FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1965 » No. 135
Ernst Topitsch

Marx ist tot, es lebe Marx!

(II.)

Marx und Feuerbach haben das Motiv der Entfremdung aus theologisch-metaphysischen Spekulationen übernommen, nämlich aus dem deutschen Idealismus, dessen Zusammenhänge mit den Traditionen des Neuplatonismus und der Gnosis noch immer zuwenig bekannt sind. [23] In Fortführung solcher Überlieferungen [24] wollte man mit Hilfe erkenntnistheoretischer (oder richtiger: erkenntnismetaphysischer) Argumente glaubhaft machen, daß das „wahre Ich“ dem Druck der gegenständlichen Realität grundsätzlich überlegen ist. Das „Ich“ ist keineswegs — wie dies der „gemeine Menschenverstand“ meint — von der Gegenstandswelt abhängig und ihr unterworfen. Ganz im Gegenteil: Die Dingwelt hat kein wahrhaft selbständiges und absolutes Dasein, sondern sie ist vom „Ich“ abhängig, da sie erst durch dieses konstituiert und hervorgebracht wird. [25] Hat sich der Mensch zu diesem Wissen aufgeschwungen, so ist für ihn die empirische Realität und damit der Realitätsdruck keine letzte Wirklichkeit mehr, der er ausgeliefert wäre. Solche und verwandte Überlegungen können leicht zu der Lehre weitergebildet werden, daß ein ungegenständliches Gott-Ich in einem Prozeß der Entäußerung oder Entfremdung die Gegenstandswelt aus sich heraus und sich selbst gegenübersetzt. Dabei verfällt es in leidvolle Abhängigkeit von diesem seinem verdinglichten Wesen, das ihm nun als selbständige fremde Macht erscheint. Erst durch die Erkenntnis, daß die Gegenstandswelt keine unabhängige Existenz besitzt, sondern nur sein eigenes entfaltetes Wesen darstellt, [26] kann das göttliche Prinzip diese Welt überwinden und sie — mit ihr versöhnt — in sich zurücknehmen. Nur indem er den Prozeß von Entäußerung und Rücknahme durchläuft und sich dieses Prozesses und seiner Notwendigkeit bewußt wird, erreicht der „werdende Gott“ seine wahre Göttlichkeit und Vollkommenheit. [27]

Sofern nun das (menschliche oder göttliche) Bewußtsein die Heilswahrheit über diese Sachverhalte nicht erreicht hat, bleibt es im Banne der „fremden Macht“; in seiner Verblendung hält es die aus dem Fall, aus der Entfremdung oder Verdinglichung des eigenen Wesens hervorgegangene Gegenstandswelt für eine wahre, letzte Wirklichkeit und ist so selbst ein gefallenes Bewußtsein. Erst durch die Überwindung der niedrigen, bloß empirischen Weltbetrachtung kraft der Wahrheiten des Idealismus kann es „aus dem „unaufgeschlossenen Reich der Finsternis“ treten, die Fesseln der Endlichkeit und der „Verdammnis“ abwerfen und den Weg der Läuterung durch das Feuer des Denkens betreten“. [28] Dementsprechend nimmt jeder Rückfall in den Empirismus, jeder Abfall vom reinen spekulativen Denken, dem Abgefallenen Vernunft, Geist und Sinn; er kann nur blinde Vernunftwidrigkeit erzeugen. [29]

Linke Theologie

Doch sehr bald wurde das Motiv von Entfremdung und Verblendung gegen den spekulativen Idealismus gewandt. Die Hegel’sche Linke erklärte schon kurz nach dem Tode des Meisters dessen Lehren zu einer, ja sogar zur ausgeprägtesten Form entfremdeten Denkens. So formulierte Feuerbach: „Die Hegel’sche Philosophie hat den Menschen sich selbst entfremdet, indem ihr ganzes System auf diesen Abstraktionsakten ruht.“ [30] Nunmehr gilt nicht mehr die empirisch-rationale Wissenschaft als das in der Entfremdung befangene Denken, sondern die Theologie, deren abgeschiedener Geist in der Hegel’schen Philosophie noch als Gespenst umgeht; [31] die Theologie ist es, die „den Menschen entzweit und entäußert“. [32]

Für die Hegel’sche Linke entäußert sich nicht Gott oder das Gott-Ich zur sinnlichen Welt, um durch Überwindung und Rücknahme derselben seine wahre Göttlichkeit zu gewinnen; vielmehr ist es der sinnliche, empirische, konkrete Mensch, welcher die abstrakten Gedankengebilde der Religion, Theologie und spekulativen Metaphysik als sein entfremdetes Wesen sich selbst gegenüberstellt. Der Mensch setzt die Gottesillusion aus sich heraus, er legt in ihr sein eigentliches Sein nach außen. Das göttliche Wesen ist das entäußerte, vergegenständlichte Wesen des Menschen. Doch bleibt diese Selbstentäußerung dem ihr verfallenen und durch sie verblendeten Denken verborgen. Der religiöse Mensch ist sich gar nicht „direkt bewußt, daß sein Bewußtsein von Gott das Selbstbewußtsein seines Wesens ist, denn der Mangel dieses Bewußtseins begründet eben das eigentümliche Wesen der Religion“. [33] Demgegenüber hat die kritische Philosophie die Aufgabe, den Trug der Entfremdung aufzudecken und so einen „universalen Selbstenttäuschungsakt“ [34] zu vollziehen, durch den das zum Gottesbild entäußerte Menschenwesen in den Menschen zurückgenommen und das „wahre Menschenwesen“ auf Erden, in Staat und Familie, verwirklicht werden soll. [35]

In diesen Erwägungen ist das alte gnostische Heilsschema noch deutlich erkennbar, nur haben die Rollen gewechselt. Der „sich erlösende Erlöser“, der seinen inneren Zwiespalt überwinden muß, ist nicht mehr Gott, sondern der Mensch. Die Täuschung, die aus dessen Entzweiung mit sich selbst entstanden ist und den Weg zum Heil verschleiert, ist nicht mehr die „Sinnlichkeit“, sondern die Religion. Die Gnosis, die jenen Trug durchschaut und den „sauveur sauvé“ zur Einheit mit sich selbst und zur wahren Vollkommenheit führt, ist nicht die Religion bzw. die spekulative Metaphysik, sondern die religionskritische Philosophie. So übernimmt die Religionstheorie Feuerbachs unverkennbar die Funktion gnostischer Heilslehren: Sie überwindet das Verfallensein des Menschen an die Entfremdung und weist den Weg zur Restitutio, ja zur Deificatio hominis. [36]

Für die weitere Entwicklung unseres Problems ist vor allem die Tatsache wichtig, daß für Feuerbach die Entfremdung in engem Zusammenhang mit dem Realitätsdruck steht: „Nur im Elend des Menschen hat Gott seine Geburtsstätte.“ [37] Unter dem Eindruck der faktischen Wertwidrigkeit der Lebensrealität erschafft sich der Mensch im Gottesglauben eine illusionäre Wesenheit, die alle Eigenschaften in höchstem Maße in sich vereinigt, welche ihm selbst unter dem Druck der Not erstrebenswert, aber unerreichbar erscheinen. So kann die Entfremdung nicht allein durch die wissenschaftliche Erkenntnis überwunden werden; es müssen zugleich gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen werden, welche die Entfaltung der vollen und unverkürzten Möglichkeiten des Menschen gestatten. [38] Damit trifft sich Feuerbachs Auffassung der Entfremdung und ihrer Aufhebung mit der von Karl Marx.

Auch für Marx ist die Religion eine Form entfremdeten Denkens, sie ist „das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben und schon wieder verloren hat“. Doch führt der Schöpfer des historischen Materialismus die Verderbnis des Bewußtseins in viel entschiedenerer und grundsätzlicherer Weise auf die Verderbnis der Gesellschaft zurück. Staat und Sozietät „produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ... ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt“ (208). [39] So kann die Religion nur dann aufgehoben werden, wenn die sozialen Verhältnisse aufgehoben werden, die sie hervorbringen, und wenn eine Gesellschaftsordnung entsteht, welche die wahre Verwirklichung des menschlichen Wesens, die Erreichung des wirklichen Glückes des Volkes gewährleistet und damit das Bedürfnis nach Scheinverwirklichung und illusorischem Glück beseitigt. Die „Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung“, die Religion, ist nur Ausdruck und Resultat der wirklichen Selbstentfremdung des Menschen, wie sie in den realen gesellschaftlichen Verhältnissen vorliegt (209). Daher ist die Religionskritik Feuerbachs zwar richtig und wichtig, aber man darf bei der Kritik des Himmels nicht stehenbleiben. Es genügt nicht, „die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen“. Vielmehr muß die in der irdischen, der sozialen Realität wirkliche und wirksame Entfremdung erkannt und überwunden werden. Marx hat dies in der vierten These über Feuerbach klar und nachdrücklich ausgesprochen: „Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden.“ Weil und insofern Feuerbach dies nicht erkannt hat, ist seine eigene Kritik an der Entfremdung noch im entfremdeten Denken steckengeblieben.

Mensch als Produkt der Produktion

Diese Auffassung hat die spezifische Art und Weise zur Voraussetzung, in welcher Marx das Schema von der Entfremdung und ihrer Aufhebung — in einer geläufigeren theologischen Sprache: von Fall und Erlösung — handhabt. Für ihn ist es nicht Gott, der sich zur Welt entäußert und auf dem Wege über diese schmerzvolle, aber notwendige Entfremdung erst seine wahre Göttlichkeit erreicht. Es ist wie bei Feuerbach der konkrete, irdische Mensch, der sein Wesen aus sich heraus und sich selbst gegenüberstellt und unter die Macht dieses seines entfremdeten Wesens gerät. Aber während er sich nach Feuerbach zur Scheinwelt religiös-metaphysischer Illusionen entäußert, um durch die kritische Aufhebung dieser Illusionen seine wahre Menschlichkeit zu gewinnen, bleibt seine Entfremdung nach Marx nicht auf den Bereich des Ideellen beschränkt. Zum Teil im Anschluß an Motive aus Hegels Philosophie der Arbeit [40] faßt der sozialistische Denker den ökonomischen Produktionsprozeß als Entfremdung und deren Rücknahme auf. Der Mensch gerät im Laufe der Geschichte immer mehr in die Abhängigkeit der Erzeugnisse, zu denen er sich durch seine Arbeit entäußert hat; seine eigenen Produkte konsolidieren sich zu einer sachlichen Gewalt über ihn und entwachsen so seiner Kontrolle. Durch die Verfestigung der wirtschaftlichen Verhältnisse in der arbeitsteiligen Gesellschaft entsteht also eine soziale Macht, deren Wesen und Wirken von den Menschen zunächst nicht durchschaut wird; sie erscheint ihnen „nicht als ihre eigene, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen, woher und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können“, sondern die im Gegenteil sie beherrscht (362). Erst die Erkenntnisse von Karl Marx überwinden diese Unwissenheit. Sie eröffnen die Einsicht, daß jene „fremde Macht“ nur das eigene entfremdete Wesen des Menschen ist und daß sich diese Entfremdung mit dialektischer Notwendigkeit aufheben wird, in die reale Wiedergewinnung des Menschen umschlagen muß

Solange sich das Denken nicht zu diesen Einsichten aufgeschwungen hat, bleibt es dem Banne der Entfremdung verfallen. Der sich selbst entfremdete Mensch ist für Marx ein seinem Wesen, d.h. dem natürlichen und menschlichen Wesen, entfremdeter Denker, seine Gedanken sind daher außer der Natur und dem Menschen hausende fixe Geister (284). Den Vorwurf, im entfremdeten Denken befangen geblieben zu sein, richtet Marx bezeichnenderweise vor allem gegen diejenigen Philosophen, welche als seine unmittelbaren Vorgänger das Motiv von der Entfremdung und ihrer Wiederaufhebung verwendet haben, nämlich gegen Hegel und die Junghegelianer, vor allem Feuerbach. Gerade gegenüber diesen unmittelbaren Konkurrenten muß ja die eigene Version der Lehre von Fall und Erlösung als die endgültig richtige erwiesen werden.

Gegen Hegel wird vor allem ins Treffen geführt, daß sich seine Lehre von der Entäußerung und ihrer Zurücknahme lediglich im Bereiche des abstrakten Denkens bewege (254). Der Mensch werde bloß als Selbstbewußtsein aufgefaßt: „Alle Entfremdung des menschlichen Wesens ist daher nichts als Entfremdung des Selbstbewußtseins. Die Entfremdung des Selbstbewußtseins gilt nicht als Ausdruck, im Wissen und Denken sich abspiegelnder Ausdruck der wirklichen Entfremdung des menschlichen Wesens“ (271), wie sie sich im Wirtschaftsprozeß und zumal im kapitalistischen Wirtschaftsprozeß vollzieht. Demgemäß erfolgt die Rücknahme der Entfremdung ebenfalls nicht in der empirischen Realität, sondern lediglich im Bewußtsein. In diesem Zusammenhang richtet Marx seine Kritik vor allem gegen den Begriff eines angeblich ungegenständlichen Selbstbewußtseins, das sich zur dinglichen Gegenstandswelt entäußert „ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen“ (274). So bleibt für Marx die Hegel’sche Lehre von der Entfremdung durchaus noch in der Entfremdung befangen, sofern sie sich auf den Bereich des abstrakten Denkens und der theologischphilosophischen Spekulation beschränkt und daher die tatsächliche Entfremdung in der menschlichen Lebenswirklichkeit gar nicht berührt. Die auf das Denken beschränkte „Aufhebung der Entfremdung“ ist daher keine Zurücknahme, sondern vielmehr eine Bestätigung des Scheinwesens oder des sich entfremdeten Wesens — sie glaubt nur, die Entfremdung überwunden zu haben, läßt sie aber in Wirklichkeit bestehen (287 f.). So ist Hegels Lehre von der Rücknahme der Entäußerung lediglich eine „innerhalb der Entfremdung ausgedrückte Einsicht von der Aneignung des gegenständlichen Wesens durch die Aufhebung seiner Entfremdung, die entfremdete Einsicht in die wirkliche Vergegenständlichung des Menschen, in die wirkliche Aneignung seines gegenständlichen Wesens durch die Vernichtung der entfremdeten Bestimmung der gegenständlichen Welt“ (280 f.).

Dagegen hat Feuerbach in den Augen von Marx bereits einen entscheidenden Schritt vorwärts getan, indem er vom realen, empirischen Menschen ausgeht und die theologisch-metaphysischen Gedankengebilde als dessen entäußertes Wesen durchschaut. Seine große Leistung ist vor allem „der Beweis, daß die Philosophie nichts anderes ist als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion; also ebenfalls zu verurteilen ist, als eine andere Form und Daseinsweise der Entfremdung des menschlichen Wesens“ (251). Fernerhin hat er — wie Marx in diesem Zusammenhang ausdrücklich anerkennt — das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Mensch und Mensch zum Grundprinzip der Theorie gemacht und damit den wahren Materialismus und die reelle Wissenschaft geschaffen. Doch ist der Kritiker des Christentums in dieser Hinsicht nicht bis zum Ziele gelangt, sondern beim Abstraktum „Mensch“ stehengeblieben, ohne zum wirklichen historischen Menschen vorzustoßen, welchen konkrete gesellschaftliche Zusammenhänge und Lebensbedingungen zu dem gemacht haben, was er jeweils ist. „Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er nicht Materialist“ (354). Dadurch verbaut er sich den Zugang zur vollen Wahrheit, zur Einsicht in die Dialektik des Geschichtsprozesses, als welche sich das Drama der menschlichen Selbstentfremdung und ihrer Aufhebung abspielt. Das entfremdete Bewußtsein — Religion, Theologie, Metaphysik — ist lediglich Ausdruck und Resultat der tatsächlichen Entfremdung und Verdinglichung des menschlichen Wesens zur anonymen „fremden Macht“, und diese kann nicht durch bloßes abstraktes Räsonieren, sondern nur durch praktische Veränderung der sozialen Verhältnisse überwunden werden. Nicht die Kritik, sondern die Revolution ist die treibende Kraft der Geschichte (238). [41]

Arbeitsteilung als Sündenfall

Gegenüber allem Idealismus — auch gegenüber dessen Resten bei Feuerbach — ist nach Marx daran festzuhalten, daß das Bewußtsein von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt ist und es bleibt, solange überhaupt Menschen existieren (357). Seine scheinbare Unabhängigkeit ist ein Ergebnis der Arbeitsteilung, vor allem der Teilung zwischen materieller und geistiger Arbeit (358, 374). Die Arbeitsteilung ist es aber auch, von welcher die Konsolidation der menschlichen Produkte zu einer den Menschen unterjochenden fremden Macht ihren Ausgang nimmt (361), weshalb ihre Beseitigung ein wesentliches Merkmal der Rücknahme der Entfremdung in der kommunistischen Zukunftsgesellschaft bildet (359, 361). Die Illusion der Unabhängigkeit des Denkens von dem wirklichen sozialen Lebensprozeß ist also eine für das entfremdete, das ideologische Bewußtsein kennzeichnende und auf dem Boden einer entfremdeten Sozialordnung notwendige Fehlbeurteilung des tatsächlichen Sachverhaltes: „Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dieses Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen“ (349). Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie sind also abhängig von dem materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozeß; sie haben keine eigene Entwicklung, „sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens“ (349).

Diese Thesen entwickelte Marx unter ausdrücklicher Berufung auf die empirische Wissenschaft. Der tatsächliche wirtschaftliche und soziale Lebensprozeß, welcher die Grundlage aller geistigen Gebilde darstellt, kann nur auf Grund empirischer Beobachtung ohne alle Mystifikation und Spekulation erkannt werden (348). „Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelletreten“ (350). Freilich distanziert sich Marx nicht nur von der theologisch-metaphysischen Spekulation, sondern auch von den „abstrakten Empirikern“, für welche die Geschichte eine Sammlung toter Fakten ist — offenbar, da sie nicht bis zur Deutung des historischen Geschehens als eines dialektischen Prozesses von Verlust und Wiedergewinnung des Menschen durchgedrungen sind.

Mythos mal Wissenschaft

Alles das ist im höchsten Maße charakteristisch für die eigentümliche Mischung von mythischen und wissenschaftlichen Elementen, wie sie uns so häufig bei Marx begegnet. Gerade für das Verständnis seiner Ideologienlehre ist es wichtig, das Verhältnis dieser beiden Elemente näher zu bestimmen; dabei soll nicht vergessen werden, daß mythische Vorstellungen sich gerade in den Anfangsstadien der Wissenschaftsentwicklung mitunter als heuristisch fruchtbar erweisen können. [42]

Das Fortwirken derartiger Vorstellungen in der marxistischen Ideologienlehre geht aus dem bereits Gesagten deutlich genug hervor. Es soll nunmehr in knapper Zusammenfassung charakterisiert werden. In mythischen, religiösen und metaphysischen Erlösungslehren findet sich häufig das Motiv, die Seele habe in Zusammenhang mit ihrem Fall, durch den sie sich dem göttlichen Urgrund entfremdet hat und in die Knechtschaft einer gottfremden Macht geraten ist, auch ihr Wissen um ihre überirdische Herkunft und damit die Voraussetzung für die Rückkehr in die himmlische Heimat verloren; erst in der Not der äußersten Gottferne eröffne sich den Auserwählten dieses Heilswissen, wodurch der Bann der Verblendung gebrochen und die Wiedergewinnung der verlorenen Göttlichkeit eingeleitet wird. Das Motiv von Fall und Verblendung hat in den verschiedensten Abwandlungen die Jahrhunderte überdauert, wobei in der Regel das Verfallensein an die Sinnenwelt, die Ablehnung eines in die Transzendenz weisenden Heilsangebotes, als typisches Zeichen der Blindheit der verdammten, in ihrer Gottentfremdung verharrenden Seelen gilt. Mitunter tritt als solche Heilswahrheit auch die Lehre auf, daß die uns bedrängende Gegenstandswelt keine selbständige Existenz besitze, sondern nur eine entäußerte oder entfremdete Form des Ich darstelle und daher letztlich über dieses keine Macht habe; doch solange sich unser Bewußtsein dieser erlösenden Einsicht verschließt und die Dingwelt als wahre Wirklichkeit betrachtet, bleibt es in einer der Entfremdung entsprungenen Verblendung befangen und infolgedessen dem Druck der Realität ausgeliefert. So nimmt für die idealistische Spekulation die empirisch-realistische Weltbetrachtung des Alltagslebens und der Wissenschaften die Rolle des gefallenen und entfremdeten Denkens ein. Feuerbach wendet diese Behauptung in ihr genaues Gegenteil: Nicht wer sich auf die Sinnenwelt beschränkt, sondern wer sich als Theologe oder spekulativer Philosoph über sie erheben zu können vermeint, ist in Wahrheit das Opfer einer aus der Entfremdung, aus dem Wesensverlust hervorgegangenen Illusion. In dieser säkularisierten Form ist das Motiv von Fall und Verblendung für die Ideologienlehre von Karl Marx maßgebend geworden. Der Fall ist hier nicht mehr die Entfremdung der Seele vom göttlichen Urgrund, die Selbstentäußerung Gottes zur Schöpfung oder des ungegenständlichen „wahren Ich“ zur Gegenstandswelt, sondern die Entäußerung des arbeitenden Menschen zur Welt seiner Arbeitsprodukte, die als sein entfremdetes Wesen über ihn Macht gewinnen und ihn ihrer entmenschlichenden Gewalt unterwerfen. [43] In diesem Zustand des Gefallenseins, der ein entfremdetes, verkehrtes oder falsches Dasein des Menschen ist, durchschaut das Bewußtsein den wahren Sachverhalt nicht; vor allem erkennt es die zur „fremden Macht“ konsolidierten sozialökonomischen Verhältnisse nicht als das entäußerte Wesen des Menschen, sondern schreibt ihnen dingliche Realität zu. Es ist entfremdetes, verkehrtes oder falsches Bewußtsein mit einem anderen Wort: Ideologie.

Wissenschaft minus Mythos

Dennoch wäre die Annahme völlig verfehlt, daß es sich bei der Ideologienlehre von Karl Marx ausschließlich um eine Fortbildung von Motiven aus archaischen Erlösungsmythen handle. Wie so häufig im Übergangsfeld zwischen vorwissenschaftlichem und wissenschaftlichem Denken sind auch hier die alten Modellvorstellungen zum Teil mit prüfbaren Behauptungen über empirische Sachverhalte verbunden. Insofern derartige Aussagen vorliegen, kann Marx mit Recht den Anspruch erheben, seine Theorien trügen im Gegensatz zu den Spekulationen der Theologen und Metaphysiker den Charakter der Erfahrungswissenschaften. Doch der Prozeß ständiger empirischer und methodologischer Kontrolle, dem diese Wissenschaften unterworfen sind, mußte notwendig zur Ausscheidung jener Elemente führen, welche den Anforderungen einer solchen Überprüfung nicht entsprechen.

So trennten sich im Marxismus — wie ganz allgemein im modernen Denken — die empirisch-rationalen Begründungszusammenhänge von den mythischen Modellvorstellungen, [44] nachdem die letzteren manchmal im Übergangsstadium der Wissenschaft eine gewisse heuristische Hilfe geboten haben mögen. Freilich ging diese Ablösung im gesamten neuzeitlichen Geistesleben nicht ohne Spannungen vor sich, da jene ältere Vorstellungswelt emotional äußerst wirksam, politisch ungemein brauchbar und oft von mächtigen Institutionen geschützt war. Auch der Marxismus verdankte einen beträchtlichen Teil seiner Anziehungskraft und seiner politischen Erfolge dem Erbe, das er aus den Erlösungsmythen übernommen hatte. [45] Es ist daher verständlich, daß hier die „Entmythologisierung“ ebenfalls auf starke Widerstände stieß und zum Teil heute noch stößt. Doch ließ sie sich nicht verhindern — am allerwenigsten im Bereiche einer Lehre, die empirische Wissenschaft sein will.

Es wäre wünschenswert, daß der Prozeß der Entmythologisierung des Marxismus — der übrigens schon beim späten Marx beginnt [46] — einer gründlichen historischen Analyse unterzogen würde. Die vorliegende Untersuchung muß sich jedoch auf einige knappe systematische Hinweise beschränken.

Wie so viele Gedankengebilde des Übergangsfeldes zwischen Mythos und Wissenschaft sieht sich der Marxismus vor der Alternative, entweder den Weg zur erfahrungsmäßig kontrollierbaren Theorie weiterzugehen und sich von den alten Denkformen zu lösen [47] oder an den letzteren festzuhalten und in Konflikt mit der empirischen Forschung und der modernen Wissenschaftslehre zu geraten.

Am deutlichsten zeigt sich diese Alternative gerade in der oben behandelten Lehre von der Entfremdung und ihrer Aufhebung. Diese und verwandte Vorstellungen, die zur Erlösung von der Erfahrungswelt ersonnen sind, lassen sich zur theoretischen Darstellung der Erfahrungswelt kaum gebrauchen. Das zeigt sich besonders deutlich beim Begriff des „nicht entfremdeten Menschen“. In Mythos und Metaphysik ist er leicht zu umschreiben. Der verzückte Ekstatiker, der in der Unio mystica zu Gott zurückgefunden hat, oder der idealistische Philosoph, der um die Abhängigkeit der Gegenstandswelt vom „wahren Ich“ weiß, hat die Entfremdung überwunden. Dagegen vermag Marx jenem Begriff kaum einen auch nur diskutablen empirischen Inhalt zu geben. [48] Ähnlich verhält es sich mit der gleichfalls dem Bereich der Lehren von Fall und Erlösung entstammenden Dialektik: Sie ist als Instrument zur Vorhersage von Entwicklungen in der empirisch realen Gesellschaft unbrauchbar, ja irreführend. [49] Die wissenschaftstheoretischen Gründe für das Versagen der Dialektik in den empirischen Wissenschaften können hier nicht näher ausgeführt werden — die Tatsache dieses Versagens liegt ohnedies auf der Hand. Die Voraussage der dialektischen Rücknahme der Entfremdung durch den Umschlag von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft hat sich im ganzen ebensowenig bewahrheitet wie zahlreiche Behauptungen über einzelne sozialökonomische Tendenzen, welche nach Marx diesen Umschlag vorbereiten sollen.

Wollte man dennoch an diesen Denkformen und Modellvorstellungen festhalten, so mußte man die betreffenden Termini und Theorien so uminterpretieren, daß der Konflikt mit den empirischen Fakten verdeckt oder umgangen werden konnte. Dabei bediente man sich häufig des auch im nichtmarxistischen Denken gern angewendeten Kunstgriffes, eine Theorie gegen jede Entkräftung durch Erfahrungstatsachen zu sichern, indem man sie so formuliert, daß sie nichts über solche aussagt. [50] Ein auch ideologiekritisch interessantes Beispiel dafür ist der Versuch von G. Lukács, dem Faktum, daß der Kommunismus keine sehr große Anziehungskraft auf die europäische Industriearbeiterschaft ausübte, durch eine Neudefinition des Begriffes „Klassenbewußtsein“ zu begegnen, welche die empirisch feststellbaren Überzeugungen der Arbeiter nicht berücksichtigt. [51] Auch die Dialektik, deren Anwendungsregeln man nie präzisierte, war hervorragend geeignet, bestimmte Formen marxistischer Theorie der empirischen Überprüfung zu entziehen, indem sie stets eine nachträgliche Rechtfertigung von Fehlprognosen ermöglichte. [52] Der Preis für den mit solchen Tricks erschlichenen Schein der Unfehlbarkeit war eine sehr wesentliche Verringerung oder sogar völlige Einbuße des empirischen Informationsgehaltes der betreffenden Theorien. [53]

Vom Nutzen des Marxismus

Dieselbe Alternative wie der gesamten marxistischen Lehre stellt sich im besonderen der Behandlung des Ideologieproblems. Diese bietet einerseits zahlreiche empirisch prüfbare und bewährte Aussagen über die Zusammenhänge zwischen Weltauffassung und sozialökonomischer Struktur und vielleicht noch mehr Anregungen und heuristische Gesichtspunkte zur Erforschung dieser Zusammenhänge, doch ist sie andererseits auch durch das Erbe der Mythen von Fall und Verblendung wesentlich mitbestimmt. Welche der beiden heterogenen und miteinander kaum vereinbaren Komponenten bei der Interpretation der klassischen Texte und bei den Bemühungen um die Fortbildung des marxistischen Gedankengutes durch neuere Autoren jeweils in den Vordergrund tritt, hängt von den verschiedensten Umständen ab. In der historischen Ideologienlehre von Karl Marx sind alle zwei Komponenten vorhanden, doch kam dem Denker ihre Verschiedenheit kaum zu Bewußtsein.

Marxismus als Theologie

Dabei sind vor allem jene Formen marxistischen Denkens, die in der Gesamtdeutung des geschichtlich-gesellschaftlichen Prozesses an der Leitvorstellung vom Fall und der Erlösung — bzw. von der Entfremdung und ihrer Zurücknahme — festgehalten haben, in der Auffassung des Ideologieproblems dem Motiv von Fall und Verblendung treu geblieben. Dies ist wohl in erster Linie auf die innere Zusammengehörigkeit der beiden Mythologeme zurückzuführen, doch spielen vielleicht noch andere Ursachen mit. Je mehr die erwähnten Lehren in Spannung zur empirisch-rationalen Wissenschaft gerieten und je weniger sie durch die tatsächliche Entwicklung der Gesellschaft bestätigt wurden, desto dringender bedurften sie einer Abschirmung gegen alle Einwände, welche seitens der Logik und der Erfahrung erhoben werden konnten und erhoben wurden. Da ein solcher Schutz von der Wissenschaft selbst nicht zu erhoffen war, sah man sich auf jene vorwissenschaftlichen Denkformen zurückverwiesen. Wie in den archaischen Erlösungsmysterien jeder Zweifel an der Heilswahrheit eo ipso als Ausdruck der Blindheit der gefallenen Seele galt, so wird nun jedes Denken per definitionem als „entfremdet“ oder „ideologisch“ charakterisiert und abgewertet, das die zu schützenden Thesen anzutasten wagt — gleichgültig, welche logischen oder empirischen Argumente es für seine Kritik vorzubringen hat. Sofern die moderne Wissenschaftstheorie und empirische Soziologie sich vermißt, Einwände gegen jene Thesen zu erheben, gerät sie damit zwangsläufig unter das Verdikt, entfremdetes Denken, „bürgerliche“ Wissenschaft oder kapitalistische Ideologie zu sein.

Damit fällt die auf das Motiv von Entfremdung und Verblendung begründete Ideologienlehre in den wissenschaftstheoretischen Status jener Erlösungsmysterien zurück, die von ihren Adepten unbedingten Glauben fordern und diesen dafür die Überzeugung vermitteln, als Auserwählte und Wissende den Verdammten und Verblendeten grundsätzlich überlegen zu sein, wobei die „Proletarier“ hier die Rolle der Gnostiker, der Electi, übernehmen. [54] So enthüllt sich die ganze Konstruktion als „reinforced dogmatism“ [55] als Dogmatismus, der die Kontrolle seiner Behauptungen nicht nur ablehnt, sondern diese Ablehnung auch noch im Namen einer „höheren Erkenntnis“ rechtfertigen und verklären möchte. [56] Durch den Verzicht auf objektive Prüfbarkeit (die auch den Verzicht auf eine empirisch brauchbare, operationale Definition des Begriffes „Proletariat“ in sich einschließt) verliert eine so verstandene Ideologienlehre jeden Informationsgehalt, gewinnt aber eine praktisch unbeschränkte politische Manipulierbarkeit, was ihrer Beliebtheit und Verbreitung sehr förderlich sein kann. Mit ihrer Hilfe vermag man nämlich beliebige Thesen als „Gehalte des wahren proletarischen Klassenbewußtseins“ emporzuheben und alle dagegen erhobenen Einwände als Ausdruck eines „falschen“, „entfremdeten“ oder „ideologischen“ Bewußtseins von vornherein zu verwerfen — wenigstens so lange, als die hier vorliegenden Trugschlüsse und Erschleichungen nicht durchschaut sind.

Damit ist die Ideologienlehre des „kommunistischen Theologen“ Marx als Theorie an ihr Ende gelangt; diejenige des Empirikers und Analytikers Marx ist dagegen längst als wesentlicher Beitrag in den Prozeß des fortschreitenden Erwerbes allgemein prüfbarer und allgemeingültiger Erkenntnis aufgenommen worden. [57]

... so wird jeder sich selbst gestehen müssen, daß er keine exakte Anschauung von dem hat, was werden soll. Indessen ist das gerade wieder ein Vorzug der neuen Richtung, daß wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen ...

Ich bin daher nicht dafür, daß wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegenteil. Wir müssen den Dogmatikern nachzuhelfen suchen, daß sie ihre Sätze sich klar machen. So ist namentlich der Kommunismus eine dogmatische Abstraktion ...

Und das ganze sozialistische Prinzip ist wiederum nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft ...

Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier knie nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien ...

Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins ...

Marx an Ruge, September 1843

[23Auf diese Zusammenhänge verweist u.a. L. Feuerbach: Grundsätze der Philosophie zur Reform der Philosophie, Sämtl. Werke, Hrsg. W. Bolin u. F. Jodl, 2. Bd., 2. Aufl., Stuttgart 1959, S. 291: „Hegel ist nicht der ‚deutsche oder christliche Aristoteles‘ — er ist der deutsche Proklos. Die ‚absolute Philosophie‘ ist die wiedergeborene alexandrinische Philosophie“ (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch R. Klibansky: Ein Proklos-Fund und seine Bedeutung, Sitzungsbericht der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Jg. 1928/29.

[24Zu deren Ursprüngen vgl. G. Mensching: Zur Metaphysik des Ich, Gießen 1934.

[25Dieses Motiv ist besonders im transzendentalen Idealismus Kants deutlich erkennbar. Vgl. Th. Litt: Ethik der Neuzeit. In: Handbuch der Philosophie, Hrsg. A. Baeumler u. M. Schroeter, Abt. III, München-Berlin 1931, S. 99: „Undenkbar, das Ich endgültiger der Macht eines gesetzlichen Zusammenhanges zu entziehen als dadurch, daß man diesen Zusammenhang als einen von ihm selbst im Denken erst gestifteten erweist.“ Wenn also die raum-zeitlich und kausal geordnete empirische Gegenstandswelt erst durch die Synthesis des „transzendentalen Ich“ zustande kommt, so ist dieses dadurch der Abhängigkeit von eben jener Gegenstandswelt prinzipiell entrückt.

[26Dieses Motiv durchzieht die idealistische Spekulation vom alten Indien bis zur Gegenwart. Mit vorbildlicher Klarheit durchgeführt wird es noch von R. Reininger: Metaphysik der Wirklichkeit, 2. Aufl., 2 Bde., Wien 1947/48. Nach Reininger ist es die Aufgabe der Philosophie, den Schleier der Maya zu heben und das realistische Vorurteil zu zerstören, nach welchem der raumzeitlich und kausal geordneten Dingwelt eine absolute Realität zukommt. Das philosophische Denken erschließt die Einsicht, daß die gegenständliche Realität nur ein Derivat der ursprünglichen und wahren Wirklichkeit eines (mit den göttlichen Vollkommenheitsattributen der Zeitlosigkeit, Freiheit und Ungegenständlichkeit ausgestatteten) „Urerlebnisses“ oder „primären Ich“ darstellt. Damit gewinnt die Metaphysik dem Ich das Bewußtsein seiner Weltüberlegenheit: „Durch die Entsubstantialisierung seiner eigenen Gebilde wird dem Geiste seine Freiheit zurückgegeben. Die Entbindung vom realistischen Vorurteil befreit von dem Drucke der Meinung, einer ichfremden, übermächtigen Gewalt ausgeliefert zu sein.“ (a.a.O., Bd. II, S. 197.) Die Rolle des „realistischen Vorurteils“ entspricht hier weitgehend derjenigen des „falschen Bewußtseins“ beim jungen Marx.

[27Zu diesen Hintergründen des Deutschen Idealismus vgl. F. Chr. Baur: Die christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1835; F. A. Staudenmaier: Darstellung und Kritik des Hegel’schen Systems, Mainz 1844; R. Schneider: Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen, Würzburg 1938.

[28I. Iljin: Die Philosophie Hegels als kontemplative Gotteslehre, Bern 1946, S. 31.

[29Ebenda, S. 30.

[30L. Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie, Sämtl. Werke, Bd. II, S. 227.

[31Ebenda.

[32Ebenda, S. 226.

[33L. Feuerbach: Vom Wesen des Christentums, Sämtl. Werke, Bd. VI, S. 16.

[34L. Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie, a.a.O., S. 241.

[35H. Barth: Wahrheit und Ideologie, Zürich 1945, S. 102.

[36Vgl. H. de Lubac: Le drame de l’humanisme athée, Paris 1950, S. 25 ff.

[37L. Feuerbach: Grundsätze der Philosophie zur Reform der Philosophie, a.a.O., S. 292.

[38L. Feuerbach: Vorlesungen über das Wesen der Religion, Sämtl. Werke, Bd. VIII, S. 358 f.

[39Hier und im Folgenden werden die Seitenzahlen von K. Marx: Die Frühschriften, Hrsg. S. Landshut, Stuttgart 1953 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 209), direkt in den Text gesetzt. Die Hervorhebungen sind die des Originals.

[40Vgl. H. Popitz: Der entfremdete Mensch, Basel 1953, S. 117 ff.

[41Vgl. die Kritik an Feuerbach. In: Die Frühschriften, a.a.O., S. 351.

[42K. R. Popper: Conjectures and Refutations, London 1963, S. 38, 50, 126 ff. Vgl. auch J. A. Schumpeter: Wissenschaft und Ideologie. Jahrbuch der Hanseatischen Akademiefür Wirtschaft und Politik, 3. Jahr (1958), S.11 ff.

[43Diese Zusammenhänge klingen an, wenn Marx im vorletzten Kapitel des ersten Bandes des „Kapitals“ (Werke, Hrsg. H.-J. Lieber u. B. Kautsky, Bd. IV, Darmstadt 1962, S. 864) behauptet, die ursprüngliche Akkumulation, die der Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktionsweise ist, spiele „in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie“.

[44Zu diesem Ablösungsprozeß vgl. H. Kelsen: Society and Nature, London 1946, S. 263 ff., und H. M. Peters: Soziomorphe Modelle in der Biologie. In: Ratio, 1/1960, S. 33 f.

[45Über die Gründe der Anziehungskraft des Marxismus auf die Proletarier des vorigen Jahrhunderts vgl. H.-D. Ortlieb: Die Legende vom Volkskapitalismus. Im o.a. Jahrbuch, 7. Jahr (1962), S. 15.

[46E. Grünwald: a.a.O., S. 33 f.

[47Diese Möglichkeit behandelt u.a. A. Malewski: Der empirische Gehalt der Theorie des historischen Materialismus. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Jg. 1959, S. 281 ff.

[48R. König: Freiheit und Selbstentfremdung in soziologischer Sicht. In: Freiheit als Problem der Wissenschaft. Abendvorträge der Freien Universität Berlin im Winter 1961/62, Berlin 1962, S. 25 ff., bes. S. 31 f.

[49Zur Kritik der Dialektik finden sich wichtige Gesichtspunkte bereits bei A. Trendelenburg: Logische Untersuchungen. Leipzig 1862, und E. v. Hartmann: Über die dialektische Methode, Berlin 1868. An neuerer Literatur sind u.a. zu erwähnen K. R. Popper: What is Dialectic? In: Mind, New Series Bd. 49, 1940, S. 403 ff., neu abgedr. in: Conjectures and Refutations, a.a.O., S. 312 ff.; T. D. Weldon: a.a.O., S. 105 ff., 128 ff. (deutsch: S. 125 ff., 149 ff.); H. B. Acton: a.a.O., passim; A. J. Aver: Filosofija i nauka (Philosophie und Wissenschaft). In: Voprosy filosofii, Jg. 1962, H. 1, deutsch: „Logische Analyse“ der Dialektik. In: Ost-Probleme, XIV/19 (1962), S. 579 ff.; H. Vetter: Die Stellung des dialektischen Materialismus zum Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs, Berlin 1962. Eine ausgezeichnete Darstellung der diesbezüglichen Diskussionen in Polen bringt Z. A. Jordan: Philosophy and Ideology. The Development of Philosophy and Marxism-Leninism in Poland since the Second World War, Dordrecht 1963. Über die räumliche und zeitliche Begrenzung seines Themas hinaus bietet dieses Buch eine geradezu paradigmatische Darstellung einer Auseinandersetzung zwischen moderner Wissenschaftstheorie und dialektischem Dogmatismus. Es verdient daher größte Beachtung.

[50Ph. Frank: Wahrheit — relativ oder absolut?, Zürich 1952, S. 65 ff. Zur Immunisierung soziologischer Theorien gegen empirische Falsifikation vgl. H. Albert: Probleme der Theoriebildung, in dem Sammelband „Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften“, Hrsg. H. Albert, Tübingen 1964, S. 22, 29 f.

[51Eine treffende Kritik dieses Vorgehens gibt Th. Geiger: Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln 1949, S. 119 f.

[52E. Topitsch: Über Leerformeln. In: Probleme der Wissenschaftstheorie. Festschrift für V. Kraft, Hrsg. E. Topitsch, Wien 1960, S. 255.

[53H. Albert: a.a.O., Anm. 50, S. 22 ff. — K. R. Popper: Conjectures and Refutations, a.a.O., Anm. 42, S. 37: „Yet instead of accepting the refutations the followers of Marx re-interpreted both the theory and the evidence in order to make them agree. In this way they rescued the theory from refutation; but they did so at the price of adopting a device which made it irrefutable. They thus gave a ‚conventionalist twist‘ to the theory; and by this strategem they destroyed its much advertised claim to scientific status.“

[54Sehr klar hat das H. Welzel formuliert: „Der Marxismus ist eine säkularisierte Prädestinationslehre. Er sagt seinen Gegnern: Ihr seid die Verdammten, selbst wenn ihr euch noch so abmüht und naturrechtliche Systeme aufstellt, ihr könnt gar nicht in der Wahrheit sein, weil ihr nur Ideologien produzieren könnt. Und er sagt seinen Anhängern: Ihr seid die Gesegneten, ihr steht im Heile und in der Wahrheit.“ (In dem Band: Zur Frage nach dem richtigen Recht. Bericht über die Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission am 2. und 3. Dezember 1961 in Würzburg, S. 57.)

[55K. R. Popper: Conjectures and Refutations, a.a.O., S. 327 ff.

[56Dieser Dogmatismus ist schon mehrfach erkannt und kritisiert worden, so bei E. Grünwald: a.a.O., z.B. S. 127, 132 ff., 145; H. Barth: a.a.O., S. 320 f.; Th. Geiger: a.a.O., S. 138 ff.

[57Zum Gebrauch des Begriffes der Entfremdung im heutigen „Neo-Revisionismus“ vgl. die Darstellung und Kritik bei L. Feuer: What is alienation? The Career of a Concept. In: New Politics, 1/3 (1962), S. 116 ff.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1965
, Seite 127
Autor/inn/en:

Ernst Topitsch:

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