FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 93
Erwin Weissel

Der Mythos vom Defizit

FORVM betrachtet die Wirtschaftsordnung als eine wesentliche Grundlage der kulturellen Freiheit und war stets bemüht, diesem Thema Beachtung zu widmen. An eine ausgedehnte Diskussion über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft (Hans Lauda/Anton Schopf: „Wirtschaft auf der Waage“, Heft VI/61; Hans Igler: „Der Staat als Unternehmer“, VI/67-68; Gustav Kapsreiter: „Industrie und Politik“, VII/73) knüpfte sich in weiterer Folge eine grundsätzliche Erörterung über das Wesen des Staatshaushaltes (Gustav Kapsreiter: „Der Mythos vom Budget“, Heft VIII/89). Sie findet nun ihre Fortsetzung durch den jungen sozialistischen Nationalökonomen Dr. Erwin Weissel, welcher in der Wirtschaftsabteilung der Wiener Arbeiterkammer tätig ist. Dr. Weissel (ein Sohn des im Februar 1934 getöteten Wiener Schutzbundkommandanten) vertritt eine persönlich profilierte Ansicht, die — wie sich’s versteht — nicht seinem Dienstgeber zur Last zu legen ist, sondern seinem Nonkonformismus, der — ob man ihm zustimmt oder ihn ablehnt — jedenfalls das Wort verdient.

Nach einem bekannten Wort von Marx sind die herrschenden Ideen die Ideen der Herrschenden. Die wirtschaftspolitischen Ideale verschiedener geschichtlicher Epochen bestätigen diese These weitgehend. Eines dieser Ideale, das heute von Politikern aller Richtungen, wo nicht in Taten, so doch in Worten angestrebt wird, ist die Forderung nach dem „ausgeglichenen Staatshaushalt“. Obwohl es der Finanzwissenschaft bis heute nicht gelungen ist, den Einfluß eines Budgetdefizits auf die wirtschaftliche Entwicklung in vollem Umfang und mit allen Konsequenzen zu analysieren, ertönt in politischen Diskussionen immer wieder dieser Ruf. Kein Politiker scheint es der Überlegung Wert zu finden, ob und wie eine solche Forderung in sein wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept paßt. Es genügt ihm, daß er damit die Sympathie der Wähler auf seiner Seite hat.

Dieses Phänomen gehört zur Ideologie, und zwar zur „Finanzideologie“, um deren Erforschung sich besonders F. K. Mann verdient gemacht hat; [1] Österreich ist keine Ausnahme von derlei Übung, die Phrase über das kritische Denken zu stellen. Dabei kann — nach den Worten von F. K. Mann und im Gegensatz zu dem Schulbeispiel der griechischen Sophisten — die Schildkröte der Ideologie den Achilles der Theorie niemals einholen. Im Gegensatz zur Ideologie und im Einklang mit der Theorie fragen wir hier nach der geistesgeschichtlichen Herkunft der Maxime vom ausgeglichenen Staatshaushalt. Zweitens fragen wir nach den Gründen, die diese Maxime heute so populär werden ließen. Drittens wollen wir uns damit beschäftigen, was die Theorie zum Thema „Budgetdefizit“ zu sagen hat. Viertens und abschließend folgen einige Bemerkungen zur spezifischen Situation in Österreich.

Die klassische Schule der Nationalökonomie, deren wirtschaftspolitisches Konzept — der Liberalismus — dem 19. Jahrhundert seinen Stempel aufdrückte, sah im Wirken des Marktmechanismus das Um und Auf der Wirtschaft: Auf dem Markt spielen sich alle Lenkungsprozesse ab, an den Preisen orientieren sich Anbieter und Nachfragende, und der Marktmechanismus bewirkt, daß aus der gegebenen wirtschaftlichen Gesamtlage das Bestmögliche herausgeholt wird. Alle Märkte streben einem Gleichgewicht zu, so daß Eingriffe in den Marktmechanismus schädlich sind. Der Marktmechanismus lenkt Kapital und Arbeitskräfte in jene Branchen, die sie am dringendsten benötigen. Kurzum, der ganze Wirtschaftsablauf wird von einer „unsichtbaren Hand“ gelenkt.

In einem solchen Bild der Wirtschaft war für den Staat kein Platz. Die Klassiker standen jeder staatlichen Aktivität grundsätzlich negativ gegenüber. Für sie war der Staat, seinem Wesen nach, der Wirtschaft völlig fremd und sollte, da er aus deren Erträgnissen alimentiert wurde, möglichst wenig Geld kosten. Da der Staat außerdem sein Geld niemals so rationell und produktiv einsetzen könne wie die Privatwirtschaft, wurde auch das Schuldenmachen des Staates als ein absolutes Übel aufgefaßt. In einfachster Form ausgedrückt, bestand das klassische Konzept in dem Grundsatz, daß der Staat seine Ausgaben nach den Einnahmen richten müsse.

Für die Klassiker stand auch fest, daß jenes Gleichgewicht, dem die Wirtschaft zustrebte, ein solches ist, bei dem alle Arbeitskräfte Beschäftigung finden. Sie befaßten sich daher nur nebenbei — im Zusammenhang mit der Lohntheorie — mit jener Frage, die heute im Mittelpunkt wirtschaftspolitischer Debatten steht, nämlich mit der Arbeitslosigkeit. Ricardos Lohntheorie — später von Lassalle zum „Ehernen Lohngesetz“ umgeformt — behauptete: Der Lohn ist stets gleich den Erhaltungskosten des Arbeiters. Sinkt der Lohn unter dieses Niveau, sterben die Arbeiter allmählich aus und das sich verringernde Angebot drückt den Lohn wieder in die Höhe. Steigt der Lohn über das Niveau, dann vermehren sich die Arbeiter zu stark und das steigende Angebot führt zu einem Sinken der Löhne. Die Vollbeschäftigung stellt sich danach mit Naturnotwendigkeit ein.

Die Frage nach der Beschaffenheit des Gleichgewichtes, dem die Wirtschaft zustrebt, wurde erst in den Dreißigerjahren unseres Jahrhunderts von J. M. Keynes mit der erforderlichen Präzision gestellt und mit dem Nachweis beantwortet, daß auch bei Unterbeschäftigung ein Gleichgewicht denkbar ist. Keynes zeigte auch, daß die private Wirtschaft dann nicht in der Lage ist, Kräfte zu entwickeln, die zu einem neuen Gleichgewicht, und diesmal bei Vollbeschäftigung, führen. Wenn Investitionen nicht rentabel sind, werden sie von den Unternehmern nicht getätigt; gerade diese mangelnde Rentabilität ist die Ursache der Unterbeschäftigung. Hier muß nun der Staat eingreifen, für den von vornherein jede Rentabilitätserwägung wegfällt. Durch staatliche Vergebung von Aufträgen steigt die Nachfrage, und die Rentabilität von neuen Investitionen ist wiederum gegeben. Zur Finanzierung seiner Aufträge soll der Staat Anleihen auflegen, also Schulden machen.

Damit ist eine Abwendung vom klassischen Standpunkt eingetreten, die mit Recht als „Keynes’sche Revolution“ bezeichnet wird. Es wird oft angenommen, die Revolution bestehe darin, daß die Staatsschuld — das Budgetdefizit — nicht mehr als Übel angesehen wurde. Die Wandlung aber geht viel tiefer. In der Keynes’schen Theorie ist der Staat ein Bestandteil der Wirtschaft. Er ist im Räderwerk des Wirtschaftsmechanismus kein Fremdkörper, sondern ein mächtiges, mit gewaltigen Triebkräften ausgestattetes Rad. Hier ist nicht der Ort, um die Theorie von Keynes ausführlich darzustellen oder auf die vielfältige — oft berechtigte — Kritik einzugehen, die an seinem Konzept geübt wurde. Jedenfalls beruht Wirtschaftspolitik im Stil von Keynes auf dem Grundsatz, daß der Staat seine Einnahmen nach seinen Ausgaben richten muß — eine Umkehrung des Grundsatzes, der die Klassik beherrschte.

Die Forderung nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt entspringt damit in ihrer heutigen Gestalt dem Gedankengut des klassischen Liberalismus. Sie ist ein Ausdruck jener Auffassung, die im angelsächsischen Bereich die prägnante Formulierung „He governs best who governs least“ gefunden hat. Wieso hält sich diese Forderung heute noch, da man das Grundkonzept des klassischen Liberalismus aufgegeben hat — da man erkannt hat, daß der sich selbst überlassene Marktmechanismus gewaltige Nachteile hat? In wessen Interesse liegt die Einengung der staatlichen Aktivität?

Revolution mittels Budget

Die staatliche Einnahmen- und Ausgabenpolitik greift in die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Staatsbürger ein und bedeutet daher, gewollt oder ungewollt, eine Einkommensumverteilung, zum Teil sogar eine Vermögensumverteilung. In welcher Richtung sich dieser Umverteilungsprozeß auswirkt, d.h. welche Schichten einen Vorteil erzielen und welche einen Nachteil in Kauf nehmen müssen, hängt von der Gestalt des Steuersystems ab. In unserer Zeit ist das Steuersystem progressiv. Folglich tendiert die Umverteilung dazu, den ärmeren Schichten Vorteile auf Kosten der begüterten Schichten zu verschaffen.

Diese Tendenz wird durch den Umstand verstärkt, daß der Umfang der staatlichen Aktivität in erster Linie auf dem Gebiet der Sozial- und Konjunkturpolitik gewaltig zugenommen hat, und gerade dies sind Aufgaben, deren Bewältigung eine Umverteilung zugunsten der armen Schichten mit sich bringt. Es liegt also im Interesse jener Schichten, die Vermögen oder höhere Einkommen besitzen, daß die staatliche Aktivität möglichst eingeschränkt bleibt. Daß diese Schichten mit den „Kapitalisten“ oder der „besitzenden Klasse“ im Marx’schen Sinn nicht einfach identisch sind, liegt auf der Hand. Vor allem werden die Interessen des sogenannten „Mittelstandes“ durch die Anleihepolitik berührt; der Mittelstand ist nicht in der Lage, durch ausreichenden Erwerb von Anleihepapieren an der Emission zu profitieren und ihn trifft daher der Umverteilungseffekt relativ am stärksten. Bei den reichen Schichten, die aus der Anleihepolitik beträchtlichen Nutzen ziehen können, dürfte eine kompliziertere Motivierung vorliegen, etwa gemäß der Überlegung „ist dem Staat die Möglichkeit genommen, durch Anleihen verschiedene Ausgaben zu finanzieren, dann ist er gezwungen, seine Aktivität einzuschränken.“

Nun wird aber die Forderung nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt auch von jenen Schichten akzeptiert, deren Interessen durch den Umverteilungsprozeß nicht geschädigt sondern gefördert werden. Dies findet seine Begründung darin, daß bei der theoretischen Fundierung der Maxime vom ausgeglichenen Staatshaushalt der Gedanke in den Vordergrund getreten ist, daß damit ein stabiler Geldwert gewährleistet werde, was wiederum die Voraussetzung für das Wirtschaftswachstum und d.h. für steigenden Wohlstand darstellt. Mit dieser Begründung werden die Interessen der minder begüterten Schichten in doppelter Weise angesprochen: eine Geldentwertung trifft gerade die Bezieher niedriger Einkommen am härtesten und steigender Wohlstand bringt ihnen relativ den größten Vorteil.

Ungleiches Gleichgewicht

Die Forderung nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt entspricht also — zumindest scheinbar — den Interessen sämtlicher Schichten der Bevölkerung, und dieser Umstand sichert ihr ungeheure Popularität. Wir haben nun zu prüfen, wieweit die theoretische Fundierung dieser Forderung beweiskräftig ist.

Jede Vereinfachung eines Gedankens birgt die Gefahr einer Fehlinterpretation in sich. Keynes war von der plausiblen Annahme ausgegangen, daß der Staat in einer Depressionszeit zu wenig Einnahmen habe, um seine konjunkturpolitischen Aufgaben zu bewältigen, und daher Anleihen aufnehmen müsse; die Wirkung der erhöhten Staatsausgaben sind zufolge des sogenannten „Multiplikatoreffektes“ expansiv. Jene Kreise, die für unsere Finanz- und Fiskalpolitik verantwortlich sind, übernahmen den Gedanken in einer Vereinfachung, die zu einem Fehlschluß führt. Sie meinen: ein Budgetdefizit wirkt expansiv, ein Budgetüberschuß kontraktiv, folglich ist ein ausgeglichenes Budget neutral.

Der Finanzwissenschaft ist schon seit geraumer Zeit bekannt, daß auch von einem ausgeglichenen Budget eine expansive (oder kontraktive) Wirkung ausgehen kann. Eine Möglichkeit wurde schon von Keynes angedeutet und findet eine klare Darstellung bei Lerner: Wenn durch starke Besteuerung der Reichen Mittel aufgebracht werden, die den ärmeren Schichtenin Form von Steuerermäßigungen, Zulagen, Renten etc. zugeführt werden (die oben erwähnte Umverteilung), dann steigt die Nachfrage nach Gütern und ein expansiver Effekt wird erreicht, ohne das Haushaltsgleichgewicht zu stören. [2] Es ist klar, daß ein Umverteilungsprozeß in der umgekehrten Richtung, nämlich von den ärmeren zu den reicheren Schichten, eine kontraktive Wirkung hat. Eine weitere Möglichkeit wurde von Haavelmo aufgezeigt: Erhöht der Staat seine Ausgaben und gleichzeitig und im gleichen Ausmaß seine Einnahmen, dann ist die Wirkung dieser Maßnahmen trotz des ausgeglichenen Staatshaushaltes expansiv. [3]

Ein ausgeglichenes Budget, für sich betrachtet, beweist noch nicht, daß vom Staat weder eine expansive noch eine kontraktive Wirkung ausgeht. Desgleichen beweist ein Budgetdefizit noch nicht, daß vom Staatshaushalt eine expansive Wirkung ausgeht. Ein Budgetdefizit an sich wirkt freilich expansiv, aber es ist nicht der einzige Faktor, den wir in Betracht zu ziehen haben. Erst wenn wir die Wirkung jedes einzelnen Einnahmen- und Ausgabenpostens berücksichtigen, erhalten wir ein Bild von der Wirkung des Staatshaushaltes.

Wir haben hier vom „Staatshaushalt“ schlechthin gesprochen, weil in den politischen Debatten nur vom „Staatshaushalt“ die Rede ist. Aber der Begriff ist ungenau. In vielen Ländern, darunter auch in Österreich, gibt es neben dem Staatshaushalt im engeren Sinn, nämlich dem Bundeshaushalt, noch die Budgets der Länder und anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften. Ein ausgeglichener Bundeshaushalt — und auf diesen konzentriert sich die politische Debatte, in welcher die Länderhaushalte einfach ignoriert werden — ist also keine ausreichende Garantie für einen ausgeglichenen „Staats“haushalt. Denn „Staats“schulden sind die Schulden der Länder so gut wie die Schulden des Bundes. Von der gesamten Nominalsumme der Anleihen, die von 1953 bis 1960 auf dem österreichischen Kapitalmarkt aufgelegt wurden, stammen z.B. nur 47 Prozent aus Bundesanleihen, die restlichen Anleihesummen stammen von Ländern und Städten (rund 2,5 Prozent), vom Wohnhaus-Wiederaufbaufonds (6,5 Prozent), von der Elektrizitätswirtschaft (41 Prozent), von der Industrie u.a. (rund 3 Prozent). [4] Überdies hat es die Verwaltung in der Hand, die großen Investitionsvorhaben — die durch Anleihen finanziert werden — durch Schaffung von „Fonds“ aus dem Budget auszuscheiden und solcherart den Haushalt „auszugleichen“.

Selbst wenn wir annehmen, daß ein Budgetdefizit expanisiv wirke, bleibt die Frage offen, ob nicht die Kreditexpansion in der Privatwirtschaft die entscheidende Rolle spielt und der öffentliche Sektor nur von sekundärer Bedeutung ist. Nun werden zwar Kredite an die öffentliche Hand genau überwacht und nachgerechnet werden, aber die Kredite an private Unternehmer läßt man zumeist völlig außer acht. Diese Reduzierung der Kausalanalyse auf die Betrachtung des öffentlichen Sektors entspringt der alten, klassisch-liberalen Auffassung, daß der Staat ein wirtschaftsfremdes Gebilde sei, ein Hemmnis in einem selbsttätig abschnurrenden Mechanismus. Der private Sektor darf jedoch nicht außer acht gelassen werden. Bei der Expansion der kommerziellen Kredite (einschließlich Zwischenbankverkehr) in den Jahren 1953 bis 1960 entfiel z.B. nicht einmal ein Achtel auf Kredite an öffentlichrechtliche Körperschaften.

Es kann gezeigt werden, daß ein jährlich ausgeglichener Staatshaushalt die Tendenz mit sich bringt, die konjunkturellen Schwankungen der Wirtschaft zu verstärken. Anscheinend war es dieser Umstand, der die Politiker zu einer Konzession bewogen hat. Sie fordern keinen jährlich ausgeglichenen Staatshaushalt, sondern bedienen sich der „modernen“ oder „fortschrittlichen“ Version: über einen Konjunkturzyklus summiert, müsse der Staatshaushalt ausgeglichen sein, d.h. die Defizite in der ungünstigen Wirtschaftslage sollen durch Überschüsse in der günstigen Wirtschaftslage kompensiert werden.

Selbst wenn wir von der praktischen Schwierigkeit, wo nicht Unmöglichkeit, absehen, den Verlauf und die Dauer eines Konjunkturzyklus vorauszusagen, und wenn wir auch davon absehen, daß ein über den Konjunkturzyklus ausgeglichenes Budget so wenig „neutral“ ist wie ein jährlich ausgeglichenes, bleibt noch immer ein gewichtiger theoretischer Einwand gegen dieses Konzept. Ein Ausgleich ist nämlich nur dann möglich, wenn die Konjunkturschwankungen der Wirtschaft symmetrisch sind (etwa wie eine Wellenbewegung nach Art der Sinuskurve), wobei — und dieses Moment wird meist übersehen — die Symmetrieachse der angestrebte Idealzustand sein muß. Wenn also die Konjunkturschwankungen symmetrisch zu einer Volkseinkommenshöhe mit Unterbeschäftigung sind, dann wird ein Ausgleich des Staatshaushaltes über den Konjunkturzyklus diesen Zustand verewigen, statt ihn zu beseitigen. Dasselbe gilt für den Fall, daß die Konjunkturschwankungen symmetrisch zu einer Höhe des Volkseinkommens sind, bei der die Preisstabilität nicht gewährleistet ist. Zieht man ferner in Betracht, daß in jedem Konjunkturzyklus auch ein Trend steckt, d.h. eine langfristige Tendenz, die von kurzfristigen Schwankungen überlagert ist, dann bleibt von diesem Konzept schlechterdings nichts übrig.

Die Wirtschaft ist endlos

Ein bestimmter Trend ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung: das Wachstum der Wirtschaft. Dafür war im Keynes’schen System kein Platz, da Keynes sich nur mit kurzfristigen Erscheinungen beschäftigt und das Wirtschaftswachstum daher eliminiert hatte. Die Wachstumstheorie ist über die ersten Anfänge noch nicht hinausgekommen, aber eine Tatsache hat sich mit großer Klarheit gezeigt: was unter den Bedingungen eines stationären Prozesses, in dessen Verlauf sich keine wirtschaftliche Größe ändert, Geltung besitzt, muß nicht auch unter den Bedingungen eines evolutorischen Prozesses gelten, in dessen Verlauf sich mehrere oder gar alle wirtschaftlichen Größen ändern. Die Gesetze der Statik sind anders als die Gesetze der Dynamik. Wie sehr sich dabei die Problemstellung verändert, zeigt am besten der grundlegende Gedanke Domars, man müsse das Konzept eines Gleichgewichtes, zu dem die Wirtschaft tendiert, überhaupt aufgeben. [5] Domar sagt ausdrücklich, daß jeder wirtschaftliche Prozeß somit „endlos“ sei, und dieser Gedanke muß alle Überlegungen über das Budgetdefizit beeinflussen.

Der durch den Marktmechanismus bestimmte „Gleichgewichtspfad“ des Wirtschaftswachstums gewährleistet keineswegs automatisch die Vollbeschäftigung. Nach Musgrave „bricht das Konzept einer vom Marktmechanismus bestimmten Wachstumsrate in einem kompensatorischen (d.h. durch Budgetpolitik beeinflußten) System zusammen“. [6] Die Notwendigkeit eines ständigen Budgetdefizits („permanent deficit spending“) kann durchaus gegeben sein. Eine staatliche Wachstumspolitik dürfte ferner, wie Wiles zu zeigen versucht hat, in verschiedener Hinsicht mit der „Souveränität des Konsumenten“ — gleichfalls einer Schöpfung des Liberalismus — in Konflikt geraten und gleicherweise mit den „freien“ Investitionsentscheidungen der Unternehmer.” [7]

Wer solche theoretische Überlegungen für nicht genügend beweiskräftig hält, kann sich an die folgende praktische Erfahrung halten. Die moderne Wirtschaftspolitik will drei große Ziele erreichen: 1. Wirtschaftswachstum, 2. Vollbeschäftigung, 3. Geldwertstabilität. Es hat sich in der Praxis gezeigt, daß nicht alle drei Ziele gleichzeitig erreicht werden konnten, sondern stets zumindest eines den anderen untergeordnet werden mußte: so hat z.B. die Regierung Eisenhower die Stabilisierung des Dollars erreicht, aber sie hat dafür mit Arbeitslosigkeit und verlangsamtem Wirtschaftswachstum bezahlen müssen.

Das Wirtschaftskonzept jedes Politikers müßte demnach, wenn es nicht bloß Phrase sein soll, die klare Aussage enthalten, welchem dieser Ziele gegebenenfalls die Priorität zugebilligt wird. Es ist unverantwortlich, wenn man den Wählern die Verwirklichung aller drei Ziele verspricht, obwohl man weiß — oder wissen sollte —, daß dies nach dem heutigen Stand unserer Kenntnisse unmöglich ist. Es ist ebenso unverantwortlich, die Wähler in dem Aberglauben zu belassen — und diesen Aberglauben womöglich noch auszunützen —, ein ausgeglichenes Budget garantiere einen stabilen Geldwert, obwohl man weiß — oder wissen sollte —, daß diese Garantie hinfällig ist.

In Österreich sind sich die Politiker aller Richtungen in einem Punkt — zumindest offiziell — einig: der Staatshaushalt soll ausgeglichen sein, zumindest über den Konjunkturzyklus, um nicht die Stabilität des Geldwertes zu gefährden. Wie trügerisch diese Argumentation ist, habe ich zu zeigen versucht. Aber in Österreich kommt noch eine weitere Tatsache hinzu, die eine Politik des ausgeglichenen Staatshaushaltes illusorisch macht: die Defizite — sowohl jene der Vergangenheit, wie jene, die uns noch bevorstehen — sind die Folge der Finanzpolitik des ehemaligen Finanzministers Dr. Kamitz. Es wurde damals eine bewußte Politik der Kürzung der Staatseinnahmen betrieben, u.a. durch Steuersenkungen. Von 1953 bis 1960 stiegen die Löhne und Gehälter (inklusive Kinderbeihilfen und Sozialversicherungsbeiträgen der Arbeitgeber) sowie Unternehmereinkommen (einschließlich unverteilter Gewinne der Kapitalgesellschaften) um mehr als 86 Prozent, die Staatseinnahmen aus Lohn- und Einkommensteuer jedoch nur um etwas mehr als 32 Prozent. Selbst wenn man Kinderbeihilfen, Sozialversicherungsbeiträge und unverteilte Gewinne in Abzug bringt, bleibt das Auseinanderklaffen der Zuwachsraten offenkundig. Hingegen stiegen z.B. im selben Zeitraum die Einnahmen aus der Umsatzsteuer um fast 88 Prozent. Von 1953 bis 1960 ist das Volkseinkommen (zu Faktorkosten) um 87,5 Prozent gewachsen, das Bruttonationalprodukt (zu Marktpreisen) um 91 Prozent; die Abgabeneinnahmen haben jedoch nur in derselben Größenordnung zugenommen: brutto 88 Prozent; netto, d.h. nach Abzug der Überweisungen, 80 Prozent. Daraus ergibt sich, daß in unserem Steuersystem jedes progressive Moment ausgeschaltet und eine Einengung der staatlichen Aktivität erreicht wurde.

Verwunderlicherweise haben die sozialistischen Politiker diesen Kurs nicht nur mitgemacht — wofür die Koalition einen Entschuldigungsgrund darstellt —, sondern sie haben im Märchen vom verlorenen Geldwert als führende Statisten mitgespielt, anstatt gemäß den Erkenntnissen der modernen Nationalökonomie zu fordern, daß die staatliche Aktivität auch auf Kosten eines unausgeglichenen Staatshaushaltes entsprechend ausgeweitet werde. Ein Budgetdefizit ist — um dies klarzustellen — nur einer von vielen Faktoren, die den Geldwert beeinflussen können; daß das Defizit hervorgehoben wird, liegt daran, daß es sich hier um einen der wenigen Faktoren handelt, auf die der Staat unmittelbaren Einfluß hat, und nicht etwa daran, daß dieser Faktor an Bedeutung alle anderen weit überragt.

Schulden bringen Segen

Aber die Politiker gefallen sich nun einmal in der populären Rolle des sorgsamen Hausvaters, dem das Schuldenmachen ein Greuel ist. Sie erörtern mit Vorliebe die Frage, wie man ein Wachsen der Staatsschuld verhindern oder gar die Staatsschuld verringern könnte. Was hierauf zu antworten ist, hat Domar in seinem klassischen Essay über „Die Last der Staatsschuld und das Nationaleinkommen“ gesagt: „Wenn diese Leute auch nur halb soviel Zeit, die sie dem Lamentieren über die Staatsschuld widmen, dazu verwenden würden, Mittel und Wege zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums zu finden, wäre ihr Beitrag zur Wohlfahrt der Menschheit bei weitem größer.“

Wohlverstanden: hier wird nicht das Defizit um jeden Preis gepredigt. Die Verschleuderung von Staatsgeldern ist durch nichts zu rechtfertigen. Der Staat hat sorgfältig zu budgetieren und seine Mittel so zweckmäßig wie möglich einzusetzen. Aber die Forderung nach einer ausgeglichenen Gebarung des Staatshaushaltes — sei es über ein Finanzjahr, sei es über einen Konjunkturzyklus — ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Es müßte die Aufgabe der Politiker sein, der Bevölkerurg klarzumachen, daß die Wahl zwischen Budgetdefizit und ausgeglichenem Budget nicht eine Wahl zwischen schwindendem und stabilem Geldwert ist, sondern eine Wahl zwischen ausreichender und unzureichender Sozial- und Konjunkturpolitik. Wie der bekannte Keynesianer Hansen schon vor geraumer Zeit sagte: [8] „Wenn man das Prinzip, daß die Finanzoperationen der Regierung ausschließlich als Instrumente der Wirtschafts- und Sozialpolitik anzusehen sind, mit allen Konsequenzen akzeptiert, dann kann das Konzept eines ausgeglichenen Staatshaushaltes bei der Gestaltung dieser Politik keine Rolle spielen.“

[1F. K. Mann, „Steuerpolitische Ideale / Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung“, Jena 1937. Von der großen Zahl seiner Aufsätze sei in diesem Zusammenhang besonders „Ideologie und Theorie des Haushaltsgleichgewichts“ (Finanzarchiv, Band 21, S. 1 ff.) erwähnt.

[2A. P. Lerner, „The Economics of Control“, New York 1949.

[3T. Haavelmo, „Multiplier Effects of a Balanced Budget“, Econometrica 1945.

[4Diese und die folgenden Zahlen sind den „Mitteilungen des Direktoriums der Österreichischen Nationalbank“, Heft 4/61 entnommen.

[5E. D. Domar, „Essays in the Theory of Economic Growth“, New York 1959.

[6R. A. Musgrave, „The Theory of Public Finance“, New York 1959.

[7P. Wiles, „Growth versus Choice“, Economic Journal 1956. Es ist interessant, daß Wiles in diesem Zusammenhang die Vermutung ausspricht, eine leichte Inflation könne diese Schwierigkeiten überbrücken helfen.

[8A. H. Hansen, „Fiscal Policy and Business Cycles“, New Vork 1941.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1961
, Seite 319
Autor/inn/en:

Erwin Weissel:

Geboren 1930, gestorben 2005. Professor für Volkswirtschaft und Finanzpolitik an der Universität Wien. Nationalökonom in der Arbeiterkammer Wien, Leiter der Sozialakademie in Mödling und Leiter des Instituts für Gesellschaftspolitik. Vortragender an der Verwaltungsakademie des Bundes. Zwischen 1969 und 1995 Beisitzer am Kartellgericht in Wien.

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