FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 122
Ludwig Reichhold

Thesen über Austrofaschismus

Hier wird keine Apologie des österreichischen Faschismus oder dessen, was dafür gehalten wird, versucht. Hier soll nur festgestellt werden, daß man es beim „Austrofaschismus“ mit einem äußerst komplexen Phänomen zu tun hat, in dem auch Faschismus, aber nicht nur Faschismus enthalten ist.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, soll gleich gesagt werden, was davon waschechter Faschismus gewesen ist: Die Beseitigung der Parteien nach dem 12. Februar 1934, die zwangsweise Auflösung der Sozialdemokratischen Partei und die etwas weniger zwangsweise Auflösung der Christlichsozialen Partei sowie jene der Großdeutschen Partei — das war selbstverständlich Faschismus; die Schaffung einer politischen Monopolorganisation, der Vaterländischen Front, zuerst Sammelbecken der sogenannten vaterländischen Organisationen, später praktisch eine Partei, der nur noch Einzelmitglieder angehören konnten, womit auch die „vaterländischen Organisationen“ auf den Aussterbe-Etat gesetzt wurden — das war nicht weniger Faschismus; die Auflösung der sozialistischen Freien Gewerkschaften, deren Zusammenspiel mit der Sozialdemokratischen Partei am 12. Februar 1934 so wenig funktioniert hat, daß der angestrebte Generalstreik, dessen Träger die Freien Gewerkschaften sein mußten, zu einem beinahe totalen Versager geworden ist — auch das war natürlich Faschismus; die Einrichtung einer gewerkschaftlichen Monopolorganisation, des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, die der Aufsicht des Sozialministeriums unterstellt wurde, deren Funktionäre nicht gewählt, sondern bestellt wurden, und die notabene noch mit öffentlich-rechtlichem Charakter ausgestattet wurde, wenn auch die Mitgliedschaft freiwillig war — das war abermals Faschismus; die zwangsweise Einführung einer verfassungsmäßig verankerten berufsständischen Ordnung, die den Menschen nicht mehr als Staatsbürger mit der Totalität seiner Interessen, sondern nur noch als Angehörigen eines Berufszweiges zur Kenntnis nahm, während sie ihn von der Mitbestimmung in allen übrigen Belangen ausschloß — auch das war waschechter Faschismus; die Rolle der Heimwehr als Einpeitscher dieser staatlichen Neuordnung, einer Heimwehr, die im Sinne des Korneuburger Eides „nach der Macht im Staate“ griff, im Sinne Othmar Spanns einen eigenen „Staatsstand“ ins Leben rufen wollte, sich ausdrücklich als Glied der faschistischen Bewegung deklarierte und ausgedehnte Beziehungen zum „Duce“ unterhielt — das war erst recht waschechter Faschismus.

Immer wieder ist versucht worden, diesen Erscheinungen eine andere, nichtfaschistische Deutung zu geben: die Auflösung des Parteienstaates als eine staatliche Notstandsmaßnahme hinzustellen, die Zwangsauflösung der Sozialdemokratischen Partei mit der „Schuld“ dieser Partei an der Februarrevolte zu erklären, die Auflösung der Christlichsozialen Partei und der Großdeutschen Partei als eine freiwillige „Selbstauflösung“ hinzustellen, die Beseitigung der Freien Gewerkschaften mit deren enger Verbindung zur Sozialdemokratischen Partei zu interpretieren, die Errichtung des Gewerkschaftsbundes mit autoritärer Lenkung und autoritärer Führung der Mitglieder als ein Provisorium zu bezeichnen, die Vaterländische Front als Sammlung der vaterländischen Kräfte zur Abwehr der nationalsozialistischen Bedrohung zu deuten, der berufsständischen Ordnung die Zielsetzung der päpstlichen Enzyklika „Quadragesimo anno“ zu unterschieben und die Heimwehr als Abwehrorganisation gegen vaterlandsverräterische Umtriebe zu verharmlosen. Das Einzige was man allen diesen Umdeutungen zubilligen kann, ist jedoch das schlechte Gewissen, das in ihnen seinen Niederschlag findet.

In Wirklichkeit stand hinter der Zwangsauflösung der Sozialdemokratischen Partei der Wille, das entscheidende Hindernis der angestrebten „Neuordnung“ des Staates aus dem Wege zu räumen; hinter der „Selbstauflösung“ der Christlichsozialen Partei der Unglaube an die parlamentarische Demokratie; hinter der Beseitigung der Freien Gewerkschaften die Absicht, ein Bollwerk der Arbeiterschaft zu beseitigen; hinter der Errichtung einer gewerkschaftlichen Monopolorganisation der Versuch, die Gewerkschaftsbewegung in ihre berufsständischen Bestandteile aufzulösen; hinter der Errichtung der berufsständischen Ordnung die Entschlossenheit, mit dem parlamentarischen Staat aufzuräumen, und hinter dem Österreichischen Heimatschutz stand Mussolini als geistiger Nährvater und politischer Auftraggeber.

Aushängeschild — und doch mehr

Das alles als „Christlichen Ständestaat“ zu bezeichnen und damit an die edelsten Gefühle, an die erhabensten Überlieferungen und an das soziale Gewissen des österreichischen Volkes zu appellieren, war daher ein starkes Stück. In Wirklichkeit hatten die entscheidenden Kräfte, von denen die staatliche Umwälzung nach dem 12. Februar 1934 ins Werk gesetzt wurde, weder viel mit dem Christentum zu tun, noch konnte man die berufsständische Ordnung, die in der Maiverfassung von 1934 einen sehr mißverstandenen Niederschlag gefunden hatte, als Ständestaat bezeichnen, weil die berufsständische Ordnung in „Quadragesimo anno“ völlig eindeutig als Hilfsmittel der Gesellschaft zur Austragung ihrer sozialen Differenzen definiert wird.

Der „Christliche Ständestaat“ war ein Aushängeschild.

Aber er war doch nicht nur ein Aushängeschild.

Am 24. April 1932 haben bei den Landtagswahlen in Wien, Niederösterreich und Salzburg 336.000 Menschen der NSDAP ihre Stimme gegeben. Die Christlichsozialen erhielten bei diesen Wahlen nur noch 640.000 Stimmen, nicht einmal doppelt soviel wie die Nationalsozialisten. Im Wiener Landtag verteilten sich auf Grund des Wahlergebnisses vom 24. April 1932 die Sitze wie folgt: 66 Sozialdemokraten, 19 Christlichsoziale, 15 Nationalsozialisten. In Niederösterreich standen 28 Christlichsozialen und 20 Sozialdemokraten 8 Nationalsozialisten gegenüber, in Salzburg 12 Christlichsozialen und 8 Sozialdemokraten 6 Nationalsozialisten. Damals war Hitler in Deutschland noch nicht an der Macht.

Als er die Macht erobert hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis er zum Schlag gegen Österreich ausholte. Bereits am 27. Mai 1933 wurde über Österreich die 1000-Mark-Sperre verhängt, die es in der bevorstehenden Fremdensaison nur noch wenigen Deutschen ermöglichte, nach Österreich zu kommen. Die Folge war nicht nur eine schwere wirtschaftliche Schädigung aller Fremdenverkehrsorte in Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Oberösterreich und in der Steiermark, die bis dahin von deutschen Gästen gelebt hatten, sondern eine wirtschaftliche Katastrophe. Gleichzeitig setzte in ganz Österreich eine Terrorwelle ein, die auch Gäste aus dem übrigen Ausland davon abhielt, Österreich zu besuchen. Sie führte in Österreich außerdem zu einer Atmosphäre der Unsicherheit, in der jede private wirtschaftliche Initiative erlahmte. Allein in Wien waren einmal in einer einzigen Nacht 968 des Bombenwerfens verdächtige Nazis verhaftet worden.

Zu diesem Zeitpunkt war die Regierung Dollfuß bereits ein Jahr im Amt. Dollfuß hatte das Kanzleramt wenige Wochen nach den Landtagswahlen in Wien, Niederösterreich und Salzburg übernommen, aus denen die NSDAP zum erstenmal in Österreich mit einem markanten Sieg hervorgegangen war. Nichts hatte darauf hingedeutet, daß Dollfuß anders als seine christlichsozialen Vorgänger regieren werde. „Die Antrittsrede des Kanzlers Dollfuß“, schreibt Hanns Leo Mikoletzky in seiner „Österreichischen Zeitgeschichte“, [*] „hielt sich im Rahmen des Überkommenen. Sie betonte den absoluten Entschluß, niemals in den Mißbrauch der Notenpresse zurückzufallen und alles zu tun, um der Nationalbank die notwendigen Devisen zu sichern; man sprach sogar von einer Devisensperre für Auslandsschulden. Dollfuß versprach ferner die Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes im Staatshaushalt, eine Handelspolitik mit ausgeglichener Handelsbilanz, die endliche Bereinigung der Credit-Anstalt-Frage und der Sorgen der Arbeiter- und Angestelltenschaft, also vor allem der Arbeitslosigkeit, sowie die Durchsetzung von Ruhe und Ordnung im Lande, wenngleich gegen ein dauerndes und generelles Aufmarschverbot verfassungsrechtliche Bedenken herrschten.“

In der Tat: da war kein neuer Ton.

Neu war auch nicht, daß Dr. Otto Bauer nach dieser Antrittsrede einen Mißtrauensantrag gegen die neugebildete Regierung einbrachte, der nur unter Aufbietung aller nichtsozialistischen Stimmen zu Fall gebracht werden konnte. Wie schon vielen anderen bürgerlichen Regierungen vorher, so begegnete die Sozialdemokratische Partei auch der Regierung Dollfuß in unfruchtbarer Opposition.

Es ist eines der erstaunlichsten Phänomene der österreichischen Geschichte, wie nun aus einer zunächst parlamentarischen Regierung in wenigen Monaten das hervorging, was man zur begrifflichen Abgrenzung gegen das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland als einen „autoritären Staat“ bezeichnet hat.

Am 30. Jänner 1933 „ergriff“ Adolf Hitler in Berlin „die Macht“. Er kehrte diese Macht vom ersten Augenblick an gegen Österreich, das sich, ein Kleinstaat ohne Bündnisse, über Nacht dem Angriff eines Großstaates ausgesetzt fand. Mit einemmal stand Österreich vor der Frage seiner weiteren Existenz.

Man kann es einer Regierung kaum zum Vorwurf machen, wenn sie dann auch die Innenpolitik im Zusammenhang mit dieser Lebensfrage sieht. Welche Innenpolitik? Ja: welche Innenpolitik war es, die in diesem Augenblick auf die Waagschale gelegt werden mußte? Österreich hatte seit 1920, seit die Koalition zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten in Brüche gegangen war, Regierungen, die sich durch ständig wechselnde Koalitionen, durch immer neue Verbindungen nach immer neuen Zerspaltungen mühsam von einem Tag auf den anderen am Leben hielten. Die Sozialdemokratische Partei, der Dr. Otto Bauer die Opposition als Ausdruck einer historischen Situation verschrieben hatte, in welcher das Proletariat einem noch beinahe perfekten „bürgerlichen Klassenstaat“ gegenüberstand, weidete sich an dem politischen Krampf, den diese Regierungen im Gefolge hatten, die nur um den Preis eines unwürdigen Kuhhandels bestehen konnten. Nur höchst selten raffte sie sich — ideologisch verschaltet, wie sie war — dazu auf, mit der Regierung zu stimmen. Für Koalitionsangebote, die ebenso selten erfolgten, hatte sie nur ein sowjetisches „Njet“ übrig. Die Sozialdemokratische Partei machte in einem Kleinstaat, der seit seinem Bestand der Mithilfe aller seiner Bürger bedürftig war, klassische proletarische Politik.

Hindernisse der Vernunft

Selbstverständlich hätte sich der politischen Vernunft als erstes ein Bündnis zwischen Christlichsozialer Partei und Sozialdemokratischer Partei angeboten, ein Bündnis auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie, das zu diesem Zeitpunkt noch die überwiegende Mehrheit der österreichischen Bevölkerung repräsentieren konnte. Aber war diese Demokratie nach all den Erfahrungen, die Österreich mit ihr hinter sich hatte, reif für die Erkenntnis, daß sie ein Wert ist, der es gestattet, den Feinden der Demokratie mit antidemokratischen Mitteln, mit Verboten, Parteiauflösungen, Knebelung der antidemokratischen Presse, in den Arm zu fallen? Österreichs Verfassung basierte auf der „Reinen Rechtslehre“ Kelsens, die den Inhalt des Staates durch die Parteien bestimmen läßt, selbst aber wertneutral ist. Konnte Österreich über den Schatten dieser Verfassung springen? Und waren Parteien, die im Jahre 1919 sich einmütig für den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich ausgesprochen und seither wenig dazu getan hatten, den „Staat wider Willen“, der Österreich damals war, in einen Staat eigenen Willens umzuwandeln, dazu in der Lage, von einem Tag auf den anderen auf diesen Staat eigenen Willens umzuschalten, jetzt, da das Dritte Reich mit allen ihm gebotenen Mitteln die Einlösung des Anschlußversprechens forderte, das diese Parteien im Jahre 1919 so einmütig gegeben hatten?

Aber war nicht das die Situation, welcher sich Österreich ausgesetzt fand: daß es eine Verfassung hatte, gegen deren Geist es sich versündigt hätte, wenn es auf einmal zwischen den demokratischen Qualitäten seiner Parteien zu unterscheiden anfing, und daß es Parteien hatte, die sich vor noch nicht allzu langer Zeit mit dem politischen Ziel ihres nunmehrigen Todfeindes identifiziert hatten? Der Austrofaschismus war eine Improvisation.

Darum gab es in Österreich nur Fragmente eines faschistischen Systems, aber kein faschistisches System selbst. Es gab faschistische Strömungen, Denkansätze, auch Institutionen, aber keinen in sich geschlossenen faschistischen totalitären Staat.

Daß es dennoch zu einem 12. Februar 1934 kam, zu einem Bürgerkrieg, in dem sich die Gesinnungen mit der Waffe in der Hand gegenüberstanden, war eine Folge beiderseitiger Überforderung.

Die Regierung hatte die Sozialdemokratische Partei überfordert, als sie von ihr verlangte, einen politischen Zustand anzuerkennen, der auf der Beugung der bisherigen Verfassung beruhte. Die Weigerung der Regierung, an einer verfassungsmäßigen Entwirrung der nach der „Selbstausschaltung des Parlaments“ entstandenen Situation mitzuwirken, ihre offenkundige Absicht, das bisherige System der politischen Willensbildung über die Parteien zu beseitigen, die Installierung der Vaterländischen Front nicht mehr als Sammelbecken vaterländischer Bestrebungen, sondern als politische Monopolorganisation, die einseitigen Verfügungen gegen den Republikanischen Schutzbund, die Ausschaltung der Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofes, der Eingriff in die Selbstverwaltung der Arbeiterkammern, die Verhängung der Vorzensur über das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei — das alles und noch mehr war eine Zumutung, die keine Partei willenlos über sich ergehen lassen konnte. Die Regierung hatte damit selbst den Boden verlassen, auf dem sie eine Verständigung mit der Sozialdemokratischen Partei erwarten konnte.

Umgekehrt hatte die Sozialdemokratische Partei aber auch die Regierung überfordert, als sie ausschließlich auf der Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustandes beharrte, ohne sich auch nur auf eine Debatte über Garantien einzulassen, die eine Wiederkehr der Obstruktionspraktiken verhindern konnten, deren sich die Partei bis dahin bedient hatte. Angesichts der äußersten Gefährdung, welcher in dieser Stunde nicht nur ein politisches System, sondern der Staat ausgesetzt war, konnte die Regierung ein Wiederaufleben jener Negation des Staates nicht zulassen, die sich bisher in der Oppositionsrolle der Sozialdemokratischen Partei abgezeichnet hatte. Diese Partei hatte vierzehn Jahre lang mit äußerster Konsequenz an der These festgehalten, daß man es bei dem gegebenen Staat mit einer „Klassenherrschaft“ zu tun habe, für die das Proletariat keine Mitverantwortung übernehmen könne. Sie hatte so an den lebendigen Bedürfnissen des Staates vorbeigelebt, der nicht zuletzt auch auf den Einsatz der Arbeiterschaft angewiesen war, wenn er zu einer erlebten und gewollten Wirklichkeit werden sollte. Der nicht erkennbare Wille zu einer grundlegenden Revision ihrer bisherigen Haltung war daher auch keine Grundlage, auf der sich die Regierung mit der Sozialdemokratischen Partei verständigen konnte.

Es hat daher wenig Sinn, in Verbindung mit dem 12. Februar 1934 die Schuldfrage zu stellen. Die Dinge hatten sich von der Vergangenheit her so entwickelt, daß es im Angesicht der Bedrohung, die das Dritte Reich für den Bestand der Republik Österreich bedeutete, zu einer ausweglosen Situation kommen mußte, weil gegen die Koalition der staatstragenden Kräfte eine Überlieferung stand, mittels welcher sich diese Kräfte bis auf den Grund ihrer Existenz entzweit hatten.

Wenn die eine Seite der anderen vierzehn Jahre lang vorgeworfen hatte, daß sie den alten Staat demoliert habe, um auf seinen Trümmern die „Diktatur des Proletariats“ zu errichten, und wenn die andere Seite mit dem Vorwurf konterte, daß die bodenständigen Kräfte jede Stunde bereit seien, die Republik zu verraten, dann konnte man gerade angesichts einer Staatskrise nicht erwarten, daß über solche Klüfte hinweg noch eine Einigung möglich sein werde.

Es hat solchen Willen zur Verständigung auf der einen und auf der anderen Seite gegeben, aber weder konnten sich die dahin wirkenden Kräfte in der Sozialdemokratischen Partei durchsetzen, noch konnten sich die gleichen Kräfte in der Christlichsozialen Partei durchsetzen. Auf beiden Seiten siegten in der Endauseinandersetzung die „Extremisten“ oder das historische Schwergewicht von vierzehn Jahren Republik, in denen Regierung und Opposition „zwei Nationen“ repräsentiert hatten.

Nach dem 12. Februar 1934 waren die Perspektiven dann erst recht verschoben. Aus der Perspektive der Sieger sahen die Dinge so aus, als habe man Österreich eben der perfekten „Diktatur des Proletariats“ entrissen und sich damit das Recht geholt, den Staat ganz und gar nach den eigenen Vorstellungen einzurichten.

Ganz anders sahen die Dinge aus der Perspektive der Besiegten aus. Für sie wurden Organisationen mit Gewalt zerschlagen, die sich in der Vergangenheit als Hort des Rechtes und des sozialen Aufstiegs bewährt hatten. Der neue Staat war ein Polizeistaat, der jetzt überallhin seine Schergen ausschickte, um die Widerstrebenden zu bestrafen. An seinem Anfang standen die Galgen, an denen die „Helden des Proletariats“ aufgeknüpft wurden.

Es waren keine echten Faschisten

Es gibt aber noch eine dritte Perspektive, aus der man den Austrofaschismus sehen kann. Es ist die Perspektive der Gegenwart: die Metamorphose der „Faschisten“ des „Christlichen Ständestaates“ zu den bürgerlichen Demokraten der Zweiten Republik. Namen sind hier nicht zu nennen. Es sind ihrer so viele, daß sie gar nicht aufgezählt werden können. Es ist nur zu sagen, daß es sich um prominente Namen handelt, die erst in der Zweiten Republik ihren vollen Klang erhalten haben. Und es ist zu fragen: Welche „Faschisten“ waren das wirklich, die aus dem Untergang Österreichs und aus dem Krieg als Demokraten wiederkehrten, um in jahrelanger Zusammenarbeit mit dem politischen Gegner von einst wieder einmal, aber nun wirklich, einen „neuen Staat“ aufzubauen? Wären sie 1934 echte Faschisten gewesen, dann könnten sie heute keine echten Demokraten sein. Oder umgekehrt: Da sie heute echte Demokraten sind, konnten sie 1934 keine echten Faschisten gewesen sein.

In der Tat: sie waren es nicht. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, spielten sie in dem Stück, das 1933 so plötzlich auf die Bühne kam, nur die Faschisten, um hinterher zu gewahren, daß sie es mit schlechtem Gewissen getan hatten. Sonst hätte die Zweite Republik kein so großer Erfolg werden können.

Rechtzeitig zum 12. Februar 1964 erscheint im Wiener Europa Verlag ein Werk von Ludwig Reichhold, eingeleitet von Erwin Altenburger, „Opposition gegen den autoritären Staat“. Ihm entstammen obige Auszüge. Reichhold, derzeit Chefredakteur des ÖVP-Zentralorgans „Volksblatt“, war in den Dreißigerjahren Redakteur der „Österreichischen Arbeiter-Zeitung‘‘ und stand als christlicher Gewerkschafter in markiertem Gegensatz zu Dollfuß und Schuschnigg.

[*Hanns Leo Mikoletzky: Österreichische Zeitgeschichte, Wien 1962.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1964
, Seite 65
Autor/inn/en:

Ludwig Reichhold: Ludwig Reichhold, langjähriger Mitarbeiter Leopold Kunschaks als Chefredakteur der „Christlichsozialen Arbeiterzeitung“, derzeit außenpolitischer Redakteur des „Kleinen Volksblatts“, Verfasser des kürzlich im Knecht Verlag, Frankfurt/Main, erschienenen Buches „Europäische Arbeiterbewegung“.

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