FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 131
Tibor Déry • Mirza von Schüching (Übersetzung)

Über die Annehmlichkeiten der Zivilisation (I)

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des S. Fischer-Verlages drucken wir nachfolgend ein Kapitel aus dem Roman „Herr G. A. in X.“, welcher auf deutsch noch nicht vorliegt. Tibor Déry, zu dessen siebzigstem Geburtstag wir herzlich gratulieren, gibt uns dazu die folgende Erläuterung: „Herr G. A. hielt sich längere Zeit in X., der Hauptstadt eines unbekannten Kontinents auf, wo er die eigentümlichen Sitten der Eingeborenen studierte und zu Papier brachte. Er hielt in der Stadt auch einige Vorträge, wahrscheinlich in der Annahme, seine Zuhörer von den Wohltaten der Zivilisation zu überzeugen. Dies scheint ihm nicht ganz gelungen zu sein.

G. A. beugte sich im Schaukelstuhl vor und blickte aufmerksam in dem geräumigen Keller umher, der auch diesmal gedrängt voll war. Einen Augenblick lang dünkte es ihn, er höre Fliegensummen. Es war still, das Gesumm zerrann in der dichten Dunkelheit, dann verhärtete es sich von neuem, kreiste hinter seinem Nacken und wurde nach einer Weile wieder von der Stille aufgesaugt. Zu Hause in Budapest war es in der Mädchenkammer, die er in der Tabakstraße bewohnte, ebenso dunkel wie in diesem Keller, im Herbst gegen Abend krochen die Fliegen aus den haardünnen Rissen in den Wänden hervor. G. A. konnte nicht begreifen, warum ihn eine jähe Welle des Glücks überflutete, die sein Bewußtsein durchwusch und heimliche Träume aufblinken ließ.

„Was macht bei uns, im Ausland, das Leben so anziehend:“ fragte er, vorgebeugt in seinem Schaukelstuhl sitzend. „Was macht es nicht nur erträglich, sondern begehrenswert, ja derart unwiderstehlich amüsant, daß bei uns die Menschen, allem gesunden Menschenverstand zum Trotz, gern leben? Was ist die Erklärung für diese grobe Verwirrung des Geschmacks und des Urteilsvermögens? Was macht bei uns die Menschen ohne Ausnahme heiter und zufrieden? Die Tatsache, daß wir lügen gelernt haben! Lügen ist, meine Damen und Herren, die glänzendste Fähigkeit des menschlichen Geistes! Obwohl ihrem Ursprung nach eine erworbene Eigenschaft, lenkt die Kunst zu lügen heute unsere Zunge bereits mit derart magnetischer Genauigkeit, daß wir, kaum haben wir den Mund geöffnet, im Nu, ohne die geringste Anstrengung, etwas anderes sagen, als wir denken, und etwas anderes denken, als wir sagen könnten. Es bedarf großer Disziplin und einer fast unvorstellbaren Enthaltsamkeit, wenn wir uns zuweilen, um eines bestimmten Zweckes willen, dazu versteigen, bewußt die Wahrheit zu sagen.

Weckt man uns nachts aus dem Schlaf, lügen wir ebenso fließend wie am Tage unter dem unwiderstehlichen Ansporn unseres Bewußtseins. Schon im zartesten Alter lernt das Kind das Lügen, gleichzeitig mit seinen ersten Schritten, und von da an üben wir uns Tag und Nacht in dieser Fähigkeit; wir gelangen zu derartigen Höchstleistungen, daß es nach verbürgten Angaben der Wissenschaft bereits besonders befähigte Individuen gibt, die in ihrem ganzen Leben kein einziges wahres Wort gesprochen haben. Ja, die Geschichte weiß von Männern, die im Dienste einer erhabenen irdischen oder himmlischen Idee, gleichsam als Krönung ihres Lebenswerkes, im Augenblick ihres Märtyrertodes mit einer begeisternden Lüge auf den Lippen starben.

Wir bereiten unsere Kinder durch sorgfältige Erziehung auf den Genuß des Lebens vor. Die liebende Mutter belügt ihr Kind, um es durch eigenes Beispiel zu belehren, und das Kind lügt zurück, dankerfüllten Herzens, als Beweis dessen, daß es seine Lektion gelernt hat. Es erübrigt sich, zu erwähnen, daß sich hiebei alle beide, in diesem reizenden Zeitabschnitt ihres Lebens, höllisch amüsieren. In der Schule lügt der Lehrer mit der erhabenen heiteren Stirn eines Menschen, der seine Pflicht erfüllt. Und was ist es, das die schmerzlichen Runzeln und Falten der Wissenschaftler auf den Universitätskathedern glättet, wenn nicht das erhebende Bewußtsein, daß sie alles, was in ihren Kräften steht, getan haben, um durch ihre feingesponnenen Lügen die heranwachsende Jugend bestens zu unterhalten: Die Staatsmänner lügen aus purer Gutherzigkeit dem Volk etwas vor, um es in seiner derben Einfalt zu herzlich kicherndem und wieherndem Lachen zu bringen — und das dankbare Volk lügt zurück, es sei glücklich, und lacht sich dabei schlau ins Fäustchen. Wer meint, bei uns lüge der Kaufmann aus Geschäftsinteresse, ist schwer im Irrtum. Der Kaufmann setzt alle seine geistigen und moralischen Kräfte einzig zu dem Zweck ein, durch sinnreiche Flunkerei den Käufer zu erheitern, der es seinerseits vor überströmender Freude kaum erwarten kann, sich für die Artigkeit des Kaufmannes zu bedanken, indem er Gleiches mit Gleichem vergilt.

Bei uns im Ausland gibt es Leute, die, wenn sie eine funkelnagelneue geistreiche Lüge hören, tief den Hut ziehen, vor Ergriffenheit vielleicht sogar das Knie beugen und, ein entzücktes Lächeln auf den Lippen, nicht aufhören, sich für diese Wohltat zu bedanken, die — so sagen sie — ihr ganzes künftiges Leben vergolden werde. In der Tat, kann man sich einen angenehmeren Zeitvertreib vorstellen, als, beide Hände auf die Stirn gepreßt, darüber zu grübeln, warum uns dieser oder jener etwas vorgelogen hat und was er uns dabei verschweigen wollte, und gibt es eine erhabenere Genugtuung für den Menschen, als wenn er im Schweiße seines Angesichts endlich die Antwort findet: Was gibt es Lachhafteres auf der Welt, als wenn uns, in seltenen begnadeten Augenblicken, eine Lüge von ewiger Gültigkeit von den Lippen fließt, eine Lüge, welche die hervorragendsten Denker selbst wenn sie all ihre Kraft und Inbrunst zusammennehmen, nicht widerlegen können, ganz zu schweigen von der offenen Mundes gaffenden Menge, die sich bei solchen Gelegenheiten herzlich über ihre eigene Blödheit belustigt.

Meine Damen und Herren, bei uns im Ausland haben die Menschen guten Grund zu leben! Das Leben ist pure Wonne, süßestes Vergnügen. In Dörfern und Städten, auf einsamen Gehöften und Feldhüterhütten, in Leuchttürmen und Gefängnissen, wohin wir blicken, überall schen wir in heitere Träumereien versunkene, lächelnde Menschen, die sämtlich — vom Säugling an, der selig das Gesichtchen verzieht, bis zum fröhlich auf dem Sterbebett grinsenden Greise —, die sämtlich, sage ich, mit klopfenden Schläfen und wahnwitzig verdrehten Augen darüber nachdenken, warum man ihnen dies und warum man ihnen jenes vorgelogen hat und was sie ihrerseits aus Dankbarkeit und menschlicher Einfühlung ihren lieben Nächsten zurücklügen könnten.

Jeder belügt jeden. Die Religionsgründer belügen ihre Jünger, die Priester die Gläubigen, die Gläubigen ihre Beichtväter, die Staatsoberhäupter ihre Minister, die Minister die Staatsbürger, ja sogar die Beamten des eigenen Ressorts, die Richter die Angeklagten, die Angeklagten die Richter, die Rechtsanwälte alle beide, die Ärzte die Kranken, die Kranken die Ärzte, die Fabrikanten und Handwerker die Konsumenten, die Schriftsteller die Leser, die Wohltätigkeitsvereine ihre dankbaren Betreuten, die Irrenanstalten die Verrückten, die Beamten ihre liebenswerten Vorgesetzten und ihre düsteren Untergebenen. Es lügen die Wagner, die Kürschner, die Fischer, die Kesselheizer, die Dreher, die Chauffeure, die Gepäckträger, die Landarbeiter, es lügen die Agenten, die Zeugschmiede und Monteure, die Taucher und Polarforscher, die Hebammen belügen das Neugeborene, die Beerdigungsunternehmer den Toten, die Braut den Bräutigam. Es belügt der Lehrling den Gesellen, der Geselle den Meister, der Meister den Unternehmer. Der Barbier belügt den unter Seifenschaum in seliger Aufregung die Ohren spitzenden Kunden, der Chirurg den verschlagen lächelnden Kranken auf dem Operationstisch, der Liebhaber belügt die Geliebte im Bett, wobei er mit großer Enthaltsamkeit den heiklen Augenblick abwartet, in welchem, einem allgemeinen Aberglauben zufolge, der Mensch angeblich nicht lügen kann. Auch ihre Tiere belügen die Menschen. Die brave Hausfrau lügt, wenn sie das Huhn, das sie zu schlachten gedenkt, ein unmißverständliches, bezauberndes Lächeln der Zuneigung im Gesicht, mit dem Ruf „put, put, put“ zu sich lockt, um ihm den Hals durchzuschneiden, woraufhin das geschlachtete Huhn zum Dank für die kunstvolle Lüge, ohne Kopf, der guten Wirtin zuliebe noch eine Ehrenrunde durch den Hof läuft.

Es lügen die Fußballschiedsrichter, die Löwenjäger, die Jockeys und die Herrenreiter, die Drucker lügen und die Gerber, die Köhler und die Kunsttischler, die Schneider und die Schuhmacher und die Bäcker; mit ganz besonderer Findigkeit lügen die Bankiers und die Kirchenfürsten; bestechend süß lügen die Modewarenhändler und die Historiker; mit feinem Scharfsinn, wenn auch ein wenig leichtfertig, lügen die Geheimpolizisten und Ermittlungsbeamten; mit der stärksten Überzeugungskraft — man traut seinen Ohren nicht, wenn man sie hört — verzapfen die Equilibristen und die Philosophen ihre Lügen. Es lügen die Zeugen, denn Zeugen gibt es für alles. Die Geschädigten belügen die Diebe, die Opfer die Mörder, die Verurteilten die Henker, die Propheten und die Politiker jedermann.

Wie aus dem Gesagten hervorgeht, meine Damen und Herren, bebt die ganze Erdkugel von dem homerischen Gelächter der sich über ihre Lügen die Seiten haltenden Menschheit. Unsere Gesellschaftsordnung ist so geistvoll konstruiert, daß sie durch jedes winzigste ihrer Teilchen dazu beiträgt — wenn sie es nicht überhaupt voraussetzt — daß die Menschen nach Herzenslust, nach bestem Wissen und Geschmack lügen dürfen, also — mit Ausnahme der Geisteskranken — sich alle samt und sonders ihrem Lieblingsvergnügen hingeben können. Recht und Freiheit der Lüge sind praktisch uneingeschränkt. Jene vitalistische Philosophie, welche die felsenfeste, unerschütterliche Grundlage unserer Gesellschaftsordnung bildet, sichert praktisch jedem Menschen völlige persönliche Freiheit zur gebührenden Erheiterung seiner eigenen Person und seiner Mitmenschen.

Es ist Sache der Inspiration und der individuellen Neigung, welchen unserer Mitmenschen wir durch unsere besonderen Gaben am besten amüsieren können. Der Bauer zum Beispiel, der Ackersmann, dessen niedrig schwebende Phantasie durch eine gewisse zielstrebige Sachlichkeit und einen etwas engen Facheifer gekennzeichnet ist, belügt weit lieber den Steuerbeamten, der in sein Haus kommt, als einen zufällig auf seinen Hof verschlagenen Kunstreiter, wenngleich er sich’s um nichts in der Welt entgehen ließe, auch diesen durch den drastischen Witz seines vierschrötigen Gemüts entsprechend einzuseifen, wofür sich der Gast durch ein, zwei graziöse städtische Kunstsprünge seines Geistes zu revanchieren pflegt. Der Handelsreisende belügt mit größerem Geschick seinen Kunden als den Bettler an der Straßenecke, dem er nur aus allgemeiner Menschenliebe ein gelungenes bon mot in den Hut wirft, z.B. die Mitteilung, daß er kein Kleingeld bei sich habe, was der dankbare Bettler mit wieherndem Gelächter quittiert; allerdings gibt es auch zartbesaitete Almosensammler, denen in solchen Fällen die Augen vor Rührung überlaufen. Senatoren und Abgeordnete entfalten am liebsten in den Empfangszimmern der Minister ihre üppigen Lügen wie die Rosen ihre Blütenblätter, und manchmal duften sie dort längere Zeit betäubend; in ihren eigenen Empfangsstunden hingegen, obwohl sie auch dort alles tun, um die vor ihnen erscheinenden, ärmlich gekleideten, schlechtriechenden Bittsteller gebührend zu belustigen, will ihnen dies sichtlich nicht mit der gleichen bezaubernden Natürlichkeit gelingen.

Um Irrtümer zu vermeiden, muß ich wiederholen, daß bei uns im Ausland ein jeder ausnahmslos immer lügt, doch nicht in allen Lagen mit der gleichen Kraft und Begabung. Warum dem so ist, meine Damen und Herren, das haben unsere Seelenforscher noch nicht klarstellen können, aber schon die Frage als solche ist amüsant und gibt zu mutwilligem Herumraten Gelegenheit.

Staats- und Magistratsbeamte lügen mit der gleichen Sicherheit nach oben und nach unten, aber nach oben mit mehr Eifer und nach unten mit größerer Gewandtheit und wenn sie z.B. einen Amtsboten oder Portier amüsieren, bleibt ihnen nie das Wort in der Kehle stecken. Privatangestellte entfalten ihre schönsten Fähigkeiten wunderlicherweise gerade unter der Brille ihrer Geschäftsführer und Direktoren, obgleich sie ansonsten keinerlei feinere seelische Wahlverwandtschaft mit ihnen verbindet. Der Versicherungsagent glänzt mit der Redekunst eines Propheten im Kreise seiner Kunden, so daß diese sich vor Lachen die Seiten halten; auf seinem Sterbebett jedoch kann er nur ziemlich matt lügen. Offiziere stellen ihren Mann in Gegenwart ihrer Generäle. Journalisten lügen am liebsten im Zimmer eines Bankpräsidenten, Erben am Krankenbett der Erblasser, Gläubiger bei ihren Schuldnern; Erfinder belügen ihre Geldgeber, Handwerker ihre Auftraggeber, Schüler ihre Lehrer, Taglöhner ihre Aufseher, Hirtenknaben den Schäfermeister, der Stellenvermittler die Dame, die ein Dienstmädchen sucht, der Abgeordnete seine Wähler. Architekten und Ingenieure sind gewöhnlich am amüsantesten, wenn sie dem Besteller den Kostenvoranschlag unterbreiten. Schriftsteller und Gelehrte überbieten sich selbst, wenn sie ihre Wahl in die Akademie betreiben. Politiker können, sosehr sie sich auch anstrengen, in keiner Situation so zauberhaft lügen, wie wenn sie die Politiker eines anderen Landes dazu bewegen wollen, einen Nichtangriffspakt zu unterschreiben.

Zu den traumhaft glänzenden, höchsten Gipfeln der Phantasie versteigen sich aber die Menschen nur, wenn sie sich von einem vermögenden Mitmenschen einen bestimmten Geldbetrag leihen wollen; doch selbst diese fast unvorstellbare Leistung übertreffen sie, wenn sie einem weniger vermögenden Mitmenschen die Bitte, ihnen einen bestimmten Geldbetrag zu leihen, abschlagen. Woher dieses launische Auf und Ab der Begabung kommt, welche Faktoren es sind, die Dynamik und Wirkungsgrad der Lüge bestimmen, ist einstweilen noch ungeklärt; ich habe Ihnen von empirischen Tatsachen berichtet, die wahrscheinlich gerade deshalb so genußreich sind, weil wir sie uns nicht erklären können.

Im Privatleben des einen und anderen unserer Mitmenschen sind überraschende, geradezu unbegreifliche Ungleichheiten wahrnehmbar; auch diese tragen natürlich zur Steigerung der allgemeinen guten Laune der Gesellschaft bei. Es gibt z.B. Menschen, die ihrer Veranlagung nach nur zu groben, dicken Lügen geeignet sind, und dennoch zuweilen auch feine, dünne hervorbringen, etwa in ihrer Todesstunde, so daß die Zuhörer betroffen den Kopf hochwerfen und, als suchten sie eine übernatürliche Erklärung, die Nase in die Luft bohren und neugierig zu schnüffeln beginnen.

Es gibt andere Menschen, die ihr ganzes Leben lang immer gleichmäßig graziös, mit mondäner Leichtigkeit lügen, aber eines Tages stockt ihnen plötzlich der Atem, das Blut steigt ihnen zu Kopf, ihre Augen starren glasig, und es entfährt ihnen eine so ordinäre, derbe, alltägliche Lüge, daß die Menschen sich die Nase zuhalten, als hätten sie einen Wind fahren lassen — und das passiert ihnen gerade in der kritischen Minute, wenn ihr Personalchef oder Mäzen anwesend ist und sie durch eine passende Lüge, wie sie sie sonst dutzendweise am Tag ausstreuen, den Grundstein zu ihrem Glück hätten legen können. Es ist interessant, zu beobachten, wie in solchen Augenblicken der Betreffende selbst ein so verblüfftes Gesicht schneidet, als traue er seinen Ohren nicht.

Ich spreche nicht von den ganz außergewöhnlichen, wahrhaft entsetzenerregenden Fällen — zum Glück sind sie selten — in denen jemand, wahrscheinlich weil er an chronischer Geistesgestörtheit leidet, dem allgemeinen gesellschaftlichen Übereinkommen und der elementarsten Höflichkeit ein Schnippchen schlägt und absichtlich die Wahrheit sagt; die Wissenschaft registriert solche Fälle, die Gesellschaft straft sie mit allgemeiner Verachtung.

Die größte Erfindung des menschlichen Geistes aber, aus der zweifelsfrei hervorgeht, daß die Menschen bei uns im Ausland nicht aus schmutzigem Eigennutz, sondern zu ihrer eigenen und ihrer Mitmenschen Erheiterung lügen, die großartigste Erfindung, sage ich, ist die, daß der Mensch sich auch selbst belügen kann.

Diese herrliche Entdeckung des menschlichen Geistes ist bei uns im Ausland bald zum Gemeingut der gebildeten Menschheit geworden. Die geistvolle Konstruktion unserer Gesellschaftsordnung ermöglicht es, daß alle Vergnügungsmöglichkeiten, die von verfeinerten Köpfen ausgedacht wurden, das Zeitunglesen, die Ohrenbeichte, die vegetarische Kost, das Kino, die Massenmorde, in kurzer Zeit zu der niedrigen, ungehobelten Menge hinabgelangen, die zum Dank dafür — nachdem sie sich tüchtig amüsiert hat — Brot, Fleisch, Seide, Samt, Wohnhäuser, Kriegsmaterial, Mehrwert und Kriminelle an die oberen Schichten liefert. Durch diesen Tauschverkehr ist auch die Selbstlüge schon nach unten gelangt und hat sich in den niedrigen Bereichen der Gesellschaft bereits mehr oder weniger verbreitet, und wenn sie dort auch noch auf einigen Widerstand stößt — bekanntlich erkennt der ungebildete Mensch nur schwer seinen eigenen Vorteil —, so besteht doch alle Hoffnung, daß sie ebenso Gemeingut wird wie die Lüge selbst, von der ich getrost behaupten kann, daß wir ohne sie weder leben noch sterben können.

Meine Damen und Herren, in Ihrem sympathischen Wissensdurst fühlen Sie sich vielleicht versucht zu fragen, was die Ursache war, daß die Selbstlüge sich so erfreulich schnell verbreiten konnte. Obwohl meine Antwort selbstverständlich von keinem Einfluß auf die Gestaltung Ihrer Meinung sein kann, würde ich — natürlich unverbindlich — antworten, daß ich es nicht weiß. Diese besondere Art der Belustigung ist äußerst bequem, vielleicht ist sie deshalb so allgemein beliebt geworden. Sie ist ein vornehmer, taktvoller Zeitvertreib, wir fallen damit niemandem, nicht einmal uns selbst zur Last. Weit ab vom Lärm der Welt schließen wir uns in unserem Zimmer ein, und nachdem wir unsere Wahl getroffen haben, konzentrieren wir uns auf den Gegenstand und beginnen zunächst leichthin, dann immer leidenschaftlicher uns selbst zu belügen, indem wir uns wild durch die Haare fahren, die Augen aufreißen und an den Schläfen traumhaft glitzernde Schweißtropfen ausscheiden. Viele von uns haben bereits eine solche Übung, daß sie, ohne den Gegenstand vorher zu bestimmen, völlig unvorbereitet sich selber genauso fließend belügen wie ihre Nächsten.

Verglichen mit der Lüge für zwei oder mehr Personen hat diese Abart den Vorteil, daß wir uns unabhängig von Zeit und Raum mit ihr belustigen können, z.B. wenn unsere Umgebung aus irgendeinem Grunde müde geworden ist, zu gähnen beginnt und schlafen geht. Allerdings muß ich der Genauigkeit halber noch einmal erwähnen, daß viele unserer Mitmenschen, hauptsächlich jene, die zu den unteren Klassen des Volkes gehören, diese feinere, ätherischere Art der Lebensbejahung mit der Onanie vergleichen und ihr deshalb noch zögernd gegenüberstehen. Aber welche grenzenlosen Möglichkeiten eröffnen sich auf diesem Gebiet, das von keinem fremden Bewußtsein normiert und von keiner fremden Phantasie eingeengt werden kann! Die Findigkeit des menschlichen Geistes offenbart sich nirgends in so überreichem Maße, und wenn sich einige von Ihnen entschließen sollten, meine Heimat zu besuchen, werden Sie Wundern menschlicher Leichtgläubigkeit begegnen, die schon fast vom Glanz der Genialität überzogen sind. Die Wissenschaft hat eine große Zahl von Fällen aufgezeichnet, in denen der eine oder andere unserer Mitbürger ohne die geringste Vorbereitung im Nu geglaubt hat, was er sich selbst vorlog, und nach ganz kurzer Zeit, nach vierundzwanzig Stunden z.B., mit ebensolcher Blitzesschnelle sich das genaue Gegenteil glaubhaft machen konnte; allerdings muß ich zugeben, daß solche Experimente zumeist nur bei Staatsmännern restlos gelungen sind.

Neben diesen blendenden Ausnahmen darf man indessen nicht außer acht lassen, daß auch der Durchschnittsmensch ganz hervorragend geeignet ist, sich auf anmutigste Weise selbst zu belügen. Wenn sich zufällig mehrere Menschen zur gleichen Zeit dasselbe vorlügen — natürlich selbstlos, bloß zum Spaß —, beispielsweise, daß einer unserer Mitmenschen dank Gottes besonderer Gnade erhabener von Angesicht, stattlicher von Wuchs und reicher an Geist, also viel liebenswerter sei als alle anderen und daß er deshalb zum Führer gewählt werden muß, oder umgekehrt — genau so selbstlos —: daß alle Menschen gleich sind und deshalb jener Führer gestürzt werden muß, dann kommt nach einiger Zeit die herrschende Idee der Epoche zustande, welche die Kulturhistoriker bald entdecken und einordnen.

Solch summierte Selbstlügen fördern das gegenseitige Verstehen, fachen das Gemeinschaftsgefühl an und halten es wach, überdies sichern sie dem Gang der Geschichte eine Art sanft schaukelnder, opalisierender Kontinuität.

Ich brauche es wohl kaum zu wiederholen, daß bei uns im Ausland selbstischen Interessen bei dieser Belustigung streng privaten Charakters keine wie immer geartete Rolle zukommt und zukommen kann. Gibt es denn eine anziehendere Vorstellung als diese: ein Bankdirektor kniet bei Nacht in der Einsamkeit seines Schlafzimmers in heiligem Wahn vor seinem Bett, getrieben von dem Wunsch, Blut und Leben für seinen König oder seinen Führer zu opfern, und derselbe Wunsch beseelt in derselben Stunde im hinteren Trakt eines Großhauses einen Kellner, einen Ladendiener oder einen Kanzleigehilfen — und sie alle wachen bis zum Morgengrauen, weil sie in ihrer Unschuld von dieser lieblichen Zerstreuung nicht lassen können. Verehrung der Autorität, meine Damen und Herren, das ist eine der beliebtesten und verbreitetsten Formen der Selbstlüge. Sie ist so leicht zu erlernen, daß wir schon nach Ablauf kürzester Zeit denjenigen zu schätzen beginnen und vielleicht durch eine heftige Begrüßungsrede feiern, von dem wir eine Stunde vorher noch nie gehört haben — und all das bei bester Gesundheit und in völligem Einvernehmen mit uns selbst. Im Eifer des Augenblicks, der manchmal mehrere Tage währt, glaubt man sich selber jedes Wort, wobei es allerdings vorkommen soll, daß man nachträglich eine Zeitlang still vor sich hinsinnt.

Schon das Kind ehrt seine Eltern, nichts natürlicher! Es ehrt seine Großeltern, seine Lehrer, überhaupt die Erwachsenen, und zwar — ich brauche es wohl kaum zu erwähnen — mit strahlender Stirn, ohne einen Schimmer von Zweifel und Argwohn. Der Lehrling ehrt den Gesellen, der Geselle den Meister, der Meister den Kunden. Der Arbeiter ehrt aufrichtigen Herzens den Werkmeister, der Werkmeister den Ingenieur, der Ingenieur den Direktor, der Direktor die Aktionäre. Beim Militär zollt der gemeine Soldat dem Korporal begeisterte Bewunderung, der Korporal vergöttert den Zugsführer, dieser schwärmt für seinen Feldwebel, und die Offiziere — Generäle und Feldmarschälle einbegriffen — opfern, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, ihr Leben auf dem Altar des Vaterlandes. Der Beamte ehrt ohne die geringste Kraftanstrengung alle seine Vorgesetzten. Der Abgeordnete ehrt die Minister, ja sogar die Staatssekretäre. Der Kaufmann verehrt jeden, der seinen Laden betritt, und in selbstloser Schwärmerei verfolgt er im Gedanken den Käufer noch eine Zeitlang auf dessen Lebensweg nach Verlassen des Ladens. Der Kleinbauer ehrt den Großbauern, der Großbauer den Gutsbesitzer; die Bauern verehren im allgemeinen alle Herren, und zum Zeichen ihrer Hochachtung spucken sie nur hinter ihren Rücken aus. Der Schuldner ehrt den Gläubiger. Und die Gläubigen, obzwar sie eine etwas längere Selbsteinflüsterungszeit brauchen als der Durchschnitt, ehren ihre Priester und deren heiligen Lebenswandel. Nach gründlicher seelischer Übung beginnt sogar der vor Gericht gestellte Angeklagte, sich selbst übertreffend, seine Richter bereits vor der Urteilsverkündigung zu verehren und setzt diese Verehrung auch im Zuchthaus fort.

Gut bewährt hat sich in der Praxis der psychologische Kniff, vor der Ehrenerweisung die Vermögensverhältnisse, Beziehungen und Machtmittel der auserwählten Autorität zu erkunden und sie trotz der günstigen Informationen, die man bekommt, schlechtweg und selbstlos zu ehren. Jeder Mensch ehrt die Behörden. Dadurch, daß sich bei uns im Ausland immer jemand findet, den wir reinen Herzens, mit aller Hingabe verehren dürfen, wird das schöne Gleichgewicht unserer Gesellschaftsordnung gänzlich gesichert. Was hält die Kriegsscharen zusammen, die — gutgelenkte, gellende Heuschreckenschwärme — von Afrikas wirbelndem Sand bis zur sturmumheulten Küste des Eismeers die Erde bedecken und ohne einen Schluck anfeuernden Alkohols sich gegenseitig die Beine, die Flügel und Köpfe abfressen? Und woher kommt es, daß ein Mensch in die Gruft eines Toten eintritt und also spricht: Wahrlich, ich sage dir, Lazarus, stehe auf! — und der Tote gehorcht und steht auf? Meine Damen und Herren, wenn wir über die Zukunft der Menschheit nachsinnen, so braucht es uns wenig Sorge zu bereiten, daß sich unsere Gesellschaftsordnung schließlich ändern könnte, denn solange das Sonnensystem nicht auskühlt und die Erde sich dreht, wird es immer Autoritäten geben, die zu verehren der Mensch sich vorlügen kann.

Viel hat zur schnellen und mühelosen Verbreitung der Autoritätsverehrung auch die Nächstenliebe beigetragen, die sich bei uns im Ausland großer Beliebtheit erfreut. Nach den bereits besprochenen Methoden der Selbsterziehung liebäugeln wir schon von unserer unschuldigen Kindheit an so lange mit unserem Bewußtsein, bis wir eines Tages gewahr werden, daß wir für alle unsere Mitmenschen schwärmen. In ihrer Liebe zueinander sind die Menschen so unersättlich geworden, daß sie in ihrer Qual schließlich Gott für Sünde und Sühne verantwortlich machten, denn es gab keinen lebenden Menschen mehr, der sich als Kläger gestellt hätte, und auf der Erde fand sich kein Henker. Auf die donnernde Warnung des Himmels hin geschah schließlich der zweite Sündenfall, und das Opfer wurde unter reichlichen Tränen ans Kreuz geschlagen. Wiewohl sich die Menschen seither einigermaßen daran gewöhnt haben, von Zeit zu Zeit jemanden auf eigene Verantwortung zu rädern, zu vierteilen, auf den Scheiterhaufen zu werfen, ihm Hände und Füße abzuhacken, die Augen auszustechen, die Gedärme herauszureißen, ihn zu lynchen oder auf den elektrischen Stuhl zu setzen, scheuen sie in manchen Ländern auch noch heute vor dem Erhängen zurück, weil der Gehenkte ihnen die Zunge herausstreckt.

Es gehört viel Selbstbeherrschung dazu, meine Damen und Herren, unsere gut eingeübte Nächstenliebe zu überwinden und ein Urteil auszusprechen; unser Gewissen wird nur dadurch erleichtert, daß zuweilen der eine oder andere unserer Richter und Staatsanwälte aus Takt Selbstmord begeht. Wie stark bei uns im Ausland die Nächstenliebe um sich gegriffen hat, will ich Ihnen an einem einzigen Beispiel vorführen: nach verläßlichen statistischen Angaben hat von vielen Millionen Menschen nur ein einziger auf die Frage, was Gerechtigkeit sei, geantwortet: „wenn der andere verurteilt wird“, und dieser eine war Pflegling in einer Anstalt für Geisteskranke. Stellen Sie sich nun gefälligst den Gemütszustand jener Millionen Menschen von gesundem Verstand vor, die diesen einen Wahnwitzigen umgeben und von Zeit zu Zeit einen verzweifelten Schrei aus der Irrenanstalt hören, vom elektrischen Stuhl oder hinter den Kerkermauern — einen Schrei, der um nichts sündiger oder unschuldiger ist als das erste Weinen eines neugeborenen Kindes, doch um so schmerzlicher, als er heiserer klingt. Unmöglich, ihn zu überhören, denn selbst die Sterne hallen von ihm wider, Jahrhunderte noch nachdem er ertönte.

Wer würde sich erkühnen, vor dem Richterstuhl die mildernden Umstände des Angeklagten zu verwerfen, die angeborene gute Absicht, das Recht zum Irrtum, die Schliche des Zufalls, das mißgünstige Schicksal, die erbliche Belastung, die immer vorhandene partielle Unzurechnungsfähigkeit, die Tatsache, daß er schon seit zwanzig oder fünfzig Jahren lebt: Bei uns im Ausland fällen die Menschen im Namen der gut eingeübten Nächstenliebe kein Verdammungsurteil, obwohl sie jedes vollstrecken. Sie glauben nicht an Schuld, obgleich die Unschuld nicht nachweisbar ist. Sie glauben nicht daran, daß die Hinrichtung eines Menschen gerechtfertigt werden kann gegenüber der unumstürzlichen Tatsache, daß er lebt.

Wie sich der Schatten zugleich mit dem Körper entwickelt, dem er seine Existenz verdankt, so wächst mit der Schuld zugleich auch das Mitleid, das um sie herumschleicht und den Verbrecher bis zum Gefängnistor und bis zum Schaffott begleitet, den Vatermörder ebenso wie die blutschänderischen Geschwister, den Räuber, den Dieb, den Defraudanten, den Sodomiten, die Wechselfälscher, Hehler, Einbrecher, Schmuggler, Raubmörder, Kriegsverbrecher, ja sogar diejenigen, die die bestehende Gesellschaftsordnung zu schmähen sich erdreisten — und daß allesamt und sonders von jedem Gericht bei jeder Gelegenheit verurteilt werden, darf Sie, meine Damen und Herren, keinen Augenblick lang irreführen. Wenn sie nach dem Muster des berühmten Schreies, den jener erste Gekreuzigte in seiner Not ausstieß, von neuem riefen: „Vater, warum hast du mich verlassen?“, so könnten wir ihnen ruhigen Gewissens antworten: „Siehe, wir haben dich mit unserem Mitleid begleitet und sind mit dir in der schweren Stunde der Prüfung.“ Und denken Sie nicht, meine Damen und Herren, diese Antwort enthalte auch nur die geringste Spur von Hohn. In der Frage der Nächstenliebe kennen wir keinen Scherz.

Meine Damen und Herren, verstehen Sie nach dem Gesagten, warum die Menschen bei uns im Ausland gern leben? An Stelle des Jüngsten Gerichts, dem wir seit zweitausend Jahren entgegentreiben und das noch immer in unabsehbarer Ferne hinter der schon zerstäubten Zeit nebelt, halten wir bei uns im Ausland jeden Tag Gericht. Bei uns wird ein jeder von jeder Schuld freigesprochen und ein jeder wird verurteilt. Bei uns wird ein jeder von jedem geliebt. Und in dieser kein Ende nehmenden, von Minute zu Minute und von Staubkorn zu Staubkorn überspringenden Heiterkeit, die selbst die Schatten zum Tanzen und unter der Erde die empfindlichen Wirbel der Gerippe zum Klappern bringt, inmitten dieses trommelfellsprengenden Jubels, durch den die Menschheit sich selbst zum Erreichen unbekannter, aber zweifellos wenig lohnender Ziele anfeuert, in diesem allgemeinen fröhlichen Getös, das sich von den Höhlenwohnungen bis zu den Palästen erstreckt, ist unaufhörlich eine schneidende und dennoch sanfte Stimme zu hören, ein unartikulierter, melodischer und dennoch unerträglicher Jammerschrei, ein wahnwitziger Mahnruf, der Tag und Nacht tönt: — vermutlich der Gesang eines Pseudopropheten, der in die Wüste gezogen und nicht geneigt ist, wieder hervorzukommen, weil er sich damit begnügt, sich selbst etwas vorzusummen. Dennoch gibt es keinen Menschen, der sein Gejammer nicht hörte. Wovon spricht diese namenlose Stimme? Ich weiß es nicht zu sagen, meine Damen und Herren. Ebensowenig, wie ich Ihnen auf die Frage Antwort geben könnte ob es bei uns im Ausland noch Wüsten gibt.“

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1964
, Seite 547
Autor/inn/en:

Tibor Déry:

Mirza von Schüching:

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