FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1979 » No. 303/304
Roger Bernard

Sonnen-Sophismen

In 10 Jahren alles aus Licht?

Sophismus Nr. 1:

Die Sonnenenergie ist schwer nutzbar, weil sie die Erdoberfläche mit geringer Stärke erreicht.

Unter den besten Bedingungen kann man auf einem Quadratmeter Erdoberfläche 1.000 Watt Sonnenenergie „auffangen“. Die Sonnenenergie ist daher so „verdünnt“ — sagt man —, daß ein Sonnenkraftwerk hundertmal soviel Platz braucht wie ein konventionelles E-Werk gleicher Größenordnung. Das sei ein ungeheures, nicht beiseitigbares Handikap.

Bei einem kompletten Vergleich der nötigen Flächen sieht das anders aus:

Ein Sonnenkraftwerk erhält direkt außerirdische Energie. Zusätzliche Anlagen, die der eigentlichen Energieproduktion vorgeordnet sind, werden nicht gebraucht. Hingegen muß man zu einem konventionellen E-Werk jene sehr beträchtlichen Flächen dazurechnen, die von den nötigen vorgeordneten Anlagen eingenommen werden:

  • Kohlenbergwerke oder Ölfelder;
  • Produktionsanlagen, in denen die Kohle (Braunkohle) oder das Rohöl verarbeitet werden müssen, ehe das E-Werk damit etwas anfangen kann;
  • Eisenbahn- oder Hafenanlagen sowie Straßen für den Antransport;
  • Lagerflächen (Kohlenhalden, Ölbehälter).

Endergebnis des kompletten Flächenvergleichs: In den USA z.B. würde die Produktion der gesamten derzeit dort verbrauchten elektrischen Energie durch Sonnenkraftwerke weniger Fläche einnehmen als allein die Fläche der dort betriebenen Tagbaubergwerke für Kohle.

In Frankreich wurde behauptet, daß alle im Jahr 2000 (angeblich) nötigen Atomkraftwerke nicht mehr Platz einnehmen würden als 10.000 Hektar. Nicht gerechnet wurde dabei, daß gemäß dem vorliegenden Plan große Flächen unter Wasser gesetzt werden müssen — zur Umleitung von Flüssen, die das Kühlwasser für die Atomreaktoren liefern sollen. Vergessen wurde auch auf die Flächen für Lagerung und Aufbereitung von Atommüll.

Entscheidend ist aber etwas ganz anderes: Die „Verdünnung“ der Sonnenenergie löst in Wahrheit mehr Probleme, als sie schafft. Wozu soll man die Erzeugung von Energie auf einer kleinen Fläche konzentrieren, nur damit man sie dann auf sehr große weitere Flächen verteilen muß — mit gewaltigen Kosten.

Ist das gar so logisch? Man baut eine thermische Zentrale sparsam direkt neben einem Kohlenbergwerk — und verteilt dann verschwenderisch die Energie mit einem gigantischen, komplizierten, störanfälligen, furchtbar häßlichen System von Masten und Leitungen.

Ein Land wie Frankreich wird überzogen von 33.000 Kilometer Hochspannungsleitungen. Dazu müssen z.B. mitten durch die Wälder Schneisen geschlagen werden, oft mehrere hundert Meter breit.

Das ist „notwendig“. Aber die Notwendigkeit fällt sofort weg, wenn man sich der Sonnenenergie bedient. Die gibt es überall; sie braucht kein Verteilungsnetz.

Atomenergie läßt sich nur in riesenhaften Zentralen herstellen. Sonnenenergie reizt zur Dezentralisierung, sie kann direkt beim Konsumenten erzeugt werden.

Und wenn auf ohnehin vorhandenen Dächern, Häuserfassaden und Terrassen Sonnenenergie gewonnen wird, dann ist der relativ große Flächenbedarf für die Produktion praktisch dennoch bedeutungslos.

Sophismus Nr. 2:

Die Sonnenenergie ist unpraktisch, denn nachts ist sie nicht verfügbar.

Die Sonnenenergie ist dem natürlichen Rhythmus der menschlichen Aktivität angepaßt. „In der Nacht soll man schlafen.“ Ist das eine Banalität? Die Verschiebung des Lebens in die Nacht hinein ist eine wesentliche Ursache für Störungen des biologischen und psychologischen Gleichgewichts beim „modernen“ Menschen.

Worin liegt der „Fortschritt“, wenn um drei in der Früh die Lichtreklame flimmert? Was trägt dies zum menschlichen Glück bei — zu schweigen von dem mit solcher Reklame angepriesenen Konsumplunder.

In den großen Städten steigt die Kriminalität in einer exponentiellen Kurve gleichläufig mit dem Energieverbrauch.

Gewiß müssen bestimmte Dienstleistungen und die dazu nötige Energie auch nachts verfügbar sein (Eisenbahnen, Post, Spitäler usw.). Das läßt sich — gleichfalls umweltsauber und dezentralisiert — mit „zeitverschobener“ Sonnenenergie leisten: hydraulische Energieproduktion nutzt Temperaturdifferenzen in natürlichen Wasserläufen, Quellen oder künstlich angelegten Wasserreservoiren. Die hiefür nötigen Wärmepumpen arbeiten bereits sehr wirtschaftlich.

Trotz nächtlichem Energieverbrauch, wie ihn das „moderne“ Leben (angeblich) erfordert, besteht gegenwärtig eine gewaltige Differenz im Energieverbrauch zu Tagesspitzen und in der Nacht. Mit dem nächtlichen Energieüberschuß können konventionelle thermische Kraftwerke eigentlich nichts anfangen, als sich selber verschwenderisch zu beleuchten. Ist das „wirtschaftlich“?

Sophismus Nr. 3:

Sonnenenergie läßt sich nicht speichern.

Traditionell wird Energie im Bereich ihrer unmittelbaren Produktion gespeichert, z.B. mittels Staubecken, Kohlenhalden, Ölbehältern. Mit Sonnenkraft geht das nicht ohne weiteres.

Die bessere, elegantere Problemlösung liegt aber ohnehin woanders: Speicherung nicht im Produktions-, sondern im Konsumbereich. Bereits produzierte und angelieferte Energie, z.B. für Heizung, soll nicht gleich wieder durchs Fenster, durch die Wände. Worauf neue Energie von der Produktionsseite angeliefert wird — Verschwendung also.

In der einfachsten Fassung des Problems heißt dies: Speicherung der bereits produzierten Wärme. Beim Übergang zur Sonnenenergie kommt hinzu: gleichzeitiges Einfangen und Speichern von Sonnenwärme.

In den USA haben F. Trombe und J. Michel für warmes Klima Hauswände entwickelt, die beide Funktionen erfüllen. Die eingefangene und gespeicherte Energie geben sie in so langsamem Tempo nach innen ab, daß auch bei niedrigen Außentemperaturen keine Abkühlung unter 12 Grad eintritt. Die Wände enthalten kristallisiertes Natriumsulfat. Die Kristalle schmelzen in der heißen Tageszeit (ab 32°) und absorbieren dabei Wärme (50 kal pro Gramm). Diese Wärme geben sie dann langsam nach innen ab und werden dabei wieder fest. Auch durch Lagerung von anderen besonders speicherfähigen Materialien im Untergrund rund um das Haus läßt sich ein solcher Effekt erzielen.

Im Grunde ist das nur die Verstärkung eines Vorgangs, der ohnehin stattfindet: jedes Haus speichert Sonnenwärme in den Tagesstunden und gibt sie in der Nacht wieder an die Räume ab. Leider hat sich eine zweckmäßige Wahl der Materialien und der Stärke der Mauern in der modernen Architektur nicht durchgesetzt. Sie baut stur die gleichen Häuser von Dakar bis Stockholm.

Die Speicherung von Sonnenenergie auf lange Zeit ist von der Natur bereits auf mehrere Arten gelöst:

Wasser wird durch Sonnenenergie verdampft, bis auf die Gipfel der Berge gepumpt und dort wieder in Wasser oder Schnee verwandelt. Eine gewaltige Energiereserve, die wir seit ungefähr einem Jahrhundert in Elektrizität verwandeln können. Diese indirekte Sonnenenergie deckt fast den ganzen Energiebedarf in Ländern wie der Schweiz oder Norwegen.

Pflanzen speichern Sonnenenergie durch „Photosynthese“. Wir nutzen diese indirekte Sonnenenergie als Nahrungsmittel, Bauholz usw. Man kann diesen Energievorrat durchaus vergrößern, z.B. durch Züchtung von Algen. Aus ihnen läßt sich dann zum gewünschten Zeitpunkt Wärme gewinnen — einfach durch Verbrennen nach Trocknen in der Sonne oder durch chemische Zersetzung in brennbares Gas (Methan).

Die Ozeane sind ein praktisch unerschöpflicher Speicher von Sonnenenergie. Zwischen Oberfläche und Tiefe besteht ein Temperaturunterschied, der zur Energiegewinnung nutzbar wäre. Mit dieser „Solar Sea Power“ befaßt man sich schon seit geraumer Zeit in den Vereinigten Staaten.

Langfristige Speicherung von Sonnenenergie auf indirekte Weise findet also ohnehin auf natürliche Weise statt und läßt sich durchaus noch verstärken. Die direkte Speicherung von Elektrizität ist ja genauso schwierig wie die direkte Speicherung von Sonnenenergie. Auch zur Speicherung von Elektrizität mußte man sich Umwege einfallen lassen (Stauseen, Batterien usw.). Bei der Sonnenenergie hat man gewisse solcher Möglichkeiten kaum noch in Betracht gezogen, z.B. die Nutzung von Sonnenwärme zur Spaltung von Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff zwecks Speicherung von Wärme im Boden.

Diese Probleme könnten rasch gelöst werden, wenn man für die Erforschung der Sonnenenergie auch nur annähernd soviel aufwendete wie für Atomforschung oder die Entwicklung neuer Kriegswaffen.

Sophismus Nr. 4:

Der Nutzeffekt der Sonnenkraftwerke liegt unter dem Durchschnitt der übrigen Energieproduktion.

Die traditionellen Energieproduzenten reden mit Herablassung vom Nutzeffekt etwaiger Sonnenkraftwerke. Er beträgt angeblich bloß 10 Prozent, der eines Atomkraftwerks 33 Prozent. Das ist aber der Bruttoertrag bei Umwandlung von atomarer Wärme in Elektrizität innerhalb eines Atomkraftwerks. Der Nettoertrag eines Atomkraftwerks ist viel niedriger. Er ist das Verhältnis zwischen der Energiemenge, die seit Bestehen des AKW produziert wurde (Lebenszeit eines AKW derzeit etwa 10 Jahre), und der gesamten Energiemenge, die nötig war zur Errichtung des Kraftwerks, zur Erhaltung seiner Betriebsfähigkeit, zu seiner Demontage und zur Entseuchung des Bodens, auf dem es stand, und schließlich zur Rückgewinnung von Brennstoffteilen, zur Lagerung und Überwachung des Atommülls während mehrerer Jahrhunderte oder gar Jahrtausende.

Diese ganze Energierechnung beruht überhaupt auf einer falschen Annahme: Es ist nämlich sinnlos, den (angeblich) geringen Ertrag bei der Nutzung einer unerschöpflichen Energiequelle zu vergleichen mit dem (angeblich) höheren Ertrag der Nutzung von Energiequellen, deren rapide Ausschöpfung sich bereits abzeichnet.

Was ist gescheiter? Man gewinnt (angeblich) 33 Prozent aus einer schon zu Ende gehenden Energiequelle und verliert unwiederbringlich die übrigen zwei Drittel. Oder man gewinnt 10 Prozent aus einer Energiequelle, die sich ohne unser Zutun nach eigenen Gesetzen verzehrt und wieder erneuert.

Sophismus Nr. 5:

Die Kilowattstunde aus Sonnenenergie ist kommerziell nicht wettbewerbsfähig.

Sonnenenergie ist nicht einfach „gratis“. Um Sonnenenergie in nutzbare Form zu bringen (Elektrizität, Wärme), muß man Maschinen entwickeln, bauen und betreiben; das kostet. Die kostenlose Sonne ist ein Mythos. Die zu teure Sonne gleichfalls.

Es geht um die Frage: Zu teuer für wen?

Die Kostenrechnung sieht ganz verschieden aus, je nachdem, ob man Konsument ist oder Produzent.

Der Produzent von Elektrizität denkt „panelektrisch“. Auch wenn der Konsument Wärme will, der Produzent liefert ihm Elektrizität, die dann erst in Wärme umgewandelt wird — mit riesigen Verlusten. Was man einfach machen könnte, nämlich Wärme gleich als Wärme zu produzieren, macht man kompliziert — aus kommerziellen Gründen.

Verwandelt man Sonnenenergie direkt in Wärme, ist das logischer und auch billiger. Der Preis der Sonnenenergie für Wärmezwecke ist bereits jetzt niedriger, wenn man sie direkt nutzt und nicht auf dem Umweg über Elektrizität.

Viel höher ist der nominelle Preis für die Verwandlung von Sonnenenergie direkt in Elektrizität — durch Fotozellen, Sonnenbatterien u.dgl. Auch das muß nicht so bleiben; der Wattpreis für direkte solare Elektrizität wird laut Seaborg binnen weniger als 10 Jahren von derzeit 175 Dollar auf 50 Cent sinken, durch Verbesserung und Massenproduktion der Fotozellen.

Im übrigen ist der Kostenvergleich zwischen Elektrizität aus Sonnenenergie und Elektrizität aus Kohle oder Öl nur dann so günstig für Kohle und Öl, wenn man auf die wirklichen Kosten vergißt und nur jene berechnet, die durch Bau und Betrieb des traditionellen Kraftwerks anfallen.

Diese Berechnungsweise ist nur möglich:

  • weil die Meere „kostenlos“ sind, die durch Öltanker verdreckt werden; eine Ölschicht breitet sich aus, die das Plankton tötet, Produzent von lebenswichtigem Sauerstoff;
  • weil die Flüsse „kostenlos“ sind, die als Kühlwasser benützt werden; das zerstört immer mehr das lebenswichtige Wärmegleichgewicht im Naturhaushalt;
  • weil die Luft kostenlos ist, die durch Abgase der Wärmekraftwerke verdreckt wird; rapide wächst der Anteil an tödlichem Kohlendioxyd in der „zivilisierten“ Luft, desgleichen der Anteil an radioaktivem Krypton; von 1970 bis 2000 wird er in den USA von 1,2 auf 1.160 Megacurie steigen; die Japaner müssen schon zahlen, wenn sie saubere Luft wollen — aus Sauerstoffautomaten, Triumph der Profitmacherei.

Für die Dritte Welt ist Sonnenenergie eine besondere Chance. Sie ist in vielen dieser Länder reichlich vorhanden. Sie könnte ihnen jene Verwüstungen ersparen, die bei uns von der Energie-Schwerindustrie schon angerichtet wurden. Sie würden kein grausliches, teures, störanfälliges Leitungsnetz brauchen.

Aber die Energiemultis sind ja längst unterwegs und verpassen den Entwicklungsländern die Zwangsjacke der traditionellen Energieproduktion.

Sophismus Nr. 6:

Die Sonnenkraftwerke werden erst 1990 technisch so weit entwickelt sein, daß sie Energie im großen Maßstab liefern können.

Falsch. Nach Schätzung des US-„Solar Energy Panel“ läßt sich für ganz Amerika die Heizung mittels Sonnenenergie binnen 5 Jahren verwirklichen, solare Klimatisierung und Kühlung binnen 6 bis 10 Jahren, kommerzielle solare Stromproduktion binnen 10 bis 15 Jahren. Entsprechende Forschung vorausgesetzt, d.h. ein „Crash-Programm“ — wie für die mörderische Atombombe oder die sinnlose Reise zum Mond.

Wie es aussieht, wird aber die Forschung — aus militärischen Gründen — eher in Richtung künstliche Kernfusion vorangetrieben, statt sich der natürlichen, von der Sonne betriebenen Fusion zu bedienen. Auch steckt in der Sonnenenergie, weil unkompliziert, dezentralisiert, schwerindustriell nicht nutzbar, einfach viel weniger Geschäft.

So wird die Sonnenenergie höflich in den Wartesaal komplimentiert, mit der Aufschrift „Energie von morgen“.

Derzeit decken wir unseren Energiebedarf zu 92 Prozent, indem wir das vorhandene Kapital an irdischen Energiereserven auffressen und verschwenden. Die Sonnenenergie ist keine „Ersatzenergie“. Es ist umgekehrt: Die derzeitigen Energiequellen sind Ersatz für Sonnenenergie, und diesen Ersatz werden wir rasch verbraucht haben.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1979
, Seite 39
Autor/inn/en:

Roger Bernard: Physikprofessor an der Universität Lyon I

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