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George Steiner

Homer bleibt dunkel

Wege und Irrwege der „höheren Kritik“ in drei Jahrhunderten

Als Schuljunge wurde ich einmal gefragt, welchen Gestalten der Geschichte ich am liebsten persönlich begegnet wäre. Meine Wahl fiel auf Homer, Christus, Shakespeare, und dies nicht aus frühreifer intellektueller Raffinesse, sondern weil ich herausfinden wollte, ob diese drei wirklich gelebt hatten und ob wirklich jene wunderbaren Worte von ihnen stammen, die man ihnen zuschreibt.

Ohne daß mir dies bewußt wurde, war ich solcherart auf das dreifältige Thema dessen gestoßen, was man im vergangenen Jahrhundert „höhere Kritik“ nannte.

Das waren die tiefen Wasser, darein die damalige Gelehrtheit ihre Kriegsflotten entsandt hatte. Man entdeckte die zusammengesetzte Struktur der homerischen Epen; man betrieb analytische Kritik der Evangelien und der Geschichtlichkeit Jesu; man fahndete nach der wahren Identität Shakespeares. Auf diese drei klassischen Rätsel richteten die Gelehrtengeschwader ihre Kanonen Archäologie, Philologie und Bibelwissenschaft.

Im Kielwasser der fachmännisch gesteuerten Galeonen folgte eine seltsames Flottille von Dilettanten, Schwarmgeistern und genialischen Querköpfen. Bis heute sind Homer, die Evangelien und Shakespeare Freiwild für Sonntagsjäger. Hier hat jeder seine Lieblingstheorie, und keine Dekade verstreicht, ohne daß neue solche Theorien hinzuwachsen. Jüngstens versichert man uns, daß die Odyssee von einer Jungfrau geschrieben wurde; daß Christus Golgatha überlebte und in Nordindien starb; und daß die authentischen Shakespeare-Texte in Marlowes Gruft begraben liegen.

Die Gelehrten von Profession reagieren auf derlei Theorien mit bitterer Verachtung. Freilich schwingt dann so etwas wie Gespensterfurcht mit. Denn in der Geschichte jedes dieser drei prominentesten Probleme der literarischen und historischen Kritik fiel der Glanz so mancher entscheidender Entdeckung nicht auf professionelle Häupter, sondern auf Außenseiter. Ein besessener Dilettant grub Troja aus. Ein junger Architekt, dessen Steckenpferd die Entzifferung von Geheimschriften war, löste das Rätsel der minoischen Schrift. Ein Journalist (freilich von besonderem Rang: Edmund Wilson) erkannte vermutlich als erster die Bedeutung der Schriftrollen vom Toten Meer. Ein Staatsbeamter im 18. Jahrhundert, Maurice Morgann, wandte als erster an Shakespeare’sche Texte ein modern anmutendes Rüstzeug aus Psychologie und Geschichtswissenschaft.

Homer-Forscher, Bibel-Philologen und Shakespeare-Spezialisten sind überdies um nichts weniger fanatisch als ihre Amateurkonkurrenz. Nirgendwo im Reich der Gelehrsamkeit gibt es wilderen Streit. Die Philologie weckt einige der schlimmsten menschlichen Instinkte. Wenn A. E. Housman seine Kollegen kritisierte, ging er von dem Grundsatz aus, daß die falsche Emendierung eines Textes ein ungleich größeres Verbrechen sei als gemeiner Mord.

Aber alle solche Äußerungen hohepriesterlich gehandhabter Brutalität klingen doch, wenn wir näher hinhören, wie vergebliches Rufen in undurchdringlicher Finsternis. Die außerordentlichen Leistungen der Historiker, Philologen und Archäologen sind unleugbar. Ebenso unleugbar bleibt die hartnäckig fortdauernde Wahrheit, daß heute das Rätsel Homer seiner Lösung kaum näher ist als 1795 nach Veröffentlichung der Wolf’schen „Prolegomena ad Homerum“. Die Geschichtlichkeit Jesu und die Struktur der Evangelien sind heute in keinem geringerem Maß Gegenstand der Konjektur als zu der Zeit, als Renan sein „Leben Jesu“ schrieb (1863). Und Shakespeares Stücke bieten immer noch Rätsel in Fülle sowie immer noch genügend Indizien, um selbst geistig Gesunde zum Glauben an Bacons Autorschaft zu bekehren.

Die Probleme sind uns geblieben, aber die Methoden, mit denen wir uns ihnen nähern, haben sich gewandelt, und zwar faszinierenderweise mit Bezug auf Homer, Christus und Shakespeare in völliger Gleichläufigkeit.

Im späten 19. Jahrhundert war die Auflösung eines Werkes in seine fiktiven Bestandteile große Mode. Wilamowitz, Titan unter den Homer-Forschern, deklarierte, daß die Ilias ein „armseliges Flickwerk“ sei. Für ein einziges Kapitel des Evangeliums nach Lukas wollte deutsche Gründlichkeit fünf verschiedene Autoren und Interpolatoren ausfindig gemacht haben. Die Stücke, die man bisher jenem analphabetischen Schmierenkomödianten Shakespeare zugeschrieben hatte, wurden, so schien es, in Wahrheit von einem Autorenkomitee verfaßt, in dem unter anderem Lord Bacon, der Graf von Oxford, Marlowe, heimliche Katholiken und mehrere außerordentlich raffinierte Druckfehlerteufel Sitz und Stimme hatten.

Der ingeniöse Zergliederungsfimmel dauerte bis tief in die Dreißigerjahre. Noch 1934 konnte Gilbert Murray keinen Gelehrten von Reputation entdecken, der die Meinung vertreten hätte, daß Ilias und Odyssee, oder gar beide, das Werk eines einzigen Autors seien. Heute hat sich das Blatt der Kritik gewendet, in der Homer-, Bibel- und Shakespeare-Forschung ist der Unitarismus zur Vorherrschaft gelangt. Für Prof. Whitman, Harvard-Universität, gibt es keinen Zweifel an der zutiefst persönlichen Vision und „unauslöschbaren Einheit“ zumindest der Ilias.

Für diesen Meinungsumschwung gibt es sachliche wie psychologische Gründe. Wir bekommen immer mehr Respekt vor der Dauerhaftigkeit des geschriebenen Wortes. Die „höhere Kritik“ nahm an, daß ein sehr alter oder oft abgeschriebener Text notwendigerweise ungetreu sei. Vergleiche zwischen den Schriftrollen vom Toten Meer und den kanonischen Bibeltexten lassen uns heute vermuten, daß auch sehr alte Texte mit großer Treue tradiert werden, sofern sie sakralen Charakter haben. Abschreiber und Scholiasten reproduzieren ehrfurchtsvoll sogar Schreibfehler oder archaische Worte, die sie nicht mehr verstehen.

Überdies und vor allem halten wir heute, ein Menschenalter nach Freud, den literarischen Schöpfungsakt für überaus komplex. Wo im vorigen Jahrhundert der Emendator eine Textlücke oder eine Interpolation von fremder Hand feststellte, meinen wir eher, daß dort die poetische Einbildungskraft ihre Richtung gewechselt oder ihre spezielle Logik in Anwendung gebracht habe. Unser Bild vom menschlichen Geist hat sich insgesamt gewandelt.

Die „höheren Kritiker“ — Wilamowitz etwa, oder Wellhausen — waren Anatomen; um einem Text auf den Grund zu kommen, nahmen sie ihn auseinander. Wir hingegen, nach Art der Menschen des 16. Jahrhunderts, betrachten geistige Prozesse eher als organische, integrale Einheiten. Ein moderner Kunsthistoriker schrieb über die „vie des formes“: im Leben der Formen, wie im Leben der Kunst überhaupt, und wie im organischen Leben überhaupt, gibt es komplexe Strukturen und autonome Energien, die der zergliedernden Ratio nicht zugänglich sind. Wo immer möglich, ziehen wir es heute vor, ein Werk beisammenzulassen.

Des weiteren erwarten wir heute vom Genie nicht mehr, daß seine Leistungen von stets gleichbleibender Genialität seien. Der Wandel unserer Ansichten bezieht sich in entscheidendem Maß auch auf Ilias und Odyssee. Vor hundert Jahren wurde eine Stelle, die dem Herausgeber schwach erschien, ohne weiteres als Einfügung oder Textverderbnis abgetan. Heute berufen wir uns einfach darauf, daß auch Dichter nicht immer in Hochform sind. Homer nickt uns über die Zeiten sein Einverständnis zu.

Schließlich bleibt noch zu erwähnen, daß unser Verständnis des Mythos einer tiefgreifenden Wandlung unterworfen wurde. Der Mythos ist, wie wir heute wissen, ein sehr subtiler und sehr direkter Ausdruck menschlicher Erfahrung. In ihm wird ein Augenblick höchster Wahrheit oder tiefster Krise unserer Existenz symbolhaft nachvollzogen. Mythologie enthält mehr als die Erinnerung an die Menschheitsgeschichte in allgemeinster Form; der Mythograph — und das heißt: der Dichter — ist der Geschichtsschreiber des Unbewußten. Das gibt den großen Mythen ihre beklemmende Gemeingültigkeit.

Seit der chiliastischen Panik des späten 10. Jahrhunderts hat es kein Zeitalter gegeben, das von mythischen Visionen mehr heimgesucht wurde als das unsre. Wir haben die Gestalt des Ödipus ins Zentrum unserer Psychologie gerückt. Wir kämpften um unser Leben gegen die Mythen vom Übermenschen und vom Tausendjährigen Reich. Wir wissen, daß Mythologie eine tödlich ernsthafte Sache ist.

Den Homerischen Epen liegt die Erinnerung an das größte Unglück zugrunde, das der Menschheit widerfahren kann: die Zerstörung einer Stadt. Denn die Stadt ist die extreme Summe der Edelbürtigkeit des Menschen; in ihr lebt er das menschlichste aller denkbaren menschlichen Leben. Wenn seine Stadt zerstört wird, muß der Mensch wieder zum Nomaden werden, oder bestenfalls zum Bewohner des freien Feldes, in partieller Rückkehr zur Tierhaftigkeit. Dies ist das Zentralthema der Ilias. Bald als unterdrückte Anspielung, bald als laute Klage tönt durch das ganze Epos der Widerhall einer schreckenerregenden Realität, der Widerhall des Untergangs einer alten strahlenden Metropole am Meer.

Homer erläßt uns die Schilderung des Feuertodes der Stadt Troja. Solche Zurückhaltung entspringt vielleicht poetischem Takt (auf dem Gipfel seiner Vision wird Dante blind); vielleicht entspringt sie bloß politischer Klugheit (die Schilderung der brennenden Stadt des Feindes hätte die Gefühle eines griechischen Auditoriums allzusehr auf die trojanische Seite verschoben). Jedenfalls schildert Homer die abschließende Katastrophe bloß durch Widerspiegelung im Miniaturmaßstab. Hektor stürmt die Lagermauer der Griechen und schickt sich an, deren Schiffe in Brand zu stecken.

Das Epos bleibt ohne rechten Schluß, und wir wissen auch nicht genau, über welche Stadt das hölzerne Pferd seinen mörderischen Schatten warf. Die topographischen Indizien in der Ilias passen am besten auf das, was die Archäologen als „Troja VI“ ausgegraben haben. Aber die kräftigsten Spuren gewalttätiger Vernichtung finden sich in jener Schicht des Schutthügels von Troja, die als „Troja VIIa“ bezeichnet wird. Einige Gelehrte haben sogar vorgeschlagen, man möge den wahren Schauplatz des Epos nicht in Kleinasien suchen, sondern auf dem griechischen Festland, wo in frühminoischer Zeit heftige und lang dauernde Belagerungsschlachten stattfanden.

Wahrscheinlich ist die Ilias der literarische Reflex nicht bloß eines einzigen derartigen Ereignisses, sondern eines ganzen Katalogs von Katastrophen. Das berühmte Knossos fiel um 1400 vor Christus. Die Ursache ist unbekannt, aber die legendäre Erinnerung an das Ereignis beschäftigt jahrhundertelang die griechische Einbildungskraft. Dem Fall der Stadt Knossos folgen zweihundert Jahre fast gänzlichen historischen Dunkels. Bekannt ist bloß, daß, zu beiden Seiten des Ägäischen Meeres, der minoischen Welt mit ihren großen Palästen und vielfältigen dynastischen wie kommerziellen Verflechtungen ein gewaltsames Ende widerfuhr. Die Burgen von Pylos und Jolkos wurden um 1200 niedergebrannt, das goldene Mykene fiel noch innerhalb des nachfolgenden Jahrhunderts. In der gleichen dunklen, wirren Zeit, um 1180, kam es zur Plünderung der Stadt „Troja VIIa“.

Die Erinnerung an diese urtümlichen Schrecknisse, an geborstene Tore und Türme, macht den lauten Herzschlag der Ilias aus. Die Odyssee handelt von den stilleren Folgen. Sie ist das Epos der „Displaced Persons“. Die Städte sind heruntergebrannt, und die Überlebenden überziehen das Antlitz der Erde als Räuber und Bettler. In der Tat scheint dies das Schicksal der Griechen zwischen 1100 und 900 zu sein. Die Invasion der Dorer trieb Gruppen von Flüchtlingen vor sich her, Träger der reichen, nun weithin verstreuten helladischen Kultur. Der Hauptstrom der Flüchtlinge dürfte Attika in der Zeit zwischen dem frühen 11. und späten 9. Jahrhundert durchzogen haben. Bald nach 1000 begannen die Vertriebenen mit der Kolonisierung Kleinasiens und der Inselwelt. Einige ließen sich wahrscheinlich in und um Athen nieder.

Auch wenn wir solcherart die Fortdauer der alten Kultur auf dem griechischen Festland annehmen, bleibt eine wesentliche Frage unbeantwortet. In der uns bekannten Form wurden Ilias und Odyssee zwischen 750 und 700 niedergeschrieben. Die Belagerung Trojas fällt jedoch ins frühe 12. Jahrhundert, gegen Ende der mykenischen Zeit. Der Lebensstil, den uns die Ilias dramatisch vor Augen führt, ist typisch mykenisch; alle Kampfszenen weisen auf das Waffenarsenal und die Kriegstechnik der Bronzezeit. Von dieser Welt des Agamemnon haben die späteren Griechen „wenig gewußt und noch weniger begriffen“, sagte Sir John L. Myres. Wie vollzog sich die Übermittlung der Erinnerungen und Traditionen aus archaischer Vergangenheit über einen Abgrund von zumindest vierhundert Jahren?

Eine glänzende Entdeckung des jungen britischen Architekten Michael Ventris im Jahr 1952 liefert den Anhaltspunkt für eine mögliche Antwort. Ventris zeigte, daß die Inschriften auf Tontäfelchen, wie sie sich an Ausgrabungsstätten aus mykenischer Zeit finden, eine sehr altertümliche, aber durchaus erkennbare Form des Griechischen darbieten. Die Brücke gleicher Sprache überspannt somit die dunklen Jahrhunderte.

Trotz dem Enthusiasmus mancher Gelehrter (z.B. des Prof. Webster, London) ist es eine eher gebrechliche Brücke. Das Griechische in der „Linear B“-Schrift der mykenischen Täfelchen ist ein halbes Jahrtausend älter als alles, was man bisher von dieser Sprache kannte. Auf den Täfelchen finden sich Inventarien von Waren und Waffen, Listen von Namen, darunter einige, die später bei Homer auftauchen, sowie fragmentarische Anrufungen von Göttern. Bisher kamen keine Reste von Literatur im eigentlichen Wortsinn zutage. Die Schrift ist überdies für die Aufzeichnung von Dichtungen gar nicht recht geeignet.

Die nächsten griechischen Schriftdenkmäler, in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, sind bereits in jenem aus Phönizien entlehnten Alphabet verfaßt, dem auch unser eigenes entstammt. Die Zwischenzeit liegt völlig im Dunkeln. Vielleicht gab es eine minoische Ilias in Linearschrift, die sich jene Jahrhunderte hindurch irgendwo erhalten haben mag (in Zypern überlebte die Kunst des Schreibens). Aber das geringe Beweismaterial, das mit Bezug auf unser Problem zur Verfügung steht, deutet eher darauf hin, daß die mykenische Erbmasse der Ilias von Mund zu Mund bis ins 8. Jahrhundert weitergegeben wurde. Wir wissen nun immerhin, daß es Griechen waren, die diese Weitergabe besorgten.

Bedeutet dies, daß Ilias und Odyssee insgesamt, nicht bloß das darin tradierte archaische Material, auf mündlichem Weg entstanden sind? Seit Milman Parry steht fest, daß der homerische Vers vielfach formelhaft ist. Zur Ausfüllung der natürlichen metrischen Einheiten bediente man sich einer standardisierten Phraseologie. Es gibt z.B. 46 nominale Beifügungen zur Kennzeichnung des Achilles, jede von anderer metrischer Struktur. Der Dichter wählte aus, was der Prosodie des betreffenden Verses am besten entspricht. Er schuf das Epos, indem er es sang, und er benützte dazu diesen ausgebreiteten Vorrat an Formeln und Motiven, die seiner Einbildungskraft weiterhalfen und ihm die Variation eines gegebenen epischen Themas erlaubten. Heldengesang dieser Art wird immer noch betrieben, insbesondere in Jugoslawien und unter den Berbern Nordafrikas.

Lieder vom Fall Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus wurden demnach bei mannigfacher Gelegenheit rezitiert, und jedesmal in einer anderen Version. Unter diesem Gesichtspunkt wird Homer zu einem der vielen fahrenden Sänger, die ihrem analphabetischen Publikum Improvisationen nach geläufigen Motiven darboten. „Jemand, der die neue Kunst des Schreibens beherrschte, hatte glücklicherweise genug Verstand, die Fassung, die dieser hervorragende Sänger einigen traditionellen Themen gab, auf Papyrus festzuhalten.“ Das ist, in ihren Grundzügen, die neueste Theorie, wie sie Albert B. Lord in seinem Werk „The Singer of Tales“ vertritt.

Ohne Zweifel enthalten die Homerischen Epen zahlreiches archaisches Material, das auf Überlieferung aus dem bloßen Gedächtnis hinweist. Und ohne Zweifel haben jugoslawische Hirten, vor dem Magnetophon hockend, Heldenlieder von phantastischer Länge improvisiert. Aber was folgt daraus für die Struktur der Ilias? Fast nichts. In der uns überkommenen Form ist die Ilias ein Werk von bewundernswerter innerer Einheit. Ihre Komposition ist fugenlos und absichtsvoll. Man vergleiche sie mit dem besten, was wir an Volksdichtung aufzeichnen konnten, und der Unterschied wird in die Augen springen.

Hier haben wir es mit einer souveränen Vision der menschlichen Existenz zu tun, nicht mit einer Aneinanderreihung von Abenteuern, die der mnemotechnischen Automatik ihren diskursiven Fortgang verdankt. Daß wir etwa mittels des obliquen Themas vom Zorn des Achilles auf indirekte Weise in die eigentliche Handlung eingeführt werden, zeugt von hoher künstlerischer Raffinesse. Und die gesamte Komposition — die echohafte Korrespondenz der Themen, der Wechsel von Belastung und Entspannung des Auditoriums — erwächst in seiner Allgemeinheit bruchlos aus der speziellen Dramatik jener Einleitung. Nur das zehnte Buch muß man wohl als Einschub oder späte Beifügung aussondern.

Prof. Whitman gebührt das Verdienst, in seinem Werk „Homer and the Heroic Tradition“ allen Nachdruck darauf gelegt zu haben, daß die Ilias vor allem anderen ein Kunstwerk sei. Er hält sie für das sprachliche Gegenstück der berühmten geometrischen Vasenkunst in der Zeit von 850 bis 700. „Das ganze Epos stellt ein einziges großes konzentrisches Muster dar.“ Das ist freilich eine allzu glatte Vereinfachung. Die Unterteilung des Epos in 24 Bücher, worauf sich Whitman stützt, ist ein spätes Produkt herausgeberischer Praxis. Aber in der Hauptsache hat Whitman sicherlich recht. Die Ilias ist das Werk eines sehr komplexen und wohlkontrollierten künstlerischen Formensinns. Gewiß sind ausgedehnte Fragmente mündlich überlieferter Liedtradition darin eingebettet; aber daß dieses Werk insgesamt ohne Niederschrift geschaffen und überliefert wurde, ist höchst unwahrscheinlich.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1963
, Seite 360
Autor/inn/en:

George Steiner:

George Steiner, aus Österreich gebürtig und in Amerika lebend, ist Fulbright-Professor an der Universität Innsbruck. Zu den Stationen seiner wissenschaftlichen Laufbahn gehören das Institute of Advanced Studies in Princeton sowie die Universitäten von Oxford und Harvard. Er ist in seinem Fachgebiet, der vergleichenden Literaturwissenschaft, mit zahlreichen Publikationen hervorgetreten und war mehrere Jahre Redakteur des Londoner „Economist“. Im Januar 1959 erscheint bei Knopf, New York, seine Studie „Tolstoy or Dostoyewsky, an Essay in Politics and Literature“.

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