FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 89
Daniel Brody

Mein Freund und Autor Hermann Broch

Im Frühjahr 1930 erhielt der Rhein-Verlag ein dreibändiges Romanmanuskript nebst einem Begleitbrief des Autors, Hermann Broch, in dem es hieß, daß „Die Schlafwandler“ — das war der Titel des Romans — im gleichen Verlag erscheinen sollten, der auch den „Ulysses“ von James Joyce herausgebracht hatte.

Wer war dieser Hermann Broch, der einen Roman gleich in drei Bänden schrieb? Ich kannte den Namen von einigen kurzen philosophischen Studien, die in der von Jakob Hegner verlegten Zeitschrift „Summa“ und im „Brenner“ erschienen waren. Aber handelte es sich um den selben Mann?

Ich las das Manuskript, dessen Autor die Vermessenheit hatte, sich gewissermaßen auf eine Stufe mit dem „Ulysses“ zu stellen — und war von der dichterischen Sprache und der Neuartigkeit des ganzen Werkes so beeindruckt, daß ich mich sogleich zur Publikation entschloß. Um einige Einwendungen und Fragen mit Broch persönlich besprechen zu können, suchte ich ihn in seiner Heimatstadt Wien auf. Er wohnte damals im Elternhaus, Gonzagagasse 7, wo er mich auch empfing und seinen Eltern vorstellte. Ich erfuhr von ihm, daß er bis vor kurzem die Textilfabrik seines Vaters geleitet hatte und dieses Amt jetzt niederlegen wollte, um sich ganz der Literatur zu widmen. Seine Aufgabe sah er darin, den in der wirren Weltsituation verlorengegangenen Wertbegriff wieder herzustellen, und da dieser Begriff in philosophischen oder fachwissenschaftlichen Abhandlungen nicht allgemein verstanden worden wäre, wollte er ihn dem Lesepublikum in einer neuen Romanform zugänglich machen. Mit Brochs eigenen Worten: „Dichtung legitimiert sich in der metaphysischen Evidenz, die den Menschen erfüllt und zu der sie vorstößt, wenn die rationalen Mittel des Denkens hiezu nicht ausreichen.“ Meine Bemerkungen hörte er freundlich und aufmerksam an; und in der darauffolgenden Diskussion, in der er auf die meisten von ihnen einging, besprachen wir vor allem die Ausarbeitung des noch nicht vollendeten dritten Bandes.

Hermann Broch war um diese Zeit ein elegant gekleideter Vierziger von sympathischen Manieren, hochgewachsen, aber im Gang etwas gebückt, wobei er den Kopf leicht zwischen die Schultern zog. Seine tiefliegenden dunklen Augen begleiteten jedes Wort und jede Geste mit wechselnden Nuancen, wie ihm überhaupt eine besonders lebhafte Ausdrucksweise eignete, eine Vorliebe für überraschende, witzige Wendungen, eine wienerische Art, sich zu geben. Schon nach kurzem Gespräch stand man ganz im Banne seiner Persönlichkeit.

Die Eltern Brochs waren von der Absicht ihres Sohnes, Schriftsteller zu werden und die Leitung des Familienunternehmens aufzugeben, begreiflicherweise nicht erbaut. Insbesondere seine Mutter wandte sich dagegen und forderte mich während des Mittagessens rundheraus auf, als erfahrener Verleger ihrem Sohn klarzumachen, daß man mit Schriftstellerei kein Geld verdienen könne. Ich konnte mich aus der etwas peinlichen Situation nur dadurch retten, daß ich auf die hohen Qualitäten des Manuskriptes hinwies, die mir einen Erfolg zu garantieren schienen. Broch nahm das mit Humor auf, machte aber bei den Vertragsverhandlungen keine Erwähnung mehr davon. Er war von rührender Bescheidenheit, niemals überheblich oder eingebildet und trug keinerlei „dichterische Allüren“ zur Schau. In kommerziellen Fragen war er von größter Korrektheit und stets bereit, die Risken und Opfer zu berücksichtigen, die der Verlag mit der Publikation eines so schwierigen Erstlingswerkes auf sich nahm. Es war angenehm, der Verleger von Hermann Broch zu sein, obwohl es keineswegs leicht war. Denn als gelernter Geschäftsmann wollte Broch alle Abmachungen zwischen Autor und Verlag ganz genau geregelt haben und wollte sich vor allem die alleinige Entscheidung über die äußere Formgebung seines Romans vorbehalten. Ich wiederum bestand darauf, daß er meine Vorschläge inhaltlicher oder stilistischer Art zumindest in Erwägung ziehe. Die sachliche Zusammenarbeit, die sich solcherart ergab, wuchs sehr bald zur persönlichen Freundschaft. Der Vertrag über seinen zweiten Roman war bereits eine reine Formsache, und über seine folgenden Werke haben wir gar keine Verträge mehr abgeschlossen.

Schon in den ersten zwei Jahren unserer Bekanntschaft gab es einen lebhaften Briefwechsel und häufige persönliche Begegnungen, so daß unsere Beziehung immer enger und herzlicher wurde. Für meine Familie war es stets eine große Freude, wenn Broch bei uns zu Gast weilte, und meine jungen Söhne hingen mit besonderer Liebe an ihm, die auch von seiner Seite erwidert wurde. Er hatte die Gabe, im Umgang mit Kindern und jungen Menschen sogleich den richtigen Ton zu treffen und sich ihr Vertrauen zu erwerben. Auch fiel es ihm nicht schwer, sich in unser häusliches Leben einzufügen. Wir unternahmen lange Spaziergänge, saßen bis spät in die Nacht zusammen und diskutierten über alles Erdenkliche, zumeist über die Funktion der Dichtung als Abhilfe gegen die Verrohung und geistige Verarmung der Welt. Übrigens wußte Broch auch die tiefgründigsten Gespräche mit Reminiszenzen und Geschichten aus dem Wiener Literaturleben aufzulockern und erwies sich als meisterhafter Erzähler jüdischer Anekdoten. Ein anderer für ihn typischer Wesenszug war, daß er sich auch mit scheinbar laienhaften Einwänden ernsthaft auseinandersetzte. Ich erinnere mich eines Besuchs bei der Familie seiner Wiener Sekretärin, deren Großvater, ein richtiges Original, mir im Gespräch mitteilte, daß er den Schutzumschlag der „Schlafwandler“ studiert und an dem Ausdruck „Erneuerung der Romanreform“ großen Gefallen gefunden hätte. „Das dient sicherlich dazu, das Lesen zu erschweren“, sagte er. Broch lachte, bekannte mir aber später, wie sehr ihn der Gedanke quälte, daß das Publikum durch diese neue, schwierigere Form des Romans vom Lesen abgeschreckt werden könnte.

Broch arbeitete am liebsten in ländlicher Stille und war darum oft von Wien abwesend. Ich besuchte ihn in Altaussee, in Mösern, in Baden bei Wien und in Salzburg, wo er sich besonders gerne aufhielt. Er liebte es, während der Arbeit Musik zu hören — das Radio war immer ganz leise eingeschaltet. Er las enorm viel, auch die Bücher junger Schriftsteller, denen er ein väterlich gestrenger Berater war. Neben der Musik galt seine Vorliebe der Malerei, über die er ein großes theoretisches und historisches Wissen besaß. Daß wir unter solchen Umständen keinen Mangel an Gesprächsthemen hatten, ist klar. Und schon um jene Zeit sprach Broch immer häufiger davon, daß es ihm wohl nie gelingen würde, mit seinem dichterischen Schaffen allein seine Ziele zu erreichen; er wollte zu Philosophie und Mathematik übergehen, um die präzise Ausdrucksform für das zu finden, was er zu sagen hatte.

Ganz ungewöhnlich war die Schärfe seiner Beobachtungsgabe. Wenn ich ihn fragte, ob er sich in der einen oder andern von ihm beschriebenen Stadt länger aufgehalten habe, stellte sich gewöhnlich heraus, daß er nur ein einziges Mal zwischen zwei Zügen dort gewesen und über den Bahnhofsplatz nicht hinausgekommen war. Im „Pasenow“, dem ersten Band der „Schlafwandler“-Trilogie, gibt es eine bis in die kleinsten Details ausgeführte Beschreibung des Lebens auf einem preußischen Herrensitz. Ich wollte wissen, woher er diese erstaunlichen Kenntnisse hatte. „Keine Kunst“, antwortete Broch. „Ich war einmal auf einem solchen Herrensitz fast zwei volle Tage zu Gast.“ Eine Reise zu unterbrechen und sie erst mit dem nächsten Zug fortzusetzen, war für Broch ein besonderes Vergnügen. „Umsteigen macht das Reisen interessant“, sagte er. Als er mich einmal nach einem Besuch in Lugano verließ, merkte ich zu meiner Überraschung, daß er das Postauto nehmen, nach Locarno fahren und danach noch zweimal umsteigen wollte, statt einen direkten Zug zu benützen. Er hatte sich die Route eigens so zusammengestellt, um „möglichst viel von der Reise zu haben“.

Nach den „Schlafwandlern“ schrieb Broch in wenigen Wochen den kurzen Roman „Die unbekannte Größe“ (der 1933 erschien). Dann machte er sich an sein zweites großes Werk, dem er den Arbeitstitel „Bergroman“ gab. Ich war schon von der ersten Manuskriptfassung begeistert, aber Broch wollte das Buch unbedingt umarbeiten. In einem Versuch, ihn von diesem Entschluß abzubringen, suchte ich ihn in Gößl am Grundlsee auf. Er logierte dort bei den Bauersleuten Franz und Thres, zwei prachtvollen Menschen, die er sich zum Vorbild zweier Figuren des „Bergromans“ genommen hatte. Es war ein schöner Sommertag, wir saßen abends im Freien und versuchten sogar, unser Nachtmahl auf offenem Feuer zu kochen, was uns gründlich mißlang; schließlich kam uns die Thres zu Hilfe und rettete das Essen. Aber trotz bester Stimmung und allen meinen Überredungskünsten konnte ich Broch nicht umstimmen und mußte ihm das Manuskript zurückgeben.

Broch steckte zu dieser Zeit voll phantastischer Pläne. Er wollte noch andere Kurzromane schreiben, aber auch Dramen und Lustspiele, dann wieder wollte er „das ganze dumme Zeug“ beiseiteschieben und sich ausschließlich auf politisch-philosophisch-psychologische Werke konzentrieren — und daneben ging immer noch das Ausfeilen, Korrigieren und die eigentliche Fertigstellung der „Schlafwandler“. Der dritte Band des Romans hatte im Manuskript nur 140 Seiten umfaßt und Broch schrieb ihn tatsächlich auf den Korrekturbogen zu Ende. Aber es genügte ihm nicht, die Korrekturen anzubringen — er schrieb mir dazu noch lange Briefe, um sie zu begründen und zu erklären, und erteilte zugleich der Druckerei direkte Weisungen, von denen er den Verlag erst nachträglich verständigte. Selbst als der Umbruch schon fertig war, gab er immer noch telegraphisch Korrekturanweisungen an die Druckerei, die schließlich ungeduldig wurde und das Buch zu drucken anfing. Er tat das alles mit solcher Begeisterung und Selbstverständlichkeit, daß man es ihm nicht verübeln konnte. Nicht nur die Korrekturarbeit wollte er dem Verlag abnehmen, auch für die Publizität seines Werkes wünschte er selber zu sorgen. Seine diesbezüglichen Bemühungen waren freilich so unbeholfen, wie sein Eifer rührend war.

Es kam der Krieg und das Exil. Den „Bergroman“ hatte Broch zurückgezogen und den „Vergil“ kaum begonnen, als er emigrieren mußte. Nach seiner Verhaftung in Altaussee, wo er etwa zwei Wochen lang Gefangener der Gestapo war, gelangte er mit Hilfe von ausländischen Freunden, vor allem von James Joyce, zuerst nach England und dann nach Amerika. Die humoristisch verbrämten Berichte, die er über diese Zeitspanne an seine Freunde gelangen ließ, sollten in Wahrheit nur die tiefe Erschütterung überdecken, die ihm der Gedanke an einen plötzlich nahegerückten Tod verursacht hatte. Broch ist von diesem Gedanken nie wieder losgekommen und jene zwei Wochen der Gefangenschaft sind eigentlich zum Wendepunkt in seinem Leben und Schaffen geworden.

Ich habe ihn dann fünf Jahre lang nicht gesehen. Erst als ich 1946 nach Amerika kam, trafen wir uns wieder. Krieg, Krankheit und Sorgen, das Leben in der Fremde und eine riesige Arbeitsleistung, oft sechzehn bis siebzehn Stunden täglich, hatten seine Züge vertieft und verschärft, markanter und herber gemacht. Er war nicht glücklich in Amerika, er sehnte sich nach Europa und „seinem“ Wien zurück, obwohl er wußte, daß es „sein“ Wien nicht mehr gab. In Princeton, wo ich ihn aufsuchte, gingen wir lange in den wunderschönen Anlagen der Universität spazieren. Hier ließe sich doch sicherlich sehr gut arbeiten, meinte ich. „Ja, das schon“, sagte er. „Aber anfangs hab’ ich es mir nicht gegönnt — und jetzt, wo ich’s mir gönne, ist es wahrscheinlich zu spät ...“ An einem der folgenden Tage klagte er über seine Vergeßlichkeit; nicht einmal an die Wiener Straßennamen könne er sich noch erinnern. „Du wirst sehen“, sagte er, „daß ich mich später auch an die New Yorker Straßen nicht mehr erinnern werde. Ich werde nicht einmal wissen, wo du in New York gewohnt hast. Es muß eine Straße irgendwo zwischen der 85. und 87. gewesen sein. Aber die wievielte?“

Auch auf seine Kleidung war er nicht mehr so sorgfältig bedacht wie früher in Wien. Umso mehr achtete er darauf, Freunden, Bekannten und allen, die sich bittend an ihn wandten, Liebesgabenpakete und Unterstützungen zukommen zu lassen. Er übergab mir eine lange Liste von Adressen, an die ich regelmäßig Pakete aus der Schweiz schicken sollte. Alle Leute, die Kinder hatten, sollten Schokolade bekommen, trug er mir auf. Für diese Liebesgaben verwendete er fast sein ganzes Honorar. Er lebte seine Überzeugung, daß es die wichtigste Aufgabe des Dichters sei, der Menschheit zu helfen. Und da er nicht sicher war, ob er das mit seinem Werk zustandebrächte, wollte er es jedenfalls in der Praxis nach besten Kräften getan haben.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1961
, Seite 179
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Daniel Brody:

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