FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 90
Ignazio Silone

Politischer Auto-Stop

Jean-Paul Sartre stopt bei Castro

Jean-Paul Sartre hat im Pariser „Express“ vom 20. April einen Kommentar zur gescheiterten kubanischen Invasion publiziert. Er rechtfertigt darin — wie nach allem, was man von ihm gelesen hat, zu erwarten stand — den neuen Kurs Fidel Castros, welcher sich dem Totalitarismus endgültig verschrieben hat. Sartres Exposition der vorausgegangenen Ereignisse ist, wie immer, von makelloser Klarheit, aber er bietet — wie in seinen Dramen — anstatt der Wirklichkeit bloß deren Allegorie. Demgegenüber findet man eine präzise, reich differenzierte Analyse der komplexen kubanischen Situation in den Aufsätzen jener geflüchteten Intellektuellen, die Gegner des Diktators Batista und Freunde Castros waren, solange dieser sich noch nicht zum reinen Demagogen entwickelt hatte; ich meine Manuel Antonio de Varona, Humberto Medrano, Pedro Vicente Aja, Angel del Cerro, Ameliano Sanchez Arango, Felipe Pazos u.a., derer Essays im Sonderheft „Cuba 1961“ der Zeitschrift „Cuadernos“ vereint sind. Verglichen mit diesen authentischen Widerspiegelungen der Realität erweist sich Sartres Versuch als bloßer Regie-Einfall. Immerhin besteht zwischen ihm und den kubanischen Intellektuellen insoweit Übereinstimmung, als sie für die Verschlechterung der politischen und wirtschaftlicher Situation Kubas den nordamerikanischen Monopolkapitalismus verantwortlich machen.

Daraus folgt jedoch nicht, daß Sartre recht hätte, wenn er Castros „direkte Demokratie“ als notwendige Folge der Entwicklung hinstellt. Diese „direkte Demokratie“ ist keine Erfindung Castros, wie Sartre glauben machen will; es handelt sich um nichts weiter als jene plebiszitäre Pseudo-Demokratie, die in allen modernen Diktaturen auftritt. Hätte Sartre sich für den Lebensweg Mussolinis interessiert, so würde er dabei auf eine große Zahl jener lächerlichen Episoden gestoßen sein, zu deren Erklärung er nun naiverweise Castros Sinn für „direkte Demokratie“ bemüht. Desgleichen hätte er bei Mussolini — für jeden Anlaß in einer anderen Tonlage — das groteske und längst zu Tode strapazierte Argument gefunden, daß die auf der Piazza versammelte Volksmenge die höchste Form der Demokratie darstelle. Eben dieses Argument steht nun neben dem Artikel Sartres in der selben Nummer des „Express“, und zwar ohne redaktionelle Distanzierung. „In Kuba haben wir jeden Monat eine Wahl“, erdreistet sich Herr Castro zu schreiben, „aber es ist eine Wahl auf dem öffentlichen Platz ... Sooft wir wollen, versammeln wir dort eine Million Bürger. Gibt es eine direktere, demokratischere Wahl?“ Nach dem gleichen Prinzip, Herr Castro, wäre das System Hitlers noch viel demokratischer als das Ihre; Hitler hat im Verlauf seiner Herrschaft noch viel mehr Menschen auf öffentlichen Plätzen versammelt als Sie.

Mit überraschender Leichtfertigkeit vertritt Sartre — ein freier und ideologisch desinteressierter Schriftsteller — die These, daß die Kubaner ihre politische Freiheit opfern mußten, um den Erfolg ihrer agrarischen Revolution zu sichern. Warum sollten politische Freiheit und agrarische Revolution unvereinbar sein? Hätte Sartre seine Liebe zu den Bauern nicht erst auf Kuba entdeckt, sondern sich für deren Schicksal schon während seiner Reisen hinter den Eisernen Vorhang interessiert, dann wäre ihm längst geläufig, wohin die agrarische Revolution führt, wenn die politische Freiheit fehlt. Eine solche Revolution beginnt damit, daß den Bauern Land gegeben wird; sie wird fortgesetzt, indem die Bauern in das System des Staatskapitalismus eingespannt werden; sie endet mit der systematischen Ausbeutung dei Bauern zugunsten der Schwerindustrie und mit der brutalen Unterdrückung jeder Regung des Widerstandes unter den Arbeitern der Scholle.

Sartre hätte immer noch Zeit zu lernen. Wenn er darauf Wert legte, könnte er herausfinden, daß alle kommunistischen Länder — trotz sonstiger, sehr großer Unterschiede — eines gemeinsam haben: die agrarische Revolution hat dort ihr vornehmstes Ziel nicht erreicht; die Befreiung der Bauern von jeglicher Form der Ausbeutung ist gescheitert. Am besten haben es noch die Bauern in Mitteldeutschland; sie können nach Westen flüchten. Den andern bleibt nichts übrig, als sich mit jenen tausend Schlichen zu wehren, die von Chruschtschew ebenso ausdauernd wie vergeblich angeprangert werden. Die Bauern wollen sich auf diese Weise ein winziges Stückchen Eigentum wiedererobern — ständig gequält von der Angst, es neuerlich zu verlieren, sowie obendrein bestraft zu werden, und bar jeder gesetzlichen Möglichkeit, sich frei zu assoziieren, um ihre Rechte gemeinsam zu verteidigen.

Auch wer Literat und Philosoph ist, handelt unehrenhaft, wenn er von der „agrarischen Revolution“ schreibt, ohne über deren tragische Folgen nachgedacht zu haben. Diese Folgen beweisen, daß für ein Gelingen der Agrar-Revolution die freie, gleichberechtigte Mitarbeit der Bauern unerläßlich ist — ebenso unerläßlich wie die freie, auf freiem Austrag der Gegensätze beruhende Mitarbeit aller Beteiligten für das Gelingen jeglicher sozialen Emanzipation. Was die totalitären Bürokraten der Pseudo-Revolution für einen gefährlichen Luxus halten, ist in Wahrheit die Vorbedingung des Gelingens jeder echten Revolution.

Dies mag als ein Übermaß an ernsthafter Argumentation erscheinen, wenn man das Verhalten gewisser anderer intellektueller Koryphäen ins Auge faßt, die sich wie Sartre für den südamerikanischen Neo-Diktator liebevoll interessieren. Die Motive dieser Leute sind sehr viel oberflächlicher und frivoler als die Motive Sartres. Es handelt sich bei ihnen um ein altes Phänomen, das derzeit wiederum massenhaft auftritt. Man könnte es als „politischen Auto-Stop“ bezeichnen. Man läßt sich von den jeweiligen Aktualitäten mitnehmen, um sich und den andern die Illusion zu vermitteln, daß man mit der gleichen Geschwindigkeit fortschreitet wie die Geschichte. Diese Art von „rasenden Reportern“ läßt keine Gelegenheit zum Mitfahren aus: Faschismus und Antifaschismus, Kalter Krieg und Tauwetter, Nationalismus und Europäismus — sie fahren mit.

In Italien wird diese Sportart auch von Schriftstellern praktiziert, die wir einmal höher eingeschätzt haben. Aber die Praktiker des Auto-Stop werden bald wieder gelangweilt heimkehren, vielleicht sogar zu Fuß. Und vielleicht werden sie erkennen, daß die menschliche Lebensspanne zu kurz ist, als daß wir sie damit verbringen dürften, uns und die andern zu betrügen bloß um ein bißchen mehr Publicity zu haben.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1961
, Seite 203
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