FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1963 » No. 118
Erwin Weissel

Steuerzahlers Märchen

Notizen zur Irrationalität unserer Finanzpolitik

Wieder wird um das Budget gekämpft, wieder unter den sturmzerschlissenen Feldzeichen „linker“ und „rechter“ Wirtschaftsmythologie. Fern der einen wie der anderen kämpft untenstehend Dr. Erwin Weissel, Mitglied der Wirtschaftsabteilung der Wiener Arbeiterkammer und dennoch Nonkonformist, seinen eigenen Kampf, unter eigenem Feldzeichen. Es kommt ihm und uns nicht auf seinen Sieg an, sondern auf den Kampf der Meinungen. FORVM setzt damit seine nun schon traditionellen Beiträge zur Entmythologisierung der Wirtschaft fort (Gustav Kapsreiter, Der Mythos vom Budget, Heft VIII/89; Erwin Weissel, Der Mythos vom Defizit, VIII/93; Heinz Kienzl, Wirtschaft bricht Verfassung, IX/98; Erwin Weissel, Pyrrhus als Sozialpolitiker, IX/103-104).

Es gibt in der Fiskalpolitik Postulate, die — durch die Tradition versteinert — gleichsam sakrosankt geworden sind. Um sie schlingt sich das dichte Rankenwerk der Ideologie, aus dem die Blüten wunderlichster Logik hervorleuchten. Auf eines dieser Postulate, die Forderung nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt, habe ich bereits hingewiesen. [1] Geradezu unerschöpflich ist jedoch das Thema „Steuern“. Hier wimmelt es nur so von Postulaten, und sie sind zwangsläufig stets aktuell.

Die Reihe der Illusionen, die unsere kritische Aufmerksamkeit verdienen, zeigt sehr deutlich, daß der einfache Staatsbürger die Steuerpolitik nach seinen Vorurteilen bewertet. Das ist gewiß nicht seine Schuld, sondern die Schuld der für die Steuerpolitik Verantwortlichen, die es nicht für notwendig befinden, Probleme der Fiskalpolitik offen zu diskutieren. Daß diese Kreise früher oder später das Opfer ihrer eigenen Demagogie werden, ist zwar nur gerecht, aber leider muß der einfache Staatsbürger dafür bezahlen.

Illusion Nr. 1

Die erste Illusion besteht darin, daß man die Progression im Einkommensteuertarif für entscheidend hält und die Einkommensteuer damit zum Angelpunkt der Fiskalpolitik wird. Diese Illusion ist das Ergebnis dreier fundamentaler Irrtümer.

Erstens hält man irrtümlich den Tarif an sich für entscheidend. In Österreich, wo die Progression knapp über 50 Prozent endet, wird speziell von Arbeiterkreisen immer wieder auf die USA verwiesen, wo die Progression über 90 Prozent hinausgeht. Nun sind 90 Prozent sicherlich eine imponierende Größe. Aber sie bleiben bloße Fiktion, wenn es diverse Begünstigungen gestatten, das steuerpflichtige Einkommen so niedrig zu berechnen, daß auch höchste Einkommen diesen Höchstsatz niemals auch nur annähernd erreichen. Zehn Erdölmillionäre in den USA verdienten in den fünf Jahren von 1943 bis 1947 rund 62 Millionen Dollar (Einkommen ohne Sonderbegünstigungen). Dank der Begünstigungen zahlten sie eine durchschnittliche Steuer von 22,5 Prozent. Einer von ihnen verdiente über 14 Millionen Dollar und zahlte 80.000 Dollar Steuer, das sind ganze 6 Promille. In vier Fällen lag die Steuer unter 10 Prozent, nur ein einziger zahlte mehr als 50 Prozent. [2]

Zweitens hält man irrtümlich den Tarif ohne Rücksicht auf die Größenverteilung der Einkommen für entscheidend. Selbst wenn wir von den Begünstigungen absehen, also etwa von den Bruttoeinkommen ausgehen, befindet sich die Mehrzahl der Steuerpflichtigen zusammengeballt am unteren Ende der Einkommenskala. Jede noch so schöne, hoch ansteigende Progression ist sinnlos, wenn sie in jenem Bereich, wo die Masse der Fälle liegt, nur so mild ansteigt, daß sie schon einer proportionalen Steuer nahekommt. Von den Einkommensteuereinnahmen der USA im Jahre 1960 kamen 86 Prozent aus der untersten Stufe der Progression und nur 14 Prozent aus den nachfolgenden, progressiv gestaffelten Stufen. [3] Eine grobe Schätzung nach der Steuerstatistik 1957 ergibt für Österreich, daß die Besteuerung gemäß den untersten drei Stufen (6 bis 8 Prozent Steuer) etwa 10 Prozent und gemäß den untersten fünf Stufen (6 bis 10 Prozent Steuer) etwa 20 Prozent der Einnahmen aus Lohnsteuer und veranlagter Einkommensteuer liefert. Für die Einkommensverteilung in Österreich ist der österreichische Tarif zweifellos günstiger. [4]

Der dritte Irrtum besteht darin, die Einkommensteuer allein zu betrachten. Es gibt neben der Einkommensteuer noch zahlreiche andere direkte und indirekte Steuern. Steuerpolitisch relevant kann niemals die Wirkung einer einzigen Steuer, sondern stets nur die Progression des ganzen Steuersystems sein, das sich aus progressiven, proportionalen und regressiven (oder degressiven) Steuern zusammensetzt. Für die USA schätzte R. Musgrave die progressive Wirkung des gesamten Steuersystems äußerst gering ein: 27 Prozent Steuer auf die ersten 2.000 Dollar Einkommen, ansteigend auf 33 Prozent für Einkommen zwischen 7.500 und 10.000 Dollar, und 40 Prozent für jedes Einkommen über 10.000 Dollar. [5]

Wenn wir für Österreich eine einfache Überschlagsrechnung machen, vom Tarif 1957 ausgehen und annehmen, daß jeder 10 Prozent seines Einkommens über 9.500 Schilling spart und die indirekten Steuern 10 Prozent ausmachen, dann zeigt sich, daß bei einem (steuerpflichtigen) Einkommen von 20.000 Schilling der Besteuerungsprozentsatz nahezu verdreifacht wird (von 5 Prozent auf 14 Prozent), während er sich bei einem Einkommen von 200.000 Schilling bloß um etwa ein Viertel erhöht (von 28 Prozent auf 34 Prozent).

Illusion Nr. 2

Die zweite wichtige Illusion besteht in der Auffassung, eine direkte Steuer sei grundsätzlich besser als eine indirekte Steuer, vor allem deshalb, weil die direkte Steuer progressiv gestaltet werden könne. Auch hiebei wirken mehrere Irrtümer zusammen.

Erstens schließt man, in Umkehrung des Palmströmschen Schlusses, messerscharf, daß, was getan werden könne, wirklich getan werde. In Österreich werden eine Reihe von Steuern im Bundesfinanzgesetz unter den direkten Steuern aufgezählt, die keineswegs „progressiv“ genannt werden können; ich erwähne die Vermögensteuer (einheitlich 0,5 Prozent), die Grundsteuer (0,2 Prozent mal Hebesatz; eine Abstufung nach Grundstückart ist vorgesehen) und die Gewerbesteuer (5 Prozent vom Ertrag, 0,2 Prozent vom Kapital, 0,2 Prozent der Lohnsumme, jeweils mal Hebesatz).

Der zweite Irrtum besteht in der Annahme, nur eine direkte Steuer könne progressiv gestaltet werden. Verschiedenheiten in der Höhe des Einkommens gehen mit Verschiedenheiten im Konsum Hand in Hand. Wenn man nun z.B. keinen einheitlichen Umsatzsteuersatz einführt, sondern Güter um so höher besteuert, je mehr ihr Konsum im oberen Einkommensbereich konzentriert ist, dann erhält man einen progressiven Effekt. Das Verfahren ist durchaus keine bloße Theorie, sondern wurde — in bescheidenen Grenzen — in der englischen Purchase Tax verwirklicht. Hier ist der Steuersatz nach dem Luxuscharakter des Gutes gestaffelt; er beträgt z.B. für Bekleidung 5 Prozent, für Pelzmäntel aber 25 Prozent. Derselbe Effekt kann bei einer einheitlichen Umsatzsteuer durch separate Besteuerung verschiedener Luxusartikel erreicht werden.

Drittens wird irrtümlich die Annahme für gesichert gehalten, daß direkte Steuern überhaupt nicht und indirekte Steuern zur Gänze überwälzt werden können. Unter den absurden Voraussetzungen, auf denen die Modelle der klassischen und neoklassischen Nationalökonomie aufbauen, ist die Annahme natürlich gesichert. Aber da wir in der Realität weder vollständige Konkurrenz noch völlige Mobilität der Produktionsfaktoren noch völlig rationales Handeln aller Menschen noch unendlich rasche Prozesse und ähnliche Schnurrpfeifereien vorfinden, ist es durchaus möglich, daß direkte Steuern doch überwälzt und indirekte nicht überwälzt werden können. Schon 1897 zeigte F. Edgeworth an einem Beispiel, daß eine indirekte Besteuerung zu einer Reduktion des Preises führen kann. [6] In neuerer Zeit hat C. Föhl das Überwälzungsproblem wieder aufgerollt und gleichsam den Startschuß zu einer neuen Diskussion gegeben, die leider viel zu wenig Beachtung gefunden hat. [7]

Der vierte Irrtum resultiert aus der schlechten Gewohnheit, „wissenschaftliche Beweise“ für die eigenen Vorurteile ohne nähere Überprüfung zu akzeptieren. Seit geraumer Zeit (wahrscheinlich seit 1921, sicher aber seit 1939) existiert ein eleganter mathematischer Beweis dafür, daß eine direkte Steuer die Wohlfahrt der Bevölkerung weniger verringert als eine indirekte Steuer, die den selben Ertrag bringt. Inzwischen sind jedoch einige kritische Stimmen laut geworden — aber offensichtlich nicht laut genug, um allgemein gehört zu werden —, die diesen Beweis in Frage stellen. Ohne hier auf Details einzugehen, sei nur das Grundsätzliche der Kritik skizziert. Der Beweis setzt voraus, daß ein Optimum an Wohlfahrt erreicht ist; es kann jedoch gezeigt werden, daß dieses Optimum in der Praxis unerreichbar ist (so z.B. müßte es dem Arbeitnehmer möglich sein, die Arbeitszeit zu variieren) und daß überdies direkte Steuern das Erreichen des Optimums verhindern. Die indirekten Steuern können nun weiter weg vom Optimum führen, aber es ist auch denkbar, daß sie die Verzerrung durch die direkten Steuern teilweise kompensieren und damit zum Optimum hinführen. [8] Ähnliche Verzerrungen wie durch die direkten Steuern können auch z.B. durch Monopole hervorgerufen und durch indirekte Steuern ebensogut verstärkt wie kompensiert werden.

Neben der Kritik an den grundlegenden Annahmen wurde auch Kritik an der Methode der Beweisführung geübt; es werden nämlich nur einige wenige Größen (Einkommen und Güterpreise, wobei im Modell nur zwei Güter existieren) variiert und die übrigen Größen werden als konstant angenommen, obwohl sie in der Praxis nicht konstant sein können (z.B. die Geldmenge bei sich ändernden Preisen) — es wird von der Einzelperson fälschlich ein Analogieschluß auf die Gesamtheit gezogen. [9]

Schließlich ist der Beweis statisch, denn alles spielt sich im selben Augenblick ab; geht man aber davon aus, daß ein Haushalt sein Einkommen nicht in einem Augenblick, sondern einen Zeitraum hindurch konsumiert und auch spart, dann kommt man zu dem Schluß, daß die indirekte Steuer die Wohlfahrt weniger verringert als die direkte. [10]

Illusion Nr. 3

Die dritte Illusion, nämlich die Auffassung, daß eine Progression nur bei Steuern möglich ist, resultiert aus der mangelnden Fähigkeit des Menschen, sich negative Größen oder — was das selbe ist — die Umkehrung eines gewohnten Prozesses vorstellen zu können. Jedermann ist in der Lage, das Alphabet von A bis Z rasch herunterzusagen. Aber wenn man das Alphabet in umgekehrter Richtung, von Z beginnend bis A, aufsagen soll, dann wird das Tempo wesentlich langsamer sein, weil man die Umkehrung nur mittels eines relativ komplizierten Denkprozesses bewältigen kann.

Steuern sind (in Geld bestehende) Leistungen an den Staat, denen keine unmittelbare Gegenleistung des Staates an den Zahler gegenübersteht. Nun zahlt aber der Staat umgekehrt Geld an diverse Personen aus, wobei der Zahlung keine unmittelbare Gegenleistung des Empfängers an den Staat gegenübersteht (Renten, Beihilfen, Subventionen etc.); wir nennen solche Zahlungen Transferzahlungen. Damit hat man für die selbe Sache zwei Namen, denn die Transferzahlung ist nur eine Umkehrung der Steuer. Transferzahlungen sind negative Steuern. Wer originell sein will, kann mit E. Rolph [11] auch die Steuern als negative Transferzahlungen auffassen.

Weil aber die Menschen sich davor scheuen, mit negativen Größen zu operieren, die sie sich nicht (oder nur schwer) vorstellen können, haben sie die negative Größe durch Einführung eines eigenen Begriffes in eine positive verwandelt, genauso, wie sie aus dem negativen Gewinn einen Verlust gemacht haben. [12]

Wenn aber die Transferzahlung nichts als eine negative Steuer ist, dann muß es auch bei ihr eine Progression oder eine Regression geben, deren Vorliegen nach den selben Kriterien wie bei der Steuer zu beurteilen ist. Gehen wir vom einfachen Fall der Einkommensteuer und der Beihilfe aus. Die Einkommensteuer ist dann progressiv, wenn die in Prozent des Einkommens ausgedrückte Steuer mit steigendem Einkommen wächst. Daraus ergibt sich, daß die Beihilfe dann progressiv ist, wenn sie, in Prozent des Einkommens ausgedrückt, mit steigendem Einkommen abnimmt. [13] Die Kriterien einer proportionalen und regressiven Transferzahlung ergeben sich danach von selbst. Es bedarf wohl auch keiner näheren Erläuterung, daß Renten, Beihilfen und ähnliches negative direkte Steuern sind und Subventionen negative indirekte Steuern.

Es wäre nur folgerichtig, wenn man jene sozialpolitischen Leistungen des Staates, die Transferzahlungen sind, nach den selben Grundsätzen beurteilen würde wie Steuern. Also: je progressiver, desto besser — je regressiver, desto schlechter. Aber daran hindert uns die Illusion, es gebe keine negativen Steuern. Deshalb sind die meisten Leute wohl dafür, daß die Progression bei der Einkommensteuer möglichst flach einsetzen soll und plädieren für einen Stufentarif, bei dem der marginale Steuersatz langsam ansteigt. Aber die Umkehrung der Regel im umgekehrten Fall wird nicht erörtert. Die Kinderbeihilfe z.B. ist zwar progressiv (da sie absolut konstant ist, wird sie mit steigendem Einkommen relativ zu diesem geringer), aber progressiv auf eine äußerst primitive Art, die sich im unteren Einkommensbereich am stärksten auswirkt und zum stärksten (relativen) Absinken führt; mit einer Staffelung der Kinderbeihilfe nach der Einkommenshöhe wäre die Progression zweifellos zu verbessern — aber eine mit dem Einkommen wachsende Kinderbeihilfe würde auf den heftigsten Widerstand gerade jener Kreise stoßen, denen keine Progression flach genug einsetzt und hoch genug ansteigt. [14]

Illusion Nr. 4

Eine vierte Illusion steht zum Teil in ursächlichem Zusammenhang mit der obigen. Sie besteht in der Annahme, zur Einkommens-Umverteilung sei ein progressives System von (positiven) Steuern erforderlich.

Das Wesen und die Aufgabe der Umverteilung, die das Resultat der Sozialpolitik des Staates ist, besteht darin, einerseits Einkommen zu entziehen und anderseits Einkommen (und sonstige Leistungen) zuzuwenden. Die Aufgabe einer sozialen Umverteilung besteht darin, im unteren Einkommensbereich mehr zuzuwenden als entzogen wird, und im oberen Einkommensbereich mehr zu entziehen als zugewendet wird. Anders ausgedrückt: Die Differenz zwischen den vom Staat erhaltenen Leistungen und den an den Staat erbrachten Leistungen muß im unteren Einkommensbereich positiv, im oberen negativ sein.

Bei einiger Überlegung wird man leicht erkennen, daß es nicht unbedingt eines progressiven Systems positiver Steuern bedarf, um diese Umverteilung zu erreichen. Nehmen wir an, in einem Lande gebe es nur eine einzige, proportionale Steuer auf das Einkommen, und der Ertrag dieser Steuer werde in gleichen Kopfquoten auf die Einkommensbezieher aufgeteilt. Dann haben jene, deren Kopfquote größer ist als ihre Steuer — und das sind zwangsläufig die unteren Einkommensbereiche —, eine positive Differenz zwischen erhaltener und erbrachter Leistung aufzuweisen und der Rest — die oberen Einkommensbereiche — eine negative.

Man kann nun unschwer die Bedingungen für eine Umverteilung formulieren: Steigen die staatlichen Leistungen rascher als das Einkommen (regressive negative Steuer), dann muß die Steuerlast noch rascher steigen, d.h. die positive Steuer muß stärker progressiv sein, als die negative Steuer regressiv ist; steigen die staatlichen Leistungen im selben Ausmaß wie das Einkommen (proportionale negative Steuer), dann muß die Steuerlast progressiv sein; steigen die staatlichen Leistungen langsamer als das Einkommen (progressive negative Steuer), dann muß die Steuerlast weniger langsam steigen, d.h. es genügt schon eine proportionale Steuer. Sogar eine regressive Steuer kann zu einer Umverteilung führen, soferne sie nur weniger regressiv ist als die negative Steuer progressiv.

Bedingung für eine Umverteilung ist also, daß entweder die positiven oder die negativen Steuern progressiv sind. Nur dann kann eine Umverteilung stattfinden (aber sie muß es nicht!). In diesem Sinn ist die Forderung nach einer Progression richtig und sinnvoll. Aber genau in diesem Sinn ist die Forderung, wie sie ständig erhoben wird, nicht gemeint, sondern bezieht sich lediglich auf die positiven Steuern.

Daß die Forderung nach einem progressiven System positiver Steuern im liberalen Staat des 19. Jahrhunderts durchaus sinnvoll war, ist leicht einzusehen. Die Leistungen des Staates waren geringfügig; es ist charakteristisch, daß die der Grenznutzenschule entstammende Rechtfertigung einer progressiven Steuer nur das „Opfer“, die „Belastung“ durch die Steuer heranzieht, aber eine staatliche Leistung nicht einrechnet. Da man plausibel annehmen kann, daß die spärlichen Leistungen des Nachtwächterstaates etwa proportional dem Einkommen waren, konnte eine noch so bescheidene Umverteilung nur über ein progressives Steuersystem erreicht werden. Heute jedoch, da der Staat Milliardenbeträge umverteilt und gewaltige Leistungen erbringt, ist die bedingungslose Forderung nach einem progressiven Steuersystem oder einer schärferen Progression eher als historisches Relikt zu betrachten, vor dem man sich ehrfürchtig verneigt, ohne sich — wie die Einführung einer Umsatzsteuer durch die sozialdemokratische Regierung Schwedens zeigt — ihm verpflichtet zu fühlen.

Die Kriterien, nach denen wir bisher Fiskalpolitik und speziell Sozialpolitik gewertet und betrieben haben, müßten also einer gründlichen Revision unterzogen werden. Aber die Desillusionierung darf nicht zu weit gehen. Eine warnende Schlußbemerkung ist durchaus am Platze. Wir verfügen über viel zu wenig Unterlagen, um den Umverteilungsprozeß in Österreich richtig beurteilen zu können. Das spärliche statistische Material erlaubt keine umfassende Untersuchung. Wir tappen daher in der Frage, ob und wieweit und in welcher Richtung eine Umverteilung stattfindet, völlig im Dunkeln. Präzise Entscheidungen setzen nicht nur präzise Entscheidungskriterien voraus, sondern auch die Möglichkeit, diese Kriterien präzise anwenden zu können. In Österreich ist diese Möglichkeit gegenwärtig nicht gegeben. Solange die Forderung nach präzisen statistischen Unterlagen unerfüllt bleibt, ist an eine illusionslose Fiskalpolitik nicht zu denken. Was z.B. in Schweden dank vorzüglicher statistischer Unterlagen möglich ist, muß in Österreich vorläufig noch Wunschtraum bleiben.

Das heißt nicht, daß wir die Illusionen weiter hegen und pflegen sollen. Das heißt nur, daß wir jene einfachen Faustregeln, mit denen wir bisher operiert haben, weiterhin anwenden müssen. Aber wir sollten es, ohne dabei der Illusion nachzuhängen, man betreibe richtige, rationelle Fiskalpolitik. Und das heißt weiter, daß wir gleichzeitig mit allem Nachdruck verläßliche und umfassende statistische Unterlagen fordern müssen. Denn es ist ein unhaltbarer Zustand, primitive Faustregeln statt exakter Kriterien anwenden zu müssen, bloß „weil wir nichts wissen“. Ignorantia non est argumentum.

Steuern auf alle Artikel, die wir zum Munde führen, mit denen wir uns bekleiden, auf die wir treten; Steuern auf alles, was unser Auge, unser Gefühl oder unser Gehör erfreut; Steuern auf Wärme, Licht, Beförderung; Steuern auf alle Dinge der Erde, im Wasser, unter der Erde, auf jede Ware, die wir von auswärts einführen oder im Lande erzeugen, Steuern auf Rohstoffe, Steuern auf jeden Wert, den Menschenfleiß dem Rohstoff hinzufügt; Steuern auf Speisen, die den Hunger des Menschen stillen, auf Arzneien, die seine Gesundheit wiederherstellen, auf den Hermelin, der den Richter schmückt, auf den Strick, mit dem der Verbrecher gehenkt wird, auf des Armen Salz, des Reichen Gewürz, auf Sargnagel und Brautschleier, auf Bett und Tisch! Wir müssen zahlen, ganz gleich, ob wir wachen oder schlafen; der Schulknabe peitscht seinen besteuerten Kreisel mit besteuerter Peitsche, die bartlose Jugend lenkt ihre besteuerten Pferde mit besteuerten Zügeln auf besteuerten Straßen. Ein sterbender Engländer tut seine Medizin, die mit 7 Prozent besteuert ist, in einen Löffel, der 15 Prozent Steuern trägt, wirft sich in sein Bett zurück, das 22 Prozent gekostet hat, und verscheidet in den Armen eines Apothekers, der für die Lizenz, ihn ums Leben zu bringen, etliche Pfund Sterling entrichtet hat. Sein gesamtes Vermögen wird dann unverzüglich mit 2 bis 10 Prozent besteuert, sein Begräbnis kostet hohe Gebühren, seine Tugenden werden auf besteuertem Marmor verewigt. Erst dann kann er zu seinen Vorvätern ziehen, um von nun an nicht mehr besteuert zu werden.

Sidney Smith, 1820

[1„Der Mythos vom Defizit“, FORVM VIII/93.

[2L. Eisenstein: The Ideologies of Taxation, New York 1961, S 126.

[3L. Eisenstein, a.a.O., S. 56. Gemeint sind hier nicht bloß die Steuern aus Einkommen, die die Stufe nicht überschreiten, sondern aus dem gesamten Einkommen, das gemäß der untersten Stufe besteuert wird; jedes Einkommen wird ja zumindest teilweise gemäß der untersten Stufe besteuert.

[4Allerdings beginnt die Progression in den USA mit 19 Prozent. Aber diese Tatsache vermag den Unterschied im Anteil der unteren Stufen nicht zur Gänze zu erklären.

[5Zitiert bei L. Eisenstein, a.a.O., S 56.

[6Das „Edgeworth-Paradox“ wurde zuerst von H. Hotelling verallgemeinert und von W. Vickrey und C. Ferguson näher analysiert. Vgl. Essays in Economics and Econometrics, A Volume in Honor of H. Hotelling, Chapel Hill 1960.

[7C. Föhl: Kritik der progressiven Einkommensbesteuerung, Finanzarchiv, Bd. 14, und „Das Steuerparadoxon“, Finanzarchiv, Bd. 17.

[8Vgl. I. Little: A Critique of Welfare Economics, Oxford 1950, S. 156 ff.

[9Vgl. M. Friedman: The Welfare Effects of an Income Tax und an Excise Tax, Essays in Positive Economics, Chicago 1953, S. 100 ff.

[10Vgl. B. Hansen: The Economic Theory of Fiscal Policy, Cambridge 1958, S. 149 ff.

[11E. Rolph: The Theory of Fiscal Economics, Berkeley und Los Angeles 1956, S. 54 ff.

[12Von der Unfähigkeit, sich eine üblicherweise positive Größe auch negativ vorzustellen, sind auch große Geister nicht verschont geblieben. Böhm-Bawerk ist vom positiven Zins so sehr fasziniert, daß er die Möglichkeit eines negativen Zinses überhaupt nicht in Betracht zieht und den Beweis, daß es einen Kapitalzins geben muß, mit dem Beweis verwechselt, daß es einen positiven Kapitalzins geben muß, was ihm die berechtigte Kritik I. Fishers einbrachte.

[13Das ist auf den ersten Blick vielleicht etwas verblüffend, aber leicht zu beweisen. Für E2 > E1 gilt für die Progression die Bedingung T1/E1 < T2/E2. Nun sind T1 und T2 im Fall der Beihilfe negativ und damit auch die Quotienten negativ. Von zwei negativen Größen ist aber diejenige kleiner, deren absoluter Wert größer ist. Folglich muß T1/E1 absolut größer sein als T2/E2, also die Beihilfe prozentuell bei E1 größer sein als bei E2.

[14Freilich darf nicht übersehen werden, daß die Kinderermäßigung bei der Einkommensteuer eine Ergänzung darstellt und die Progression verbessert.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1963
, Seite 469
Autor/inn/en:

Erwin Weissel:

Geboren 1930, gestorben 2005. Professor für Volkswirtschaft und Finanzpolitik an der Universität Wien. Nationalökonom in der Arbeiterkammer Wien, Leiter der Sozialakademie in Mödling und Leiter des Instituts für Gesellschaftspolitik. Vortragender an der Verwaltungsakademie des Bundes. Zwischen 1969 und 1995 Beisitzer am Kartellgericht in Wien.

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