FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1963 » No. 113
Borys Lewytzkyj

Öffentliche Meinung in der Sowjetunion

Zu den bedeutsamsten sowjetischen Neuerungen seit dem Tode Stalins gehört das Entstehen einer öffentlichen Meinung. Eine Parallele zur öffentlichen Meinung, wie sie im Westen heute besteht oder zu anderen Zeiten bestand, kann freilich kaum gezogen werden.

Im Westen hatte sich einst, nach der englischen Revolution sowie insbesondere vor und nach der französischen, in privaten Zirkeln, politischen Salons, Kaffeehäusern und Klubs eine öffentliche Meinung bürgerlichen Typs entwickelt. Sie hatte in Rußland nie Fuß fassen können; ihre zaghaften Ansätze in der Kerenski-Zeit verschwanden im Gefolge der Oktoberrevolution.

Die neue öffentliche Meinung in der Sowjetunion stellt somit schon wegen ihrer Traditionslosigkeit einen Sondertypus dar. In den knapp zehn Jahren ihres Bestandes hat sie sich stürmisch entwickelt.

Denken statt Zitate

Schon die erste Anti-Terror-Welle innerhalb der kommunistischen Bürokratie, die Beseitigung der Willkür des Sicherheitsapparates und die Verkündung der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ führte zu Ansätzen einer öffentlichen Meinung. Nicht nur die Parteibürokratie, auch der einfache Mensch atmete auf. Anfänglich war die veränderte Atmosphäre noch von tiefem Mißtrauen durchsetzt. Vor allem die Intelligenz wollte fürs erste nicht glauben, daß nun selbständig gedacht und kritische Initiative entfaltet werden dürfe. Als 1954 in Kiew das kritische Schauspiel „Die Flügel“ des ukrainischen Schriftstellers Kornijtschuk uraufgeführt wurde, wagte sich keiner der dortigen Rezensenten an eine Besprechung. Man wartete lieber monatelang auf die ersten Kritiken in der Moskauer Presse.

Durch ein wahres propagandistisches Trommelfeuer wollte das Regime die Intellektuellen wie auch die einfachen Leute davon überzeugen, daß man ihr kritisches Mitdenken nun begrüße und auf Zitatlitaneien aus Marx, Lenin und Stalin keinen annähernd so großen Wert lege wie auf „schöpferische Einstellung“.

Allgemein herrscht nun die Einsicht, daß die Beeinflussung der Öffentlichkeit in der neuen Etappe viel komplizierter ist als zu Zeiten Stalins. Die Partei ist für die Verwirklichung ihrer Pläne nun, unter anderem, auf die öffentliche Meinung angewiesen. Folglich versucht sie, diese auf ihre Art zu fördern. Weder mit blind gehorsamen Apparatschiki noch mit passiven, unkritischen Bürgern, verängstigten Wissenschaftlern und Technikern kann der Wettbewerb mit dem Westen durchgestanden werden. Und mit jedem Jahr dieses Wettbewerbs wird deutlicher, daß in der Sowjetunion, mehr oder minder modifiziert, jene Probleme auftauchen, die für jeden modernen Industriestaat typisch sind.

Bisher war die sowjetische Gesellschaft „verstaatlicht“ und folglich in einem bürokratisch-monolithischen System erstarrt. Nun aber muß den gesellschaftlichen Kräften ein gewisses Eigenleben zugestanden werden. Es entstehen dadurch Ansätze zu jenem Pluralismus, welcher der westlichen Gesellschaft eigen ist. In diesem Sinn ist die These des neuen Programms der KPdSU, daß den gesellschaftlichen Organisationen größere Handlungsfreiheit im Leben des Staates eingeräumt werden soll, keine bloße Propaganda.

Des weiteren ist die Forderung des Programms, daß die Partei in der Etappe des „Übergangs zum Kommunismus“ tiefer in die gesellschaftlichen Organisationen eindringen und sie integrieren soll, die Widerspiegelung einer Realität, die das sowjetische Gegenstück darstellt zu dem rapide wachsenden Einfluß politisch-bürokratischer Kräfte in der modernen westlichen Industriegesellschaft.

In der Sowjetunion entstehen Interessengruppen, deren Abstimmung aufeinander zu einem Existenzproblem für die sowjetische Gesellschaft wird. Daraus folgt, daß die öffentliche Meinung aus der künftigen Sowjetgesellschaft nicht mehr wegzudenken ist. Zugleich mit der öffentlichen Meinung wächst auch der Appetit der Partei, diese zu manipulieren und solcherart der Bevölkerung ihren Willen weiterhin aufzuzwingen. Der Partei-Apparat spielt sich dabei als Förderer der öffentlichen Meinung auf, und er wird diese Rolle wohl auch in Zukunft nicht aufgeben können.

Die Avantgarde hinkt nach

Für die letzten zehn Jahre ist es typisch, daß die öffentliche Meinung sich rascher entwickelt, als die Partei ihren Apparat auf diese Entwicklung einstellen kann. Möglicherweise ist dies bloß eine vorübergehende Erscheinung, da die Partei genügend Aufhol-Chancen hat. Die Folgen der bisherigen, überaus raschen Emanzipation der öffentlichen Meinung sind immerhin für die gesamte sowjetische Gesellschaft von so großer Bedeutung, daß ihre Spuren noch lange Zeit sichtbar bleiben werden.

Daß man nach jahrzehntelanger Unterbrechung nun wieder diskutieren gelernt hat und gegen vorgeprägte Formulierungen rebelliert, ist eine große Leistung. Der neue Stil hat sich zunächst bei Naturwissenschaftlern und Nationalökonomen durchgesetzt; seine für das Entstehen der öffentlichen Meinung wirksamste Form hat er schließlich bei den Schriftstellern und bildenden Künstlern angenommen. Noch ehe die neue Gruppe der post-stalinistischen Schriftsteller sich offiziell durchsetzen konnte und Zugang zu den offiziellen Literaturorganen fand, hatten einige von ihnen bereits eine viel größere Zuhörerschaft als viele Prominente. Eine qualifizierte Konsumentenschicht für Kultur hatte sich zu Wort gemeldet und wurde zum gesellschaftlichen Auftraggeber der Künstler.

Kein anderer als der aus der Stalinzeit bekannte Alexej Surkow schrieb kürzlich in der „Literaturnaja Gaseta“ über diese neue Situation. Er erinnerte daran, wie Majakowskij einst um seine Leser kämpfen mußte. Um seinen Gedichtsammlungen den Weg zu bereiten, bereist er das ganze Land. „Es ist ganz einfach: andere Zeiten, andere Leser. Inzwischen haben sie die Gedichte Majakowskijs in einer Auflage von fast 30 Millionen in sich eingesogen und sind davon noch immer nicht gesättigt.“ Voll Erstaunen berichtete Surkow über das blitzartige Verschwinden von hunderttausend Exemplaren eines Gedichtbandes von Jewtuschenko: „Die Herzen von Millionen Menschen, die die Beschlüsse des XX. und XXII. Parteitages gelesen hatten, begannen höher zu schlagen, sie suchten Antwort auf die Fragen, die sich aus der Entlarvung des Stalinkultes ergaben.“ [*]

Auf einer Schriftstellerversammlung in Kiew im November 1962 berichtete Boris Antonenko-Dawidowytsch, wie die öffentliche Meinung auf das Erscheinen von Werken der jungen sowjetukrainischen Schriftstellergeneration reagierte: „Ich war selber Zeuge, wie aus den Fächern der Bibliotheken und Buchhandlungen die Sammelbände von Korotytsch, Wingranowskyj und anderen unter die Leser verteilt wurden. Wenn man wenigstens sagen könnte, daß unsere Kritik eben ihre werbende Aufgabe erfüllt hätte! Aber die Bücher verschwanden, weil die Gerüchte rascher waren als die Kritik und andere Werbung.“

Ähnliches gilt auch für Film und bildende Kunst. Sogar in der Sowjetpresse stand zwischen den Zeilen zu lesen, daß von den 400.000 Besuchern, die im Januar und Februar 1963 die große Moskauer Kunstausstellung gesehen hatten, durchaus nicht alle die modernen Werke von Nikonow, Andronow, Wasnezow und anderen ablehnten. Schon die gegenüber früheren Jahre bedeutend gestiegene Besucherzahl zeigte, daß die Menschen einmal etwas anderes sehen wollten als „Stalin im Kolchos“, „Stalin bei Zaryzin“, und wie die Schinken der sozialistischen Realisten alle hießen.

Das Entstehen eines neuen, durchaus eigenartigen „Kulturmarktes“ manifestiert sich auch darin, daß der Massenbesuch von literarischen Veranstaltungen einen Druck auf die Verlage ausübt, bestimmte Bücher oder Artikel erscheinen zu lassen. Auch der Erwerb von Gemälden und Plastiken durch Privatpersonen wirkt in die gleiche Richtung. Bevor noch die Partei der jungen Generation von Künstlern ihren (vorübergehenden) Segen gegeben hatte, wurden diese von der öffentlichen Meinung bereits als Vertreter der heutigen sowjetischen Kultur anerkannt. Das gilt auch für andere Kulturschaffende, deren Popularität bei den Massen und deren literarisches Gewicht in keinem Verhältnis zur Häufigkeit und zum Umfang ihrer Veröffentlichungen in offiziellen Organen stehen.

Die Abrechnung mit dem Stalinismus geht heute zweigleisig vor sich: in der offiziellen Interpretation durch die KPdSU und als Gewissensfrage der öffentlichen Meinung, als „unbewältigte Vergangenheit“. Und die Partei hat den Wettlauf mit der öffentlichen Meinung ohne Zweifel zunächst verloren.

Als nach dem XX. Parteitag erstmalig weitere Bevölkerungskreise über den Stalinismus zu diskutieren begannen, unternahm die Partei den Versuch, sich in dieser Diskussion das Monopol auf Leitung und Lenkung zu sichern. Wie wenig ihr das gelungen ist, zeigt eine Äußerung der „Literaturnaja Gaseta“ vom 29. November 1962, in der, was sich die Partei als Regelfall wünscht, ausdrücklich als Ausnahmsfall gerühmt wird: „Erst kürzlich haben wir in einem Roman einen Parteifunktionär entdeckt, der, als er von der Tribüne des XX. Parteitages die Wahrheit über Stalin vernahm, sich keinesfalls das Recht anmaßen wollte, über die Fehler Stalins zu urteilen. Er meinte, daß nur die Geschichte und die Partei das Recht auf ein solches Urteil hätten, nicht aber er oder ein anderer Einzelner.“

Was die Rehabilitierung der Opfer Stalins betrifft, kommt es vielfach zu einem erbitterten Kampf zwischen der öffentlichen Meinung und dem Apparat, und dieser Kampf greift auf immer neue Gebiete über. Ist die Stalin’sche Zwangskollektivierung zu rechtfertigen oder zu verdammen? In der „Utschitelskaja Gaseta“ vom 24. November 1962 findet sich ein kritischer Hinweis auf die Neuauflage der „Geschichte der KPdSU“, der einer direkten Stellungnahme der öffentlichen Meinung zur Kollektivierung gleichkommt: „1929 nahm Stalin, indem er die Weisungen Lenins mißachtete und die Direktiven der Partei verletzte, Kurs auf beschleunigte Kollektivierung und setzte die örtlichen Parteiorgane unter Druck.“ Zwar verschweigt der Verfasser der Besprechung viele andere historische Tatsachen, z.B. daß Bucharin diesen Stalin’schen Maßnahmen entgegentrat, doch wird sich die Partei auch in diesem Stück „unbewältigter Vergangenheit“ den Revisionsforderungen der öffentlichen Meinung auf die Dauer nicht entziehen können.

Ein anderes Thema dieser Art ist der Antisemitismus. Jewtuschenkos Gedicht „Babij Jar“ ist nur ein Beitrag zur öffentlichen Auseinandersetzung hierüber. Alexander Balin griff in einem Gedicht alle jene an, die sich an den Repressalien Stalins beteiligt hatten und klagte indirekt auch die Antisemiten an. Rima Kasakowa widmete ihre Gedichte der Judenvernichtung in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Die Sinnlosigkeit solchen Tuns wollte sie durch die Behauptung erhärten, daß Christen und Juden „gemischtes Blut“ hätten — ihr eigener Großvater sei Jude gewesen. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen las die junge Dichterin Junna Moriz Gedichte, die Anne Frank gewidmet sind.

Die Rebellion der Jungen

Die Rebellion der Jungen ist heute das wesentlichste Merkmal der öffentlichen Meinung in der Sowjetunion. Selbst manche Literaten der alten Schule müssen zugeben, „daß die ältere Generation der Schriftsteller unter etwas anderen Verhältnissen angefangen hat“.

Innerhalb der Diskussion über den Stalinismus kommt vor allem die Erörterung der „Schuldfrage“ nicht zum Verstummen. Völlig defensiv und widerspruchsvoll ist die Reaktion der Parteibürokratie. Chruschtschew, der sonst viel zur Reform der Sowjetgesellschaft beigetragen hat, ist ihr eifrigster Wortführer: „Man fragt, ob die Führungskader der Partei damals von den Verhaftungen wußten. Ja, sie wußten davon. Aber wußten sie, daß völlig unschuldige Menschen verhaftet wurden? Nein, das wußten sie nicht. Sie glaubten Stalin und dachten nicht, daß ehrliche, unserer Sache treu ergebene Menschen verfolgt werden.“

In Zeitungen und Zeitschriften werden immer wieder Geschichten erzählt, wie die derzeitigen Führer heimlich den unschuldig Verfolgten halfen; man versucht, ihr Verhalten in der Stalinzeit auf diese Weise vor der öffentlichen Meinung zu rechtfertigen. So schildern die „Voprosy Istorii KPSU“ Nr. 2/1963, daß der bekannte Altbolschewik und Gefährte Lenins, G. I. Petrowskij, dessen drei Söhne bereits liquidiert worden waren, „nur dank der Unterstützung N. S. Chruschtschews der physischen Vernichtung entging“. Half aber Chruschtschew einem ehrlichen Menschen, den Stalin verfolgte, dann wußte er also doch von den Repressalien gegenüber Unschuldigen.

Die härtesten Auseinandersetzungen finden zwischen der jungen Generation und den „Erben Stalins“, den „Neostalinisten“, statt. Das sind jene Vertreter der älteren Generation, die zwar die Beschlüsse des XX. und XXI. Parteitages anerkennen, die Diskussion aber auf eine andere Ebene verlagern wollen. Man solle, meinen sie, die Vergangenheit nicht nur in schwarzen Farben malen — „Unsere Väter haben doch nicht Coupons geschnitten, sondern in Schweiß und Blut gebadet, alles für die Arbeit und den Kampf um das Glück des Volkes geopfert“, schrieb N. Sergowanzew in „Oktjabr“ vom 10. Oktober 1962.

Charakteristisch für die Auseinandersetzungen zwischen den Generationen ist auch die Stellungnahme bekannter Persönlichkeiten der alten Generation für die junge. Ilja Ehrenburg, der in der Stalinzeit eine nicht eben ruhmreiche Rolle spielte, macht nun am Abend seines Lebens manches wieder gut, indem er sich rückhaltlos zu den fortschrittlichen Strömungen bekennt. Der ukrainische Dichter Maksym Rylskyj, immerhin Autor etlicher Oden auf Stalin, setzte sich nach der Dezember-Rede Chruschtschews mit seiner ganzen Autorität für die jungen ukrainischen Schriftsteller ein. Unter dem Titel „Die Kunst — eine ernste Angelegenheit“ schrieb er in der Abendzeitung „Wetschirnyj Kiew“: „Es wäre ganz verfehlt, wenn man bei uns auf Grund des Moskauer Treffens und seines Echos in der Presse Kurzschlußhandlungen oder vorschnelle organisatorische Schlüsse ableiten wollte, wenn z.B. die Leiter unserer Konservatorien und Kunstinstitute Studenten relegieren wollten, die — nach Meinung dieser Leiter — in ihrem Enthusiasmus auf der Suche nach neuen Ufern zu weit gegangen sind.“ Solche mutige Reaktionen von „alten Leuten“ sind heute keine Seltenheit.

Die Partei ist am Bestehen der öffentlichen Meinung interessiert, aber nur insoweit, als sie darin ein Werkzeug für ihre Zwecke sieht. Bei ihren Manipulationen bedient sie sich der verschiedensten Methoden. Zu den subtileren — die sich nur sehr allmählich durchsetzen — gehört der „neue Stil“ der Parteiarbeit: der Kontakt mit den Massen; die vielen langen Reden Chruschtschews direkt vor der Bevölkerung; die Konferenzen zwischen Parteifunktionären und Vertretern verschiedener Bevölkerungsgruppen.

Auf einem anderen Blatt stehen die „administrativen Methoden“, zu denen die Partei auch heute noch gern zurückkehrt. Die unter der Kontrolle der Agitprop-Abteilung der Partei stehenden Literaturzeitschriften verschließen sich beharrlich allen jungen, wagemutigen Schriftstellern. Journalisten, die andere Maßstäbe anlegen, werden von der Partei scharf gerügt. So wurde jüngst der Chefredakteur des „Nowij Mir“, A. Twardowskij, mehrfach angegriffen. Den jungen Schriftstellern wird von der Partei vorgeworfen, daß der Westen für sie Reklame mache. Als Brutstätte „sowjetfeindlicher“ Propaganda werden insbesondere einige Jugendklubs hingestellt. Am 10. Januar dieses Jahres berichtete das georgische Parteiorgan „Sarja Wostoka“ ausführlich über zwei Jugendliche, die dabei ertappt wurden, wie sie mit Taucherausrüstungen auf ein ausländisches, nach Westen fahrendes Schiff gelangen wollten. Die Idee zu dieser verräterischen Handlung sei in einem Tifliser Jugendklub ausgeheckt worden.

Die Führungsspitze weiß aber selbst am besten, daß sie mit „administrativen Maßnahmen“ allein der Öffentlichkeit ihre Meinung nicht mehr oktroyieren kann. Um der Willensübertragung neue Wege zu eröffnen, wurden letzthin Institute für Meinungsforschung gegründet, z.B. eines innerhalb der Redaktion der „Komsomolskaja Prawda“. Auch die Renaissance der Soziologie in der Sowjetunion hängt weitgehend mit dem Wunsch der Partei zusammen, die Bewußtseinsstruktur der öffentlichen Meinung wissenschaftlich zu überwachen. Die Partei hält die potentielle Rolle der öffentlichen Meinung nunmehr für so wichtig, daß sie diesbezügliche ideologische Vorurteile weitgehend aufgegeben und jüngsthin einige hundert Soziologen mit Meinungsbefragungen beauftragt hat.

Es erhebt sich — nicht zuletzt für die Partei selbst — die berechtigte Frage, weshalb die öffentliche Meinung der Boden war, auf dem die Werke Jewtuschenkos, Wosnessenskiijs und anderer Schriftsteller oder auch die Ideen des Ökonomen Professor Liberman herangereift sind. Dies alles sind doch Kommunisten. Wäre nicht zu erwarten gewesen, daß derlei auf dem Boden der Partei sich vollzieht?

Kein Platz für Ideologen

Zu Lenins Zeiten bestand in der Partei eine interne öffentliche Meinung, die man damals „innere Parteidemokratie“ nannte. Es gab verschiedene Standpunkte und Fronten. Lange konnte sich die Partei als „diskutierende Körperschaft“ allerdings nicht behaupten. Der Stalinismus rottete alle wirkliche Diskussion aus. Zwar bemühen sich die Chruschtschewisten um die Wiederherstellung der „Lenin’schen Normen des Parteilebens“, aber die Situation in der Sowjetunion ist heute eine völlig andere als zur Zeit Lenins. Chruschtschew mag an der Wiederherstellung vieler Lenin’scher Grundsätze mehr oder weniger interessiert sein, am wenigsten gewiß an einer innerparteilichen Diskussion. Die Partei ringt zäh um die Verwirklichung der Wirtschaftspläne, und die kürzlich durchgeführte Reform treibt ihre „Ökonomisierung“ auf die Spitze. Dieser Funktionswandel der Partei verringert die Betätigungsmöglichkeit für ideologische „Neuerer“ in ihr. Die Sphäre außerhalb der Partei ist für diese bisweilen das einzige Feld, auf dem sie sich entfalten können. Zwischen Partei und öffentlicher Meinung bestehen solcherart neue Wechselwirkungen. Und ohne Zugeständnisse der Partei geht es nicht mehr.

Auch die Vorgänge im internationalen Kommunismus finden in der jungen sowjetischen Generation starkes Echo. Die Hauptrolle fällt dabei den ideologischen Wandlungen zu, die sich in prokommunistischen marxistischen Kreisen, vor allem in Italien, vollziehen. Zwar hält die sowjetische Partei an ihrem Nachrichtenmonopol fest, aber die Erweiterung der Kontakte zwischen West und Ost trägt kräftig dazu bei, daß immer weitere sowjetische Bevölkerungsschichten über die Vorgänge im Westen informiert sind, was ihrer Meinungsbildung neue Grundlagen gibt.

Der solcherart entstandenen öffentlichen Meinung wird sehr bald historische Bedeutung zukommen. Denn sie hat eine ganz neue Atmosphäre geschaffen, in der nun die junge Generation aufwächst — eine Generation, deren Aufrücken in die Kommandopositionen des zweitmächtigsten Staates der Welt bevorsteht oder sich bereits vollzieht.

[*Vgl. die Gedichtproben auf S. 238 f.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1963
, Seite 219
Autor/inn/en:

Borys Lewytzkyj:

In Wien geboren, ukrainischer Abstammung, ist wissenschaftlicher Konsulent der Friedrich Ebert-Stiftung, Bonn, und Mitarbeiter führender Fachpublikationen für Sowjetologie.

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