich ex professo mit Geschichte beschäftigt, außerstande, zu sagen, was das Wesen der Geschichte ist.

Das historische Feststellen und Betrachten ruft die Geschichte nicht erst hervor, und das in der Art der Geschichtswissenschaft Vorgestellte verhüllt gerade das Eigentümliche der Geschichte, nämlich das unauflösliche Verhältnis und Ineinanderspiel zwischen dem Geschehen der Geschichte und jenen Dingen, die veranlassen, daß Geschichte im Unterschied zur Natur im Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit überhaupt möglich ist. Demgemäß liegt die Geschichte allen Theorien der Wissenschaft „über“ sie unüberspringbar voraus, und die Geschichtswissenschaft ist selbst in dem, was sie zu erkennen sucht und wie sie es tut, an eine ganz bestimmte, jeweilige Auslegung des Seienden im Ganzen gebunden, wie schon ein Blick auf die Verschiedenartigkeit der Geschichtsschreibung bei Hesiod, Thukydides, Livius oder bei einem modernen Historiker wie Ranke oder Toynbee zeigt.

Wir müssen innehalten und uns fragen, wo wir stehen. Die Wissenschaften haben, welchen Gegenstandsbereich sie auch immer erforschen und bearbeiten, sich in ihrem Wesenszug als vorläufig erwiesen. Die Wissenschaften sind auf das Begreifen und Erklären festgelegt. Je mehr aber der Wissenschaft treibende Mensch durch sie begreift, berechnet und beurteilt, um so größer ist auch die Gefahr, das Unbegreifbare und Unverfügbare aus dem Blick zu verlieren, das allem Bestimmen-, Erklären,- Begründen- und Beweisenwollen ursprünglich und unaufhebbar vorangeht.

Dies gilt selbst für die Gestalt des „absoluten Wissens“ im Sinn der Hegel’schen Dialektik des Geistes, denn die Urmöglichkeit zu fragen ist, daß überhaupt etwas ist, nach dem gefragt werden kann, und nicht Nichts. An dieser unausdenkbaren Unmittelbarkeit des Faktums, daß Seiendes ist, wird jeder Versuch, dieses zu begründen, zuschanden. Daß einzig der Mensch von diesem Sachverhalt betroffen wird, macht ihn zu einem Wesen des fragenden Staunens.

Ist also doch der Mensch — in der ganzen Breite seiner Möglichkeiten, zu fragen und ihm Widerfahrenes auszusprechen — der gesuchte Ort der Einheit der Wissenschaften? Er ist es in einem zweifachen Sinn: Ohne den denkenden Menschen gäbe es keine Wissenschaft, vermag doch er allein allem, was es gibt, in seiner von ihm selbst her aufgehenden Vielfalt fragend und wissenwollend gegenüberzutreten.

Wissenschaft und Gewißheit

Wie aber steht es mit der Bedingung der Möglichkeit dieses Fragens selbst? Warum ist es überhaupt ein Fragen und nicht von vornherein unanfechtbare, ruhegebende Gewißheit? Ist der Mensch als Fragenmüssender nicht zugleich selbst in Frage gestellt, weil er immer wieder neu fragen muß und nicht ein für allemal fraglos da sein kann und die Sterblichkeit schließlich das Menschsein im Ganzen radikal und unausweichlich begrenzt? Was ergibt sich aus dieser entscheidenden Einsicht für unser Problem?

Schon durch die wenigstens in einem ersten Aufriß gegebene Explikation der Frage nach der Herkunft der Vielfalt der Wissenschaften, wie sie uns in der modernen Welt begegnet, wurde offenkundig, daß eine neue philosophische Grundstimmung notwendig war, damit die Wissenschaften in ihrer spezifischen Erkenntnis- und Arbeitsweise, mit ihrem Seinsverständnis und mit ihrer Methodik überhaupt sich bilden und zu geschichtlicher Wirkung gelangen konnten. Diese für die neuzeitliche Geschichte höchst folgenreiche Wendung des Denkens nannten wir die anthropozentrische Kehre der Metaphysik. Sie hat ihren Höhepunkt in der spekulativen Dialektik Hegels erreicht.

Die Frage nach dem Sinn

Anderseits hat uns die Besinnung auf die unumgänglichen Voraussetzungen der Wissenschaft gerade zur Einsicht kommen lassen, daß das wissenschaftlich bestimmte Denken seine eigene Möglichkeitsbedingung nicht bestimmen und begreifen kann. Dies nicht nur vorläufig, als ob durch weitere Experimente auf den verschiedensten Gebieten und durch neue Methoden dieses Ziel einmal erreicht werden könnte, sondern grundsätzlich und für immer. Natur, Welt, Sprache und Geschichte in ihrer Jeweiligkeit sind Urgegebenheiten für jegliche Wissenschaft. Sie verdichten sich in der Einheit des Menschseins, auf die wir nun gestoßen sind, um alsbald auch in uns selbst Fragwürdiges und Rätselvolles von einem ganz anderen Ausmaß als in den Wissenschaften zu erfahren.

Soll das nun bedeuten, daß es nach der Erkenntnis der wissenschaftlich nicht vorhandenen Einheit der Wissenschaften auch mit dem, der Wissenschaft treibt und von einem gewissen Punkt der geschichtlichen Entfaltung seiner Selbstauslegung an auch treiben muß, nämlich mit dem Menschen, nicht anders steht? Kommt dadurch nicht die Sinnfrage mächtig ins Spiel: daß der Mensch nur so lange Wissenschaft treiben kann, als er lebt und also zu fragen ist, welchen Sinn das Menschsein und darin auch die Wissenschaft letztlich hat?

[1Reclam-Ausgabe, S. 549.

[2Die Frage nach dem Ding / Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Tübingen 1962, S. 8.

[3Was ist Metaphysik? Frankfurt 6 1951, S. 22.

[4Dieser und die folgenden Absätze wurden aus dem Beitrag des Verfassers „Die Frage nach der ursprünglichen Einheit der Wissenschaften“ in dem von ihm herausgegebenen Sammelwerk „Experiment und Erfahrung in Wissenschaft und Kunst“, Freiburg 1963, übernommen (S. 315-317).

[5Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, in: Vorträge und Aufsätze, Pfeillingen 1954, S. 62.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1967
, Seite 832
Autor/inn/en:

Walter Strolz: Jahrgang 1927, gebürtig aus Vorarlberg, Lektor bei Herder, hat sich durch seine beiden Bände „Menschsein als Gottesfrage“ und „Widerspruch und Hoffnung des Daseins“ mit einem Sprung in die vordere Reihe der jüngeren deutschen Philosophie begeben.

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