FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 128
Franz Nemschak

Planung ist nicht Bolschewismus

Planung in der Wirtschaftspolitik darf nicht mit zentral bürokratischer Planwirtschaft östlicher Provenienz verwechselt oder gar identifiziert werden. Die entschiedene Ablehnung des kommunistischen Wirtschaftssystems darf nicht die Erkenntnis trüben, daß auch in einer grundsätzlich über den Markt gesteuerten Wirtschaft eine optimale Entfaltung der Produktivkräfte nicht ohne ein vernünftiges Maß an Planung und Lenkung möglich ist.

Die wirtschafts- und sozialpolitisch gleich wichtigen Ziele: kräftiges Wirtschaftswachstum, dauernde Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards, hohe Beschäftigung, möglichste Stabilität des Geldwertes und ausgeglichene Zahlungsbilanz, lassen sich in der überaus komplizierten, hochspezialisierten und international eng verflochtenen, von starken Verbandsinteressen durchsetzten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft von heute nur dann verwirklichen, wenn die Wirtschaftspolitik planmäßig zu Werke geht und ihre Entscheidungen auf Grund von wohlüberlegten Zielvorstellungen fällt.

Vorbild Frankreich

Diese Erkenntnis setzt sich mehr und mehr in allen westlichen Ländern durch. Am festesten verankert ist der Gedanke der Wirtschaftsplanung in Frankreich. Hier werden schon seit Kriegsende Wirtschaftspläne für Perioden von jeweils vier bis fünf Jahren aufgestellt, in denen die Regierung ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Absichten darlegt. Die Planziele der Regierung haben keinen Zwangscharakter, sondern sind unverbindliche Leitbilder für die Unternehmer-Entscheidungen. Allerdings wird plankonformes Verhalten der Unternehmer durch staatliche Förderungsmaßnahmen unterstützt. Die Breitenwirkung der Planung beruht vor allem darauf, daß die verschiedenen sozialen Gruppen (Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Landwirte, Familienverbände u.a.) an der Ausarbeitung dieser Pläne mitwirken und die Unternehmer die Planziele vielfach freiwillig als Richtschnur für ihre Entscheidungen benützen.

Im Gegensatz zu Frankreich wird in der Bundesrepublik Deutschland die „Planifikation“ oder „Programmierung“ der Wirtschaftspolitik noch mit einiger Skepsis betrachtet. Trotzdem ist man auch hier längst bemüht, der Wirtschaftspolitik wissenschaftliche Grundlagen zu geben. Im Vorjahr wurde ein „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ gegründet, der jährlich ein fundiertes Gutachten erstattet, das die Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen und in der Öffentlichkeit erleichtern soll. Insbesondere für die Gestaltung der öffentlichen Haushalte gelten in der Bundesrepublik mittelfristige Prognosen als nützlich.

In Großbritannien war nach dem Sturz der Labour-Regierung im Oktober 1951 die „Wirtschaftsplanung“ etwas in Mißkredit geraten. Erst in jüngerer Zeit — vielleicht unter dem Eindruck der anhaltenden Stagnation — hat auch die konservative Regierung ein positives Verhältnis zur Planung gewonnen. Der im Herbst 1962 gegründete „National Economic Development Council“ hat die Aufgabe, die Regierung bei der langfristigen Planung der Wirtschaft zu unterstützen. Dieser „Nationale Rat für wirtschaftliche Entwicklung“ hat kürzlich einen langfristigen Plan für die Entwicklung der Wirtschaft bis 1966 erstellt, mit Prognose-Ziffern über Wachstumsrate, Produktion und Investitionen in den einzelnen Branchen sowie mit einer Reihe von Vorschlägen und Empfehlungen für wirtschaftspolitische Maßnahmen.

In den skandinavischen Ländern bildet das jährliche „Nationalbudget“ die Grundlage für die Koordinierung der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, zumindest aber eine Art offizielle Konjunkturprognose, die in Regierung, Parlament und Öffentlichkeit eingehend diskutiert wird.

In noch höherem Maße benützt die Regierung in den Niederlanden das jährliche „Nationalbudget“ als Beratungs- und Orientierungsinstrument.

Selbst das sehr marktwirtschaftlich eingestellte Belgien bedient sich langfristiger Wirtschaftspläne als Rahmen für die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Regierung und für die öffentlichen Investitionspläne.

In Italien gibt es seit 1962 eine „Nationale Kommission für Programmierung“. Sie setzt sich aus Gewerkschaftern, Unternehmern und Experten zusammen. Gegenwärtig wird, unter dem Vorsitz eines Budgetministers, ein Wirtschaftsplan für den Zeitraum von 1965 bis 1969 ausgearbeitet. Schwerpunkte sind Verbesserung der Struktur (Nord-Süd-Gefälle), Sanierung der Landwirtschaft, Neuordnung der Stadtplanung, Vervollkommnung der sozialen Sicherheit, Hebung der Berufsausbildung, kultureller Fortschritt. In die Wirtschaftsplanung werden auch die großen staatlichen Beteiligungen in verschiedenen Industriezweigen einbezogen, nicht dagegen der private Sektor.

Geplanter Kapitalismus

In den Vereinigten Staaten besitzt der Präsident durch den „Employment Act“ von 1946 gewisse gesetzliche Handhaben für eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik. Der Präsident wird vom „Council of Economic Advisers“ beraten. Das „Joint Economic Committee“ ist ein Organ der wirtschaftspolitischen Meinungsbildung des Parlaments; es nimmt zum Bericht und zu den Empfehlungen des Präsidenten kritisch Stellung, macht Sonderuntersuchungen und veranstaltet „Hearings“.

Auch Japan, wo die Privatwirtschaft bei weitem dominiert, hat für die Zeit von 1961 bis 1970 einen „Plan zur Verdoppelung des Nationaleinkommens“ entworfen. Der „Plan“ enthält konkrete Ziffern für wichtige volkswirtschaftliche Größen und wird von einem „Wirtschaftsplanungsamt“ im Ministerrang betreut.

Dieser kurze und unvollständige Überblick möge zeigen, daß heute auch die westlichen Länder, in denen die Wirtschaft grundsätzlich über den Markt gesteuert wird, auf Planung in der Wirtschaftspolitik nicht mehr verzichten wollen, weil sie mit Recht befürchten, daß eine Wirtschaftspolitik des Improvisierens und „Fortwurstelns“ auf die Dauer zum Mißerfolg verurteilt ist.

Im Zeitalter der Düsenflugzeuge und Nachrichtensatelliten, in dem ungeheure Entfernungen in kürzester Zeit überbrückt werden, die einzelnen Volkswirtschaften weltweit zusammenarbeiten und vielfach innig miteinander verflochten sind, genügt es nicht, die Wirtschaftspolitik bloß im nationalen Rahmen zu planen. Immer mehr wird es notwendig, die nationalen Wirtschaftspolitiken auf verschiedenen Gebieten aufeinander abzustimmen, zu koordinieren oder sogar zu fusionieren und gemeinsame Wirtschaftspolitiken zu entwickeln.

In lockerer Form und auf bestimmte Sachgebiete beschränkt, haben bereits bisher verschiedene internationale Institutionen in diesem Sinne gewirkt: die OEEC und OECD, das GATT, die Europäische Konferenz der Verkehrsminister, die Montanunion, auf monetärem Gebiet der „Monetary Fund“, die Weltbank und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Mit der Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, vor allem seitdem diese in die zweite Stufe ihrer Verwirklichung eingetreten ist, wird die europäische Wirtschaftspolitik, zunächst der sechs Mitgliedsstaaten, in einem festeren Rahmen planmäßig auf bestimmte Ziele gelenkt.

Der Rom-Vertrag verwendet nicht ausdrücklich die Worte „Wirtschaftsplanung“ oder „Programmierung“. Aber er enthält in mehreren Artikeln (2, 6, 103 und 145) Bestimmungen über „Koordinierung“, „Abstimmung“ und „graduelle Annäherung der Wirtschaftspolitik“ der Mitgliedstaaten.

Aktionsprogramm der EWG

Unterdessen hat die Kommission der EWG zunächst im „Aktionsprogramm der Gemeinschaft für die zweite Stufe“ vom 24. Oktober 1962 und, in modifizierter Form, in einem Memorandum „Mittelfristige Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft“, vom 25. Juli 1963, das Ende Januar 1964 vom Europäischen Parlament einstimmig gebilligt wurde, ganz konkrete Vorstellungen und praktikable Vorschläge für eine planmäßige Gestaltung der Wirtschaftspolitik in der Marktwirtschaft und freien Gesellschaft entwickelt.

Dieses Konzept scheint mir eine schöpferische Synthese der beiden antagonistischen Ordnungsprinzipien, der Marktwirtschaft und der Planwirtschaft, zu sein. Diese Auffassung wird freilich nicht allseits geteilt, es gibt berühmte Professoren der Nationalökonomie und einflußreiche Politiker, die heute noch jede „Mischung“ der beiden Wirtschaftssysteme als Sünde wider den Geist der freien Welt betrachten.

Die EWG-Kommission denkt offensichtlich nicht an einen bis in das Detail ausgeklügelten Wirtschaftsplan, sondern an eine längerfristige Rahmenplanung. Bereits in ihrem Aktionsprogramm hieß es wörtlich:

Nach Auffassung der Kommission muß die Gemeinschaft über ihre künftige Entwicklung eine mehrere Jahre umfassende Übersicht haben. Diese Vorausschau wäre keineswegs gleichbedeutend mit einem autoritären Plan, der die Freiheit des Marktes beeinträchtigen und den Privatunternehmern vorgeschrieben würde, sondern mit einem Rahmen vergleichbar, in den sich die Maßnahmen der Regierung und der Institutionen einfügen würden.

Ordnungspolitisch steht die EWG fest auf dem Boden des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs. In ihrem Vorschlag „Mittelfristige Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft“ stellt sie schon in der Einführung eindeutig fest:

Das freie Spiel des Marktes ist in den Bereichen, in denen ein ausreichender Wettbewerb herrscht, das wirksamste Mittel zur Bestimmung des rationellsten Einsatzes der Produktionsfaktoren ... Es ist deshalb von Bedeutung, durch eine aktive Wettbewerbspolitik die Konkurrenz zu erhalten ... und sie zu stärken, wo sie sich als unzulänglich erweist.

Punktieren genügt nicht

Trotzdem dürfe man nicht übersehen, daß der Staat auf das Wirtschaftsleben einen bestimmenden Einfluß ausübt und etwa ein Drittel des gesamten Volkseinkommens durch die öffentlichen Haushalte fließt. Die Interventionen des Staates müßten jedoch rationell erfolgen. Wenn der Staat nur punktuell, von Fall zu Fall, eingreift, und wenn er nur die kurzfristigen Auswirkungen berücksichtigt,

besteht die Gefahr, daß die schließlich ergriffenen Maßnahmen einerseits zu spät wirksam werden, um die Entwicklung noch beeinflussen zu können, und anderseits zusammenhanglos und widersprüchlich sind. Es scheint daher immer notwendiger, mehrjährige Überblicke über die künftige Wirtschaftsentwicklung zu erarbeiten, damit sich die Interventionen der staatlichen Organe in einen kohärenten Rahmen einfügen können, sie miteinander vereinbar werden und das freie Spiel des Marktes nur soweit beeinträchtigen, wie es absolut erforderlich ist und von allen zuständigen Instanzen akzeptiert wird.

Mit anderen Worten: der Staat soll nicht erst dann eingreifen, wenn das Dach über dem Kopf bereits brennt, er soll nicht überstürzt Löcher stopfen und dabei noch größere aufreißen, sondern er soll vernünftig und planmäßig vorgehen, nicht eine Wirtschaftspolitk „von der Hand in den Mund“ betreiben, sondern längerfristig und sachkundig, auf Grund von wissenschaftlich erarbeiteten Analysen und Prognosen disponieren. Diese Prognosen sind jedoch nicht starre autoritäre Pläne, sondern bloß Richtschnur und Orientierungsbehelf.

Revolutionär ist die Erkenntnis der EWG, daß infolge der hochgradigen wechselseitigen Abhängigkeit der Volkswirtschaften auch die Wirtschaftspolitik im nationalen Rahmen allein heutzutage nicht mehr erfolgreich sein kann.

In wechselseitig geöffneten Volkswirtschaften üben wirtschaftspolitische Maßnahmen in einem Land Einflüsse auf das Wirtschaftsgeschehen anderer Länder aus. Ebenso können die in einem Land getroffenen Maßnahmen oft nur die gewünschte Auswirkung haben, wenn sie nicht durch entgegengesetzte Maßnahmen anderer Staaten durchkreuzt werden.

Revolutionär sind aber auch die Konsequenzen, welche die EWG aus dieser Erkenntnis zieht, und ihr politischer Wille, das Erkannte in die Tat umzusetzen, nämlich die Wirtschafts- und Sozialpolitik in ihren verschiedenen Bereichen auf europäischer Ebene längerfristig zu planen, zu koordinieren, zu harmonisieren, nötigenfalls zu fusionieren.

Vor diesem Hintergrund leuchtet es ohne weiteres ein, daß sich ein hochentwickeltes, in hohem Maße vom Außenhandel und von der Weltkonjunktur abhängiges Land wie Österreich dem internationalen Trend zur Planung in der Wirtschaftspolitik nicht entziehen kann. Tatsächlich gibt es in Österreich seit 1945 verschiedene Ansätze zur planmäßigen Gestaltung der Wirtschaftspolitik. In den ersten Nachkriegsjahren hatten wir ein eigenes Ministerium für Wirtschaftsplanung (unter Minister Krauland). Hier versuchte ein Team von Fachleuten die österreichische Wirtschaft, die unter Kriegs- und Nachkriegseinwirkungen schwer gelitten hatte, mit Hilfe eines „Kernplanes“ und eines „Konstitutionsplanes“ auf möglichst gesunde Grundlagen zu stellen.

Ende 1949 gingen die Agenden der Wirtschaftsplanung auf das Büro für ERP-Angelegenheiten (unter Minister a.D. Professor Taucher) über. Diese bemerkenswert unbürokratisch amtierende Behörde konzipierte, im Zusammenwirken mit den zuständigen Ressorts und den wirtschaftlichen Körperschaften, das „Österreichische Investitions-Programm 1950/52“. Es wurde in den folgenden Jahren mit Hilfe von Marshallplanmitteln (rd. 34 Mrd. S), so gut es ging, verwirklicht. Die Kriterien, die damals für die Förderung von Investitionsvorhaben gefordert wurden, mögen heute teilweise überholt sein: wie z.B. Entlastung der Zahlungsbilanz durch Finanzierung von Investitionen, die Importe sparen oder Exporte begünstigen.

Diese Zielsetzungen waren für die Fünfzigerjahre berechtigt, als in der ganzen Welt eine scheinbar unstillbare Nachfrage nach Rohstoffen und Halbwaren aller Art bestand, nicht genug Energie erzeugt werden konnte und in den Zahlungsbilanzen der europäischen Länder eine „Dollarlücke“ klaffte. Die unstreitbaren Erfolge sprechen für die damalige Planung. Österreich war viele Jahre hindurch eines der wachstumskräftigsten Länder der westlichen Welt. Die Struktur unserer Wirtschaft, vor allem unsere Industriestruktur, schien besonders gesund. Österreich, das vor 1938 überwiegend Konsum-Fertigwaren herstellte, hat sich nach dem Krieg in ein vorwiegend Grundstoffe und Investitionsgüter produzierendes Land gewandelt. Dadurch war Österreich von Rohstoffimporten relativ unabhängiger geworden, die Struktur unserer Wirtschaft war ausgeglichener („autarker“) und scheinbar widerstandskräftiger.

Österreichs Strukturmängel

Leider sind diese Vorzüge in den Sechzigerjahren fragwürdig geworden. Infolge weltweiter Veränderungen der Produktions- und Bedarfsstrukturen sind Teile der österreichischen Wirtschaft, die bisher zu den expansivsten gehörten, in Schwierigkeiten geraten, zum Teil sogar notleidend geworden. Unter schwerem internationalem Konkurrenzdruck steht Österreich daher vor der Notwendigkeit, seine Wirtschaftsstruktur den neuen Gegebenheiten anzupassen und Arbeitskräfte und Kapital aus minder leistungsfähigen Bereichen und Betrieben in produktivere und zukunftsträchtige umzuschichten.

Zu den erwähnten Strukturschwächen kommen aber noch andere, zum Teil längst fällige wirtschaftspolitische Probleme: unsere leidige Wohnungswirtschaft; der längst fällige Abbau von Subventionen; die vielzitierte Verwaltungsreform; die Kommerzialisierung der schwer defizitären Bundesbahnen; die ungenügende Koordinierung in der Energie-, Bau- und Verkehrswirtschaft; die unzulängliche Landesverteidigung; die sträfliche Vernachlässigung der wissenschaftlichen Forschung und der Mangel an hochqualifizierten Lehrkräften; die Investitionsfinanzierung; die aktive Arbeitsmarktpolitik; die Konjunkturpolitik, die anhaltend kräftiges Wirtschaftswachstum mit möglichster Geldwertstabilität in Einklang bringen soll.

In allen Lagern ist man sich heute darüber einig, daß die hiemit angedeuteten schwierigen struktur- und konjunkturpolitischen Aufgaben nicht durch eine punktuelle, improvisierende Wirtschaftspolitik gemeistert werden können, sondern ein weiterblickendes, längerfristiges Gesamtkonzept der Wirtschaftspolitik, kurzum Planung in der Wirtschaftspolitik erfordern.

Tatsächlich wurden in letzter Zeit von maßgeblichen wirtschaftspolitischen Kreisen verschiedene kritische Untersuchungen unternommen und Vorschläge gemacht, die zur Planung der österreichischen Wirtschaftspolitik führen sollen. Bemerkenswert und für die österreichischen Verhältnisse charakteristisch ist der Umstand, daß diese Impulse nicht von Parlament, Regierung und Parteien ausgingen, sondern durchwegs von den wirtschaftlichen Interessenverbänden der Sozialpartner, der Arbeiter und der Unternehmer.

Planer zu Linken und Rechten

Der „Kautsky-Kreis“ publizierte 1962 eine Broschüre „Währungsstabilität und Wirtschaftswachstum“, in der er sich für die Koordinierung aller wirtschaftspolitischen Maßnahmen von gesamtwirtschaftlicher Tragweite einsetzte und ein „wirtschaftspolitisches Koordinierungskonzept“ anregte. Das Jahr 1963 stand im Zeichen des intensiven geistigen Ringens der Sozialpartner um Verbesserung der Wirtschaftspolitik. Im Frühjahr erschien eine Studie der Wiener Arbeiterkammer mit dem Titel „Wachstumsperspektiven der österreichischen Wirtschaft“. Ein Kapitel brachte eine Vorschau bis 1966. In den wachstumspolitischen Empfehlungen wird für eine sinnvolle Koordinierung der verschiedenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf der Basis eines langfristigen Wachstumskonzeptes plädiert. Im Mai 1963 legte der Gewerkschaftsbund und der Arbeiterkammertag dem wirtschaftlichen Ministerkomitee ein Memorandum vor, das den Ausbau der Paritätischen Preis-Lohn-Kommission nahelegte. Weiters wurde — offenbar nach dem Vorbild der „Planification“ in Frankreich — angeregt, Branchenkommissionen zu bilden sowie ein Programmierungsbüro bei der Nationalbank und einen Programmierungsbeirat einzurichten. Die Paritätische Wirtschaftskommission soll der Bundesregierung jährlich einen Gesamtbericht über ihre Erfahrungen sowie Vorschläge zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik und Gutachten zum Wirtschaftswachstum erstatten.

Die Vereinigung Österreichischer Industrieller nahm zu diesem Memorandum zweimal, im Mai und Oktober 1963, kritisch Stellung. Auch nach Ansicht der Unternehmer habe die Österreichische Wirtschaftspolitik mehr Systematik, Methodik, Konsequenz, kurzum mehr „Planmäßigkeit“ nötig. Die Verbesserung der Wirtschaftspolitik muß jedoch durch Stärkung, nicht durch Aushöhlung der Marktwirtschaft angestrebt werden. Der Einsatz des wirtschaftspolitischen Instrumentariums, d.h. der Budget-, Finanz-, Kredit- und Außenhandelspolitik soll geplant und nicht dem Zufall der Tagespolitik überlassen werden. Die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft befürwortete Ende August 1963 in einem Memorandum die Verbesserung der Statistik und die Koordinierung der verschiedenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf Grund einer vorausschauenden volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Die Erhaltung der Kaufkraft des Schillings bleibe das vorrangige wirtschaftspolitische Ziel. An Stelle neuer Institutionen, die von ÖGB und Arbeiterkammertag empfohlen worden waren, solle ein dritter Unterausschuß der Paritätischen Preis-Lohn-Kommission geschaffen werden, welcher sich mit Grundsatzfragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu befassen hätte. Zunächst solle man sich mit folgenden Fragen befassen: Schaffung eines funktionsfähigen Kapitalmarktes, Budgetpolitik, Lohn- und Sozialpolitik, Finanzierung der Sozialversicherung.

Schließlich trat auch der 5. Bundeskongreß des ÖGB (23. bis 28. September 1963) für eine längerfristige Planung der Wirtschaftspolitik ein. In einer Entschließung wurde betont, daß die europäische Integration an die österreichische Wirtschaft hohe Anforderungen stelle. Es sei notwendig, die erforderlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf streng sachlicher, tagespolitische Gesichtspunkte vermeidender Grundlage zu treffen. Zu diesem Zwecke müßten Wissenschaft und Praxis eng zusammenarbeiten. Ziel dieser Zusammenarbeit sei ein Entwicklungsprogramm der österreichischen Wirtschaft sowie die Ausarbeitung von jährlichen Nationalbudgets, ein langfristiges Budgetkonzept sowie die Förderung des Wettbewerbs in der österreichischen Wirtschaft.

Beirat als Markstein

Bekanntlich führten diese intensiven Bemühungen der Sozialpartner um eine Rationalisierung der österreichischen Wirtschafts- und Sozialpolitik im Oktober 1963 zur Bildung eines Beirates für Wirtschafts- und Sozialfragen der Paritätischen Preis-Lohn-Kommission. Dieser Beirat der Paritätischen Kommission der Sozialpartner wird vielleicht als ein Markstein in die Geschichte der Zweiten Republik Österreich eingehen. Er scheint mir jedenfalls ein geeigneter Ansatzpunkt für die Entwicklung eines „neuen Stils“ der Wirtschafts- und Sozialpolitik in unserem Lande zu sein; und zwar nicht nur wegen der Aufgaben, die er sich gestellt hat, sondern mehr noch wegen der Menschen, die in diesem Beirat und in seinen Unterausschüssen zusammenarbeiten werden.

In diesen Gremien werden sich die Vertreter einer neuen Generation zu ernster sachlicher Zusammenarbeit finden, ökonomisch geschulte, mit den modernen empirisch-statistischen Methoden der Nationalökonomie vertraute Fachleute, fähig und bereit, den Problemen auf den Grund zu gehen und sachliche, gesamtwirtschaftlich vertretbare Lösungen zu finden. Gewiß sind auch diese Fachleute in der Regel weltanschaulich geprägt, haben bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Vorstellungen und Werturteile, aber sie alle sind von der Überzeugung durchdrungen, daß die überaus komplizierten wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme unserer Zeit nur auf dem Boden strenger Sachlichkeit gelöst werden können.

Der Beirat hat die Aufgabe, wirtschafts- und sozialpolitische Fragen unter gesamtwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu untersuchen und Empfehlungen auszuarbeiten, die zur Stabilisierung der Kaufkraft des Schillings, zu einem stetigen Wirtschaftswachstum und zur Vollbeschäftigung beitragen. Die Vorschläge sollen auf objektiv-sachlichen Unterlagen beruhen, die erkennbaren Entwicklungslinien der österreichischen Volkswirtschaft berücksichtigen und eine bessere Koordinierung wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen ermöglichen. Auch Fragen von grundsätzlicher Bedeutung sollen behandelt werden. Gegebenenfalls können auch Alternativlösungen ausgearbeitet werden.

Vorausschau ohne Befugnis

Der Beirat soll sich bei seiner Tätigkeit auf die Mitarbeit der Österreichischen Nationalbank, des Österreichischen Statistischen Zentralamtes und des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung stützen. Für verschiedene Probleme werden „Arbeitsausschüsse“ gebildet, fallweise werden auch Experten aus Wissenschaft und Praxis zugezogen. Vorläufig wurden folgende Arbeitsausschüsse konstituiert: für die Beobachtung der Preis-Lohn-Entwicklung und für die Erarbeitung einer koordinierten Einkommenspolitik, für vorausschauende volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, (unter Leitung und wissenschaftlicher Verantwortung des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung), weiters Arbeitsausschüsse für längerfristige Budgetpolitik, Kapitalmarkt und Integrationsstudien. Alle diese Arbeitsausschüsse arbeiten bereits und haben z.T. schon erste Untersuchungsergebnisse vorgelegt.

Der Beirat besitzt keine Entscheidungsbefugnisse. Er hat seine Untersuchungen der Paritätischen Kommission vorzulegen, welche darüber entscheidet, ob und gegebenenfalls mit welchen Modifikationen die Vorschläge des Beirates der Bundesregierung als Empfehlung überreicht werden. Da jedoch die Fachleute des Beirates das Vertrauen der einflußreichen wirtschaftlichen Körperschaften und maßgeblicher politischer Funktionäre haben, werden die Empfehlungen des Beirates bzw. der Paritätischen Kommission, besonders wenn sie hieb- und stichfest fundiert und genügend realistisch sind, nicht ohne weiteres beiseite geschoben werden können.

Mit der Bildung dieses Beirates scheint Österreich das seinen spezifischen Bedingungen gemäße Instrument für die Bewältigung seiner schwierigen wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme gefunden zu haben.

Dies ist der Extrakt eines Vortrags, den Prof. Dr. Nemschak, Leiter des österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, im März 1964 vor dem Ingenieur- und Architektenverein in Wien hielt. Beiträge von Prof. Nemschak erschienen in den Heften X/112 („... um Europa zu gewinnen“), X/111 („Ein Konzept für Österreichs Integration“) und IX/99 („Koexistenz ist keine Existenzgrundlage“).

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Erstveröffentlichung im FORVM:
August
1964
, Seite 362
Autor/inn/en:

Franz Nemschak:

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