FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1975 » No. 263/264
Cornelia Frey

Revolution, im Fluge

Man kommt hier einfach nicht mit — was immer man schreibt, denkt, quatscht, stimmt eine halbe Stunde später nicht mehr. Man hat den ganzen Tag das Radio laufen, liest Zeitungen überall, in Zügen, Hotelhallen, Telefonzellen, Stehcafés, Restaurants, Fabrikskantinen, die Leute über Zeitungen gebeugt, diskutierend.

Gestern (Donnerstag, 6. November 1975) den ganzen Tag die Manifestation vor dem Ministerium für soziale Kommunikation: Die Arbeiter wollen die Demission dieses Faschisten Ferreira de Cunha (jetzt Staatssekretär), der mit dem CDI zusammengearbeitet hat (das CDI, das „Dokumentations- und Informationszentrum“ sammelte und analysierte die staatspolizeilichen Informationen unter dem Gaetano-Regime). Die Polizei versuchte, die Arbeitermassen mit Tränengas zu zerstreuen (sie waren den Demonstranten im Gebäude zu Hilfe gekommen). Man schoß sogar auf die Arbeiter — drei oder vier Verwundete, einer schwer. Später verbarrikadierte sich die Polizei im Ministerium und traute sich nicht mehr raus. Die Menge draußen, mittlerweile durch Arbeiter der Setnave- und Lisnave-Werft sowie Passanten und Hunderte Soldaten verstärkt, hätte sie zerrissen.

Es wurde spätnachts. Am Balkon die Angestellten des Ministeriums, Kommuniqués verlesend, Telegramme von Betrieben, unten am Platz Tausende Menschen, von Soldaten beschützt. Drinnen irgendwo die Polizei und der Staatssekretär. Die Regierung ließ durch Boten verkünden, daß sie dieser Provokation ein Ende setzen werde usw., Hubschrauber kreisten über dem Ministerium, niemand wußte von wo. Ständig ging die Rede, daß die Arbeiter mit Hilfe der Soldaten das Gebäude stürmen würden, wenn die Regierung nicht die Entfernung und Entlassung dieses Oberstleutnant Cunha zusicherte. Endlich wurde er heute früh (Freitag) von schwerbewaffneten Marinern herausgeholt.

Die Soldaten vor dem Gebäude waren nicht bewaffnet, die drinnen versteckte Polizei (PSP und GNR) wohl mit Pistolen und Gewehren. Doch standen Lastwagen voll revolutionärer Militärpolizei herum, außerdem waren die Soldaten in den Kasernen wachsam und einsatzbereit (COPCON-Alarm zur Überwachung der Luftwaffenmanöver vom 7. bis 9. November). „In zehn Minuten sind sie da, wenn wir sie rufen“, sagte mir ein SUV-Mann.

Während der Demonstration fanden Kämpfe vor dem Redaktionsgebäude der Zeitung O Seculo statt, zwischen Arbeitern und SP/MRPP-Schlägern. Unterdessen diskutierten Soares und Cunhal stundenlang im Fernsehen.

Morgens (Freitag, 7. November) flog der Sender von Radio Renascença in Buraca in die Luft. Täter: die neue Regierungstruppe AMI, zusammengesetzt aus ehemaligen Kolonialsoldaten, Fallschirmjägern, Kommandotrupps der Antiguerilla usw. (man erfährt nicht, wer den Befehl gegeben hat, ob der Präsident, die Regierung oder der Revolutionsrat).

In Santarem, 80 km nördlich von Lissabon, kam es Donnerstag abend zu einer Konfrontation zwischen Bauern und Landarbeitern: zwei Tote, 25 Verwundete.

Am Mittwoch warnte das „Komitee der revolutionären Bereitschaft der Luftwaffe“ (wie seinerzeit vor dem Putsch vom 11. März), daß sich „Tausende Reaktionäre in der Luftwaffe auf eine große konterrevolutionäre Operation vorbereiten“. Die Linke eint sich. Bei den Manifestationen sind praktisch alle linken Gruppen vertreten. Nur die KP steht noch immer dazwischen.

Lissabon
Freitag, 7. November 1975

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1975
, Seite 28
Autor/inn/en:

Cornelia Frey:

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