FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1965 » No. 138-139
Ignazio Silone

Massen und Apparate

Notizen zur Soziologie der Industriegesellschaft

In den wenigen Jahren vom Sieg der russischen Revolution bis zum Auftreten der faschistischen Bewegungen in einigen Ländern Westeuropas verlor die Masse ihren Glorienschein. Sie galt nicht mehr als „fortschrittlich und bewußt“, sondern wurde von den Soziologen zur schwerfälligen, stumpfen, unförmig-gesichtslosen Menge herabgewürdigt.

Es mag heute unwahrscheinlich klingen, aber es ist gar nicht so lange her, daß Linksintellektuelle in Paris und New York Zeitschriften mit Titeln wie „Masse“ oder „New Masses“ publizierten, deren Verbreitung sich freilich auf winzige kleinbürgerliche Gruppen beschränkte. Solche ideologische Schwärmerei war durchaus nicht neu, erlangte jedoch in jenen Jahren ihre größte Verbreitung. Diese war die Folge des unerwarteten Triumphes der proletarischen Revolution, nicht in jenen Ländern, wo man dies am ehesten erwartet hätte (in Ländern also, wo die Arbeiterklasse in Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften hervorragend organisiert war), sondern in Rußland, wo die geschichtslose Menge durch eine kleine, kampftüchtige Partei zum Sieg getrieben wurde. Die Begründung des linksintellektuellen Massenkultes war somit nicht banal; der Fehler bestand darin, daß man diese Begründung verallgemeinerte und als Modell ansah.

Der Kult des kollektiven Fanatismus erschöpfte sich nicht im Politischen und nahm zuweilen groteske Formen an. Bei dem Besuch eines Erholungsheims für sowjetische Arbeiter erlebte ich die „kollektive Lektüre“ eines Romans. Da ich nicht Russisch verstand, konnte ich mich auf die Beobachtung der Zuhörer konzentrieren. Sie schienen zerstreut, um nicht zu sagen gelangweilt, nur ein paarmal brachen sie in Lachstürme aus. Als die Vorlesung beendet war, erkundigte ich mich, ob es sich um einen humoristischen Roman gehandelt habe; man belehrte mich, daß gelacht worden war, wenn sich der Vorleser versprochen hatte.

Der mir als Führer dienende Bürokrat verfehlte nicht, mich inmitten einer großen Schar von Arbeitern zu fragen, was ich von dieser, im Vergleich zur bürgerlichen Sitte der individuellen Lektüre, revolutionären Neuerung hielte. Ich war auf eine solche Frage nicht vorbereitet und hielt es für meine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß die kollektive Lektüre ein alter, in den Refektorien unserer Klöster während der Mahlzeiten noch heute geübter Brauch sei. Vielleicht, fügte ich hinzu, hält man an dem Brauch fest, um die Patres von der geringen Qualität der Speisen abzulenken. Ich sagte es ohne Bosheit und nur, um die Leute zu unterhalten; es tat mir leid, daß meine Worte für die Arbeiter nicht übersetzt wurden.

Etwa zur gleichen Zeit lernte ich das Drama „Masse Mensch“ von Ernst Toller kennen. Der Autor hatte es 1919 als ziviler Kriegsgefangener in der bayerischen Festung Niederschönfeld geschrieben. In seinem dem deutschen Expressionismus eigenen frenetischen und exaltierten Ausdruck bleibt „Masse Mensch“ ohne Zweifel ein wesentliches Dokument des Geistes jener Epoche, von der hier die Rede ist. In einem Kreis von Freunden las Toller das Werk mit großer Emphase und Überzeugung vor. Niemand von uns konnte damals ahnen, daß der in so unvorsichtiger Weise gerühmte deutsche Massenmensch sich eben anschickte, Verbrechen aller Art zu begehen, und daß der Dramatiker selbst, aus Verzweiflung darüber, sich im Exil das Leben nehmen würde.

Wirkt die Fernseh-Hypnose?

Heute haben wir unsere Erfahrungen mit vertierten Massen, die hinter totalitären Führern herliefen; wir kennen unterdessen auch die durch Wohlstand und tägliche Fernseh-Hypnose träge gewordene Masse.

Wir sind damit am entgegengesetzten Pol angelangt, und alles, was in irgend einer Form mit Masse zu tun hat, weckt — zumindest bei der Mehrheit der Intellektuellen — wo nicht Abneigung, so Mißtrauen. Dies gehört, wie mir scheint, schon in jene Reihe der Stereotype, die auch von ehrlichen Menschen akzeptiert werden, von Menschen, die mehr oder minder selber Teil der Masse sind, sei’s auch nur jener Teil, der an die neue Soziologie glaubt.

Man muß zugeben, daß die Verdammung der Massenmedien als unwiderstehliche Instrumente der Nivellierung ein Ausmaß erreicht hat, das es in vielen Kreisen schwer macht, zu einem klaren, differenzierten Urteil zu gelangen. Dem forschenden Soziologen kann widerfahren, was Cesare Pascarella [*] in seinem humoristischen Poem von der Entdeckung Amerikas über die Begegnung des Christoph Kolumbus und seiner Gefährten mit dem ersten Eingeborenen berichtet:

Sie hielten inne und machten einander Mut.
„Heda, Mensch, wer bist du?“ riefen sie.
„Wer soll ich sein?“ sagt dieser, „Ein Wilder bin ich!“

Es ist in der Tat relativ leicht zu bewerkstelligen, daß ein Soziologe bei einer Umfrage die Antwort erhält, die er haben will. Dies gilt zumindest in jenen Ländern, in denen die Forscher Umfragen frei durchführen können. Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade in den am meisten entwickelten Ländern des Westens eine gewaltige Dokumentation über die Missetaten der Massenmedien vorliegt. Daraus folgern manche, es müsse sich um ein rein westliches Phänomen handeln, um einen integrierenden Faktor der berühmten Entfremdung. Gleicherweise ließe sich argumentieren, die Tuberkulose wüte vor allem in jenen Ländern, in denen man auf eine genaue Statistik dieser Krankheit Wert legt.

Diese Art von Verblendung kann auch intelligente Menschen befallen. Ich erinnere mich an einen kuriosen englischen Gelehrten, mit dem ich vor etlichen Jahren einen interessanten Wortwechsel hatte. Es war bei einem der ersten Gespräche zwischen west- und osteuropäischen Schriftstellern in Venedig. J. D. Bernal, Professor für Physik an der Universität London, Fellow of the Royal Society, überraschte die Runde mit der folgenden Enthüllung: „Während in den kapitalistischen Ländern eine tiefe Kluft zwischen dem Volk und den höheren Formen der Kunst besteht, so daß etwa Joyce nur von wenigen Eingeweihten gelesen und begriffen wird, wogegen das Volk sich mit ‚comics‘, Kommerzfilmen und Abenteuerromanen nährt, ist dieser Bruch, wie ich feststellen konnte, im sozialistischen Rußland glücklich überwunden worden. Der Kolchosbauer, der Student, der Tellerwäscher, der Dichter und der Wissenschaftler lesen die gleichen Bücher, sie bewundern die gleichen Bilder und die gleichen Filme, mit einem Wort, sie glauben an die gleichen ästhetischen Werte.“

Die Verkündigung dieses Wunders ließ — zumal da sie aus dem Munde eines britischen Gelehrten stammte — Zweifel nicht zu. Indessen bot die Anwesenheit von vier sowjetischen Schriftstellern die Möglichkeit zur unmittelbaren Verifizierung, und es wäre wahrhaftig ein Versäumnis gewesen, hätte man darauf verzichtet. Ich beeilte mich also einzuwenden: „Nichts liegt mir ferner, als dem berühmten Professor Bernal den Respekt zu versagen, doch sei mir gestattet — einzig zu dem Zweck, um die durch seine Mitteilung in uns bewirkte freudige Erregung zu verlängern einen der anwesenden sowjetischen Kollegen zu fragen, wie jenes Wunder zustande gekommen ist.“

Nach einiger Verwirrung nahm der Romancier Konstantin Fedin die Herausforderung an. Gelobt sei seine Ehrlichkeit! „Auch wir in Rußland haben es mit zwei Kulturen zu tun“, sagte er, „auch in Rußland haben wir neben der hochwertigen Kultur eine große Menge von Filmen und Büchern ohne jeden künstlerischen Wert, die nur für den Massenkonsum bestimmt sind.“

Manche hüstelten verlegen. Manche starrten gebannt auf die reich geschmückte Decke des Saals. Der Fall war zu jämmerlich, als daß man ihn hätte kommentieren müssen. Der illustre britische Wissenschaftler hatte sein Wissen über die neuen Beziehungen zwischen dem russischen Volk und der Kunst offenbar mit viel Phantasie aus seinem politischen Credo abgeleitet.

Prof. Bernal war einer jener Wissenschaftler, die im zweiten Jahr des Koreakrieges die chinesische Anklage bestätigt hatten, daß die Amerikaner sich bakteriologischer Waffen bedienten. Ich nahm ihn damals beiseite und sagte: „Wahrscheinlich haben Sie dies von der Tatsache deduziert, daß Amerika ein kapitalistisches Land ist.“ — „O nein“, antwortete Bernal, „ich hatte Gelegenheit, eine Fliege zu analysieren.“ — „Sehr interessant. Haben Sie das Tierchen erhascht, als es gerade aus einem amerikanischen Flugzeug zu Boden stürzte? Oder hatte die Fliege Geburtsurkunde und Lebenslauf bei sich? Warum haben Sie aufgehört, vom bakteriologischen Krieg zu reden, als die chinesische Propaganda diesen nicht mehr nötig hatte? Warum reden Sie nicht auch heute noch davon?“ — Bernal sah mich mit jener Verachtung an, die Gläubige gegenüber dem Skeptiker empfinden.

Doch sollte man über derlei nicht scherzen.

Um die Einheit der Kultur wiederherzustellen — etwa in jenem Sinn, in dem es diese Einheit im Mittelalter gab, als Volk und Künstler in der gleichen geistigen Sphäre lebten, die gleiche Sprache hatten, an die gleichen Symbole glaubten — genügt es nicht, eine neue Bürokratie an die Spitze des Staates zu stellen oder allgemeinen Wohlstand zu schaffen. Wir können hinzufügen — zum Trost für die Waisenkinder des Stalinismus —, daß der kulturelle Bruch, wie nicht anders zu erwarten, auch in den von der Sozialdemokratie und dem Labourismus reformierten Ländern fortbesteht.

Gewiß, es wäre ungerecht, wollte man den enormen kulturellen Fortschritt, der in den letzten Jahren sowohl in den kommunistisch wie in den sozialdemokratisch regierten Ländern vollbracht wurde, nicht gebührend anerkennen. Doch wird das Urteil anders ausfallen, wenn wir eine Bilanz der neugeschaffenen Werte unternehmen. Da wird man zugeben müssen, daß die Veränderung der gesellschaftlichen Struktur nicht einmal jenen Strom frischer Luft bewirkt hat, den man mit Fug und Recht vom Aufrücken der Menschen aus dem Volk in die Reihen der Schriftsteller und Künstler hätte erwarten dürfen.

Erschöpfte Arbeiter-Elite

„In den Ländern, die erst vor kurzem zu allgemeinem Wohlstand gelangt sind“, schrieb der schwedische Romancier Bengt Holmqvist, „setzte man große Hoffnung in die bis dahin ungenützt gebliebenen Talente, denen nun die Möglichkeit geboten war, sich frei und voll auszudrücken. Tatsächlich haben die nahezu uneingeschränkte gesellschaftliche Bewegungsfreiheit und die neuen Bildungsmöglichkeiten in Schweden eindrucksvolle Reserven freigesetzt. Doch scheint die Zeit, da aus der Arbeiterklasse kommende junge Menschen in die schöpferische intellektuelle Elite vorstoßen, schon vorüber zu sein. Dieser Aufstieg fiel in den Jahren zwischen 1930 und 1940 in die Augen, in einem Abschnitt der gesellschaftlichen Entwicklung also, da die stille Revolution noch im Gang war und die neue Gesellschaft sich noch nicht stabilisiert hatte. In dieser Zeit gab es junge Schriftsteller (sie wurden „proletarische“ Schriftsteller genannt), die direkt aus der Armut und einem schweren Leben kamen. Möglich, daß sie, indem sie Schriftsteller wurden, ihre materielle Lage nicht wesentlich verbesserten, doch erforderte die Wahl kein Opfer, in jedem Fall aber bedeutete sie sozialen Aufstieg.

Die Dinge haben sich unterdessen gewandelt. Das Los der Schriftsteller ist bekannt, jenen die Talent haben, stehen viele Möglichkeiten offen. Fast jeder kann innerhalb unseres blühenden meritokratischen Systems eine gesicherte, respektierte Position erreichen. Und in dem Ausmaß, in dem jemand das Schreiben als seine persönliche Berufung betrachtet, kann er gewiß sein, daß ihn nichts dazu zwingen wird, ganz darauf zu verzichten. Es ist gleichwohl kein Zufall, daß die Mehrheit der neuen Schriftsteller in den letzten Jahren Männer und Frauen mit Hochschuldiplom sind, frei von Illusionen über den literarischen Betrieb. Sie haben ein gewisses alexandrinisches Raffinement in die Literatur gebracht, aber keine große eigene Lebenserfahrung. Das Auftreten der Autodidakten ist eine — gewiß interessante — Episode in der Literaturgeschichte unserer Zeit geblieben. Vielleicht hat diese Entwicklung einige allgemein gültige Züge, auch wenn sie sich in vielen Ländern noch nicht abzeichnet.“

Ich sehe den Schlüssel zum Verständnis des schwedischen Experiments in der von Holmqvist betonten Gleichzeitigkeit des Auftretens der „proletarischen Schriftsteller“ und der sogenannten stillen Revolution. Kurz, es handelt sich um Literatur, die Zeugnis ablegt, wie ein guter Teil der Werke des italienischen Neorealismus der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Wahrscheinlich ist der Unterschied zwischen der sogenannten proletarischen Literatur der Dreißigerjahre und der neuen literarischen Generation nicht nur in der verschiedenen sozialen Herkunft der Autoren begründet, sondern auch auf die rasche Erschöpfung der Dokumentations-Themen zurückzuführen.

Trifft dies zu, so wäre das Mißverständnis durch den Gebrauch des Ausdrucks „Klasse“ im rein ökonomischen Sinn verursacht. Das Öffentliche Bildungswesen, das in Schweden auch zum Besuch der Mittelschule verpflichtet und den Besuch der Hochschulen erheblich erleichtert, baut zwar die Barrieren zwischen reich und arm ganz oder teilweise ab, es läßt aber die zwischen Individuen der gleichen Klasse bestehenden Unterschiede des Gefühls und des Geistes intakt. Schon gar nicht kann jene besondere Beziehung der Seele zur Realität sozialisiert werden, welche die Wurzel jeder echten Berufung zum Künstler ist.

Dazu kommt, daß die Verbreitung der Bildung mit der Bevorzugung einerseits hermetischer und experimenteller, anderseits klassizistischer Formen in der modernen Kunst zusammenfiel. Das führt auch den Künstler proletarischer Herkunft — es wäre denn, er hätte außergewöhnliche schöpferische Vitalität — zu einer der Mehrheit der Bürger und auch seiner ehemaligen Arbeitskollegen fremden Ausdrucksform und trägt folglich dazu bei, die kulturelle Kluft offenzuhalten.

Bildung ohne Sprengkraft

Als in den letzten hundert Jahren die Liberalen und Demokraten ihren Feldzug gegen den Analphabetismus begannen, verbargen viele Konservative ihre Bestürzung nicht. Sie betrachteten die Ignoranz der Armen als ein Fundament der öffentlichen Ordnung, und sie trafen sich in diesem Punkt übrigens mit den Revolutionären ihrer Zeit. „Bildung macht frei“, predigten die Sozialisten der Ersten Internationale den Arbeitern, „Wissen ist Macht!“ In vielen Lokalen der proletarischen Organisationen Italiens wurde der Fortschritt durch das Bild einer Frau dargestellt, die mit einer Fackel, Symbol der Bildung, die Schatten des Unwissens austrieb, und mit diesen Schatten auch die als Fledermäuse dargestellten Pfarrer. Die bedeutendste Zeitschrift des Katholizismus, „La Civiltà Cattolica“, nahm diese Drohung ernst und wandte sich offen gegen die allgemeine Schulpflicht. Wollt ihr besser leben? fragte sie die Arbeiter — gut, antwortete sie, dann arbeitet und meidet das Laster; die Produktion braucht kräftige Arme, nicht Bücher. 1876 definierte „Civiltà Cattolica“ die Pflichtschule als „schreckliche Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung“.

Für einige Zeit wurden damals Bildung und Fortschritt synonym. In den am wenigsten entwickelten Gebieten verbreiteten sich Bildung und revolutionäre Ideen im gleichen Schritt. Viele Seiten der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts erinnern uns daran, daß es in den Augen der zaristischen Polizei ein Verbrechen war, ohne spezielle Genehmigung den Bauern das Alphabet beizubringen, und daß die Lehrer, die solches unternahmen, nach Sibirien deportiert wurden.

Seither sind nur ein paar Jahrzehnte vergangen, aber die Bildung hat ihre revolutionäre Sprengladung eingebüßt. Bildung wird heute zumeist als Instrument für den sozialen Aufstieg des Einzelnen betrachtet. Viele in bescheidenen Verhältnissen lebende Familien nehmen Entbehrungen auf sich, um ihre Kinder die Mittel- oder Hochschule besuchen zu lassen; sie träumen vom trügerischen Ziel, sie solcherart vor der Sklaverei der manuellen Arbeit zu bewahren und sie zu „Herren“ zu machen.

Natürlich gibt es unterentwickelte Gebiete, in denen der Kampf gegen den Analphabetismus noch heute den alten politischen Charakter hat. Eine Diskussion für oder wider die allgemeine Schulbildung ist jedoch sinnlos geworden. Dagegen ist das Urteil über die Massenmedien nach wie vor umstritten. Kino, Rundfunk, Fernsehen und Massenpresse sind unbestreitbar eine schreckliche Kraft zur Bearbeitung der Öffentlichen Meinung; ihre potentielle Gefährlichkeit ist tatsächlich ohnegleichen in der Geschichte. Vor allem im Dienst der totalitären Mächte gestatten diese Mittel kaum irgendwelchen Widerstand gegen die Verdummung, Unterwerfung und Nivellierung des Volkes.

Auch angesichts solcher extremer und scheinbar uniformer Situationen darf man jedoch eine gründliche Verifizierung nicht unterlassen. Der Mensch ist nicht nur das, was man von ihm sieht. Wie erklärt man sich andernfalls die in jeder Diktatur vorhandenen Abweichungen zwischen der privaten Meinung des Bürgers und der offiziellen Meinung, welcher das Monopol aller Informations- und Propagandamittel zu Gebote steht? Wie erklärt man sich das beinahe lautlose Verschwinden der Faschistischen Partei nach dem Sturz Mussolinis am 25. Juli 1943, den Berliner Volksaufstand vom 17. Juni 1953, die Kundgebungen von Posen am 28. Juni 1956, die ungarische Revolution im Oktober des gleichen Jahres? Man hüte sich also vor summarischen Urteilen.

Nicht anders verhält es sich mit der „Massifizierung“ von Information und Kultur in den sogenannten demokratischen Ländern. Wir alle stecken mitten in dieser Überschwemmung, so daß es schwer ist, sie von außen zu betrachten. Doch scheint mir die Bemerkung von Alain Touraine zutreffend, daß die neuen Mittel „viel mehr Situationen als Verhaltensweisen definieren“. Wer mit Regelmäßigkeit an einem bestimmten Milieu teilhat, wird bald erkennen, daß der Einfluß der Massenmedien sehr wesentlich von Person zu Person schwankt, ja daß auch ein und dasselbe Individuum seine Einschätzung von Fall zu Fall modifizieren kann. Man sieht etwa, daß Rundfunk- und Fernsehprogramme auf gewisse Menschen einschläfernd wirken, wogegen sie andere zum Widerspruch reizen.

Man könnte sagen, daß die Massenmedien in dem Maß korrumpierend wirken, in dem sie bei vielen Menschen geistige und moralische Leere vorfinden. Freilich, kaum versucht man, dies an einem Beispiel darzulegen, wird man auch schon wieder unsicher. Schadet das Fernsehen den Kindern? Lenkt es sie von anderen Beschäftigungen — Spiel, Sport, Lesen —, lenkt es sie von ihren Eltern und anderen Kindern ab? Ein deutscher Erzieher, Alexander Weber, ist nach einer gründlichen Untersuchung zu Resultaten gelangt, die dem, was allgemein als gültig angenommen wird, direkt widersprechen. Nach Weber ist es nicht wahr, daß das Fernsehen eine dauernde unwiderstehliche Anziehungskraft auf Kinder ausübt. Nach einiger Zeit, wenn der Fernsehapparat keine Neuheit mehr ist, wird er zumeist ein Gegenstand wie andere auch, wie Fahrrad, Eisenbahn oder Hund. Weber fragte die von ihm beobachteten Kinder, die daheim fernsehen können, nach ihrer Lieblingsbeschäftigung in der lernfreien Zeit. Sie nannten Lesen, Sport, Radio, Schallplatten und erst an fünfter Stelle das Fernsehen. Die Antworten jener Kinder, die daheim kein Fernsehen haben, ergaben fast die gleiche Reihenfolge.

Man muß Webers optimistische Schlußfolgerungen nicht einfach übernehmen, sie sollten jedoch vor Verallgemeinerungen warnen. Auch ich bin davon überzeugt, daß die Massenmedien Passivität, Konformismus und geistige Lethargie fördern können, und daß solcherart in weiterer Folge das demokratische Spiel in seinen Grundbedingungen ernstlich gestört werden kann. Gerade das drängt mich, jedes Anzeichen für gegenteiliges Verhalten zu schätzen. Übertriebene Propaganda für ein Medikament bewirkt vielfach Abneigung dagegen und hält davon ab, es zu benützen. Es ist auch nicht wahr, daß die meisten Wähler ihre Stimme entsprechend der Meinung abgeben, welche sie in ihrer Zeitung lesen oder im Radio hören. Wo eine Vielfalt politischer Parteien zur Wahl steht, ist bisweilen das Gegenteil der Fall. Man denke an die Differenz zwischen der Leserzahl von großen liberalen Tageszeitungen und den wenigen Stimmen, die für die liberalen Parteien abgegeben werden.

Man sagt, das Fernsehen lasse die politischen Führer in die Wohnungen der Bürger eindringen, es sei jedoch nicht imstande, die „warme menschliche Nähe“ der Versammlung zu ersetzen. Ein uneingeschränktes Lob menschlicher Kontakte bei Massenversammlungen schiene mir übertrieben. Diktatoren haben nämlich immer noch ihre Vorliebe für „ozeanische Versammlungen“, da sie wissen, daß dort die „warme menschliche Nähe“ für sie wirkt und den kritischen Geist der Zuhörer abstumpft und tötet.

Psychologische Selbstverteidigung

Die psychologische Selbstverteidigung, die im Menschen, auch im scheinbar fügsamsten und trägsten, wirksam werden kann, ist noch nicht hinreichend erforscht. Dies hat mir das Ergebnis einer in meiner Abruzzen-Heimat durchgeführten Hilfsaktion bewiesen. Das Programm der jungen Sozialhelferinnen sah u.a. zwei Filmvorführungen monatlich vor, eine für die Erwachsenen, eine für die Kinder. Nach gründlicher Beratung war eine bestimmte Reihenfolge der Filme festgelegt worden, leichtere Kost zuerst, zuletzt die eher problematischen Filme. Es wurde überdies darauf verzichtet, das Publikum sogleich nach Ende der Vorführung um seine Meinung zu fragen, man wollte die zu erwartende Scheu berücksichtigen. Die Sozialhelferinnen zogen es also vor, die Leute zunächst untereinander, privat über die Filme reden zu lassen, eines der Mädchen sollte dann Eindrücke und Kommentare in Hausbesuchen einsammeln. Entgegen den Erwartungen blieben die Leute nach den Filmvorführungen nicht in Gruppen stehen, um über das Gesehene zu reden, sie sprachen auch später auf dem Dorfplatz, am Gasthaustisch und in der Familie nicht davon. Diese überraschende Apathie wurde schließlich auf die einfachste Weise aufgeklärt, als ein Einwohner des Dorfes der Sozialhelferin sagte: „Wissen Sie, es kommt einem heute ja so vieles unter!“

Möglicherweise ist die Zukunft der menschlichen Gattung dieser instinktiven Fähigkeit anvertraut, sich den Versuchen einer allzu systematischen Indoktrinierung — und wären sie noch so unschuldig und ehrlich — zu widersetzen. „Es kommt einem heute ja so vieles unter“, daß es für kleine Leute ein Glück ist, auch mit offenen Augen an anderes denken zu können.

[*Cesare Pascarella, 1858-1940, römischer Dialektdichter; in seinem Hauptwerk „Scoperta dell’America“ läßt er einen phantasiereichen Transteveriner die Abenteuer des Kolumbus einer Runde von Freunden in der Osteria berichten.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1965
, Seite 291
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Ignazio Silone:

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