FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1963 » No. 117
George Steiner

Homer bleibt dunkel (II)

Wege und Irrwege der „höheren Kritik“ in drei Jahrhunderten

Aber in welcher Schrift vollzogen sich Schöpfung und Überlieferung? Auch in dieser komplizierten Frage gibt es keine Übereinstimmung unter den Gelehrten. Die ionische Schrift, in der die Homerischen Epen auf uns gekommen sind, wurde erst während des 5. Jahrhunderts in offiziellen Gebrauch genommen. Von ihrer vorangegangenen Geschichte wissen wir fast nichts. Whitman kommt zu dem Schluß, daß Ilias und Odyssee ursprünglich im sogenannten alt-attischen Alphabet niedergeschrieben und später transkribiert wurden, was manche Merkwürdigkeiten des uns vorliegenden Textes erklären würde. Das erste Manuskript könnte aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts stammen, „aus der Zeit des Dichters, wo nicht von seiner Hand“. Noch vor dreißig Jahren hätte eine solche Theorie heulendes Hohngelächter der Gelehrten auf sich gezogen.

Auch heute verfügen wir über keinen Beweis dafür, daß ein so langer und so komplizierter Text so früh zur Niederschrift gelangte. Immerhin war das Alphabet vorhanden, und der Handel mit Phönizien mochte für den nötigen Papyrus gesorgt haben. Wenn es damals noch kein solches Manuskript gab, so würde es ebenso auffällig wie unbegreiflich bleiben, daß die Homerischen Epen keine sprachlichen oder inhaltlichen Elemente aufweisen, die eine spätere Datierung als 700 vor Christi zulassen. Daß die beiden Kunstwerke auswendiggelernt und in perfektem Zustand Wort für Wort mündlich überliefert wurden, bis sie im 5. Jahrhundert niedergeschrieben werden konnten, ist eine gänzlich unhaltbare Theorie.

Wenn ich mir ein Stück Spekulation erlauben darf — nicht als Gelehrter, aber als Kritiker, der dem Genius dieser Gedichte nachspürt —, so wage ich zu behaupten, daß Homer deshalb die erste große Gestalt der westlichen Literatur ist, weil er der erste war, der die unausschöpflichen Möglichkeiten erkannte, die dem geschriebenen Wort innewohnen. Auf dem Grund des sprudelnden Quellflusses seiner Erzählkunst, im Innersten der großartigen Verflechtung seiner Themen blitzt das Vergnügen des Geistes, der da entdeckt hat, daß er seine Schöpfung nicht dem gebrechlichen Vehikel menschlicher Gedächtniskraft anzuvertrauen braucht. Die herbe Heiterkeit, mit der in der Ilias immer wieder die Kürze des Lebens und die Ewigkeit des Ruhmes miteinander konfrontiert werden, spiegelt das neuartige Hochgefühl des Dichters, der seine eigene Fortdauer gesichert weiß. Auch für die Dichtung gilt, daß am Anfang das Wort war; aber sehr nahe beim Anfang so großer Dichtung, wie es die Ilias ist, war die Schrift. Das originale Homer-Manuskript könnte — die Annahme ist durchaus zulässig — etwas ganz Einzigartiges gewesen sein, der sorgsam gehütete Schatz einer Sängergilde (der Homeriden). Die im 8. Jahrhundert eben erst gestifteten panhellenischen Spiele könnten für die „Söhne des Homer“ das geeignete Publikum geliefert haben. Und diese Sänger könnten sodann Ilias und Odyssee in einer kleinen Zahl kanonischer Texte weitergegeben haben, bis sie im Athen des 6. Jahrhunderts größere Verbreitung erlangten (in Form der sogenannten „Rezension des Peisistratos“).

Wir brauchen nicht anzunehmen, daß Homer des Schreibens selber kundig war. Er könnte diktiert haben. Ich vermute sogar, daß die alte und hartnäckige Überlieferung, er sei blind gewesen, hiemit etwas zu tun hat; die Homeriden wollten auf diese Weise vor einem späteren, kritischer gesinnten Zeitalter die Tatsache verbergen, daß ihr Meister im technischen Sinn Analphabet war. Ilias wie Odyssee verkünden, daß alles Menschenleben zu Staub wird, es sei denn, der Dichter sorge für die Unsterblichkeit. Spricht daraus nicht der Glaube eines großartigen Künstlers, der, wo nicht selbst, so doch mittels Stellvertretung, zum erstenmal in der Literatur des Westens über die volle Glorie des geschriebenen Wortes verfügte?

Die Homer-Forschung jüngeren Datums befaßt sich zum weitaus größeren Teil mit der Ilias. Fast alle Wege der Ausleger und Ausgräber führen nach Troja, nicht nach Ithaka. Die Odyssee eignet sich weder für die Erforschung der mykenischen Tradition, noch fügt sie sich in die Theorie von der Parallelität des epischen mit dem keramischen Stil.

Dies ist insofern aufschlußreich, als viele Leser Homers von allem Anfang an darin übereinstimmen, daß die beiden Epen sich zutiefst voneinander unterscheiden: in ihrem Ton, in ihrer formalen Struktur, vor allem in ihrer Anschauung vom menschlichen Leben. Das Homer-Problem umfaßt daher nicht bloß die Frage nach Autor und Textgestalt der beiden Epen, sondern auch die Frage nach den literarischen und geistigen Beziehungen zwischen dem einen und dem andern Epos.

Die Gelehrten sind uneins, auf welche Weise das Weltbild der Ilias zusammengesetzt ist. Manche versichern, daß die Schlachtenschilderungen realistisch gemeint sind und die Bemühung erkennen lassen, archaische Details, so gut es geht, zu modernisieren; das klassische Beispiel ist Homers ungeschickte Schilderung des Hektor’schen Leibschildes, eines Ausrüstungsstückes, das schon im zehnten Jahrhundert außer Gebrauch kam. Andere betrachten die Welt des homerischen Troja als „visionäre Struktur“, deren Elemente, von der Bronzezeit bis zum achten Jahrhundert, durch die stehenden Formeln und sonstigen Konventionen des heroischen Stils miteinander verknüpft sind. Eines ist klar: die Ilias bietet eine Auffassung von der menschlichen Existenz, wie sie sich in keinem anderen Werk der Weltliteratur wiederfindet, außer vielleicht in „Krieg und Frieden“ — aber gewiß nicht in der Odyssee.

Der Autor der Ilias wendet auf das menschliche Leben jenen klaren, unverwandten Blick, der uns aus den Helmschlitzen auf frühen griechischen Vasen entgegenstarrt; seine Anschauung des Lebens ist furchterregend nüchtern, kalt wie die Wintersonne. [*]

„Nun, lieber Freund, so stirb eben auch; was jammerst du drüber?
Starb doch auch Patroklos, und der war viel besser als du’s bist.
Siehst du denn nicht, was ich für ein Mann bin, ein schöner und großer?
Adelig ist mein Vater, die Mutter sogar eine Göttin;
doch ich sag’ dir, auch mir blüht der Tod, das gewaltige Schicksal.
Einst wird ein Morgenrot sein, ein Abend, oder ein Mittag,
und es wird jemand auch mir in der Schlacht das Leben dann nehmen,
sei es mit einem Speerwurf, sei’s mit dem Pfeil von der Sehne.“
Solcherart sprach er. Dem andern wurden die Knie und das Herz schwach,
gleich ließ er los seinen Speer, setzt sich hin, die Hände entfaltend
beide zugleich. Doch Achilles zückte sein Schwert, das scharfe,
stieß es beim Schlüsselbein ihm in den Hals, und gänzlich nach innen
drang das beidseits geschliffene Schwert; das Gesicht auf der Erde
lag er der Länge nach, schwarz rann das Blut aus, und netzte die Erde.
Ilias XXI, 106-119

Die Erzählung schreitet mit unmenschlicher Ruhe fort. Die geschärfte Unmittelbarkeit der Anschauung wird niemals den Forderungen des Pathos geopfert. In der Ilias behält die Wahrheit des Lebens, wie hart, wie ironisch sie sein mag, stets den Vorzug gegenüber den Zufälligkeiten des Gefühls.

Das eindrücklichste Beispiel liefert der Höhepunkt des Epos, die nächtliche Begegnung zwischen Priamos und Achilles. Über ihr liegt Stille inmitten der Hölle. Aug in Aug geben König und Menschentöter ihrer großen Trauer Ausdruck. Ihr Kummer ist unermeßlich. Doch nachdem sie geredet haben, verspüren sie Hunger und setzen sich zu einem reichhaltigen Mahl. Der Mensch, wie Achilles von Niobe zu sagen weiß, denkt ans Essen, wenn er vom Weinen genug hat. Nicht einmal Shakespeare hätte im feierlichsten Moment der Tragik die Beifügung einer so schlichten Wahrheit riskiert.

Solche grandiose Sachlichkeit ist nicht etwa das Produkt bitterer Resignation. Die Ilias ist kein Klagelied auf die menschliche Existenz. Sie ist voll jener Lebensfreude, die Yeats (im „Lapislazuli“) in den „alten, glitzernden Augen“ der Weisen leuchten läßt. Homer schwelgt in seiner Vorliebe für physische Aktion und in der stilisierten Wildheit des Kampfes von Mann zu Mann. Für ihn brennt das Leben vom Feuer einer zentralen, unverlöschlichen Energie. Rund um seine Helden zittert die Luft, und heldische Lebenskraft elektrisiert noch die umgebende Natur. Die Rosse des Achilles weinen über seinen nahenden Fall. Sogar leblose Dinge werden vom Übermaß des Lebens angesteckt. Der Pokal des Nestor hat so greifbare Realität, daß die Archäologen behaupten, sie hätten ihn, dreitausend Jahre später, tatsächlich ausgegraben.

Reine Energie des Seins durchpulst die Ilias wie Wellenschlag des weindunklen Meeres. Homer fühlt sich darin herrlich wohl. Noch inmitten tödlichsten Gemetzels flutet das Leben voll wilder Fröhlichkeit an uns heran. Homer weiß und kündet, daß in Männern etwas steckt, was den Krieg will und die Schrecknisse der Schlacht minder fürchtet als die endlose Langeweile des Daheimseins.

In der Sphäre des Agamemnon, des Hektor, des Achilles ist der Krieg das Maß des Mannes, das einzige Gewerbe, das er gelernt hat. Im Antlitz des Todes sorgt sich Hektor, wer seinen Sohn das Speerwerfen lehren wird. Und im Todesschatten blüht, wiederkehrend, das Licht des morgendlichen Lebens. Rund um die Asche des Patroklos betreiben die griechischen Häuptlinge Ringen, Rennen und Speerwerfen, ihrer Stärke und Lebendigkeit zur Feier. Achilles weiß, daß er verloren ist, aber jede Nacht liegt er bei der lichtwangigen Briseis. Krieg und Sterblichkeit laufen Sturm, aber das Zentrum hält stand: die Gewißheit, daß körperliche Betätigung und heldischer Geist für sich schon Schönheit sind; daß Ruhm die vergänglichen Schrecknisse des Todes überstrahlt; daß kein Fall, nicht einmal der Fall Trojas, das Ende bringt. Hinter den berstenden Türmen, hinter dem brutalen Chaos der Schlacht rollt ruhig die See. Die Delphine springen, und noch ein Stück dahinter dösen Hirten in der Stille des Gebirges.

Homers berühmte Metaphern, in denen er Augenblicke der Schlacht mit pastoralen oder häuslichen Episoden gleichsetzt, stehen im Dienste solcher Versicherung letzthinniger Stabilität dieser Welt. Sie sagen uns, daß die Wellen noch ans Ufer stürmen werden, wenn der Schauplatz des Krieges um Troja längst zum umstrittenen Gegenstand der Erinnerung geworden ist.

Die Ilias bietet ein spezifisches und einzigartiges Abbild menschlichen Lebens. Es ist wahrer, sagt John Cowper Powys, als das irgendeines anderen Dichters. Mehr als alle andern „gleicht es dem, was uns geschah, was uns geschieht, was uns geschehen wird — uns allen, von allem Anbeginn, in all unserer Geschichte auf dieser Welt, bis zum Ende aller menschlichen Geschichte auf dieser Welt“. Dies mag wahr sein. Aber die Wahrheit der Ilias ist nicht die Wahrheit der Odyssee.

Den „alten, glitzernden Augen“ der Ilias setzt Odysseus seinen ruhelosen, ironischen Blick entgegen. Das Epos vom Krieg ist aus großen massiven Blöcken gehauen, die Geschichte von der Heimkehr kunstreich aus einer Vielfalt von Fäden gesponnen. Über jede Seite dieser Geschichte ist Seewasser gelaufen. Eilig, alles durchdringend, rasch sich wieder zurückziehend ist die Anschauungsweise. Seltsam seichte Stellen wechseln mit unerwartetem Tiefgang.

„Ein Roman“, urteilt T. E. Lawrence. Was den Entwurf und dessen abwechslungsreiche Ausführung anlangt, ist es ein wahrer Wunderbau. Aber es ist schwierig, sich darin Übersicht zu schaffen. Das alte heroische Feuer ist bedeckt. Die muskulöse Einfalt des Lebens vor Troja hat aller möglichen Ironie und Kompliziertheit Platz gemacht. Das Werk wurde vom antiken Publikum höchlich verehrt, aber es schuf ihm Unbehagen. Die Papyrusfragmente der Ilias sind weit zahlreicher als jene der Odyssee.

Die Geographie des Werkes ist ein Rätsel. Sie scheint nicht nur Griechenland und das ionische Kleinasien zu umfassen, Kreta, Lykien, das westliche Sizilien und Ägypten, sondern sogar einen Zipfel von Mesopotamien. An manchen Stellen handelt es sich offensichtlich, statt um Geographie, um Phantasie. Wie auf den Seekarten des Mittelalters wimmeln die Fabeltiere, und die Windgötter blasen aus jeglicher Himmelsrichtung.

Gewisse Züge der Odyssee stimmen zur Verfallsperiode des mykenischen Feudalismus (der Analphabetismus der beschriebenen Gesellschaftsschichte; die Hinfälligkeit der ithakischen Monarchie; die seltsamen ökonomischen Details im Ehekontrakt der Penelope). Andre Züge reflektieren, wie es scheint, die neue Wertordnung der Stadtstaaten, die im späten achten Jahrhundert auftauchen. Was in der Odyssee an mykenischer Kultur sichtbar wird, rührt anscheinend von deren kolonialen Außenposten, die in Kleinasien lange Zeit fortlebten. Der Anhauch des Orients ist unverkennbar.

Daß dem Dichter das babylonische Gilgamesch-Epos bekannt war, ist wahrscheinlich. Daß sehr alte asiatische und afrikanische Mythen in dem Roman des Irrfahrers widerklingen, ist fast gewiß — z.B. an einer der faszinierendsten Stellen des ganzen Werkes. Vom Tode sprechend, prophezeit Tiresias dem Odysseus, daß jenseits von Ithaka eine andere Fahrt auf ihn wartet:

Zieh dann sogleich von hinnen, mit einem handlichen Ruder, bis du zu jenen gelangst, welche nichts wissen vom Meere, Menschen, die ohne des Salzes Würze ihr Essen drum essen, und natürlich nichts wissen von Schiffen mit purpurnen Wangen,
nichts auch von handlichen Rudern, wie Flügel am Schiff sich bewegend.
Und ein Erkennungsmal nenn’ ich dir, überaus deutlich, nicht mißbar:
wenn du jemand begegnest, und dieser andere Wandrer spricht, du trügst eine Schaufel zum Worfeln auf stattlicher Schulter ...
Odyssee XI, 121-128

Wo liegt dieses salzlose Land, und was bedeutet die Verwechslung von Ruder und Worfelschaufel? Wir wissen es nicht. Aber in seiner bedeutsamen Studie „Genèse de l’Odyssée“ hat der französische Ethnologe Gabriel Germain dargetan, daß der Tenor dieser Mythe jedenfalls zutiefst ungriechisch ist. Das Motiv eines allseits landumschlossenen Königreiches, dessen Bewohner weder Salz noch Schiffe kennen, findet sich unter dem überlieferten Erzählgut des prä-islamischen Nordafrika.

Dante hatte keine direkte Kenntnis der Odyssee, aber auf dem Umweg über Seneca war ihm die Prophezeiung des Tiresias geläufig. Er gab ihr eine grimmig-christliche Deutung. Odysseus, als eine Art Faust, nach Leben und geheimer Wissenschaft allzu begierig, wird von ihm auf eine letzte tödliche Reise jenseits von Gibraltar geschickt (Inferno XXVI).

Der Geist des Seefahrers ist dort nicht zur Ruhe gekommen. Odysseus ist aus der Verdammnis auferstanden und hat in der westlichen Kunst wie Literatur ungezählte Gestalten angenommen. Deren meiste — auch jene, die in unserer Zeit Joyce und Kazantzakis dem Odysseus gegeben haben — sind in der Urfassung bereits impliziert. Die Charaktere der Ilias sind von reichhaltiger Einfalt und bewegen sich in klarem Licht; Odysseus ist ungreifbar wie eine Flamme. So erfreut er sich eines Fortlebens, das vielfältiger und fesselnder ist als jenes des Achilles oder Hektor. Schon seine ursprünglichen Abenteuer führen in Reiche des Denkens und der Erfahrung, von denen die bronzezeitlichen Krieger vor Troja sich nichts träumen ließen.

Zweimal — zumindest — weht der Fahrtwind des Odysseus aus Arabien. Zu Nausikaa gelangt er, wie es scheint, geradewegs aus Tausendundeiner Nacht; die ganze Episode ist ein orientalisches Märchen. Der vom Schicksal Geschlagene wird als Bettler vom Meer ans Land gespült; unsichtbare Kräfte geleiten ihn zum Palast des Herrschers, wo sich sein wahrer Glanz enthüllt; mit Reichtümern beladen, zieht er wieder fort und fällt in einen Zauberschlaf. Eingewoben in die Romanze vom Bettler und vom Kalifen findet sich das Thema von der keimenden Liebe des jungen Mädchens für den viel älteren Mann. Auch das hat mit klassischer griechischer Sinnlichkeit wenig gemein, nimmt vielmehr die Romantik des alexandrinischen Hellenismus vorweg.

Oder denken wir an die einzige durch das ganze Epos fortgesponnene Beziehung, an die Freundschaft zwischen Athene und Odysseus. Die Göttin und der Wanderer gönnen sich alle Entzückungen, die ihnen ihre Virtuosität in der Kunst gegenseitiger Täuschung verschaffen kann. Sie belügen einander in einem förmlichen Wettbewerb der Ehrlosigkeit. Sie feilschen wie im Basar von Damaskus, um voll zärtlicher Gaunerei einander hereinzulegen. Mehr als zweitausend Jahre vor Shakespeares Beatrice und Benedikt wußte Homer, daß zwischen Mann und Frau nicht bloß Herzens-, sondern auch Hirnaffären bestehen können. Einmal gibt sich die Göttin beinahe geschlagen; ihr liebevoll schmollender Spott könnte geradewegs von Shaw stammen:

Mit allen Salben müßte geschmiert sein, wer überböte sämtliche Tricks, die du kennst — selbst wenn er als Gott konkurrierte.
Frechdachs, Schlaufuchs, Schwelger in Tücke, willst du denn gar nicht —
nicht einmal auf heimischem Boden — aufhör’n, du Schwindler,
mit diesen windigen Märchen, die dir von Herzensgrund lieb sind?
Aber wir wollen nun nicht mehr von alledem reden, wir beide kennen das Handwerk, du allen Sterblichen weit überlegen im Intrigieren und Fabulieren, ich allen Göttern durch meine Ränke bestens bekannt ...
Odyssee XIII, 291-299

Auch hier sind wir weitab von Ton und Anschauungen der Ilias. Die Zänkereien und Vergnügungen der Olympier werden dort bisweilen satirisch dargestellt. Meist aber erscheinen die Götter als unberechenbare und bösartige Geschöpfe, je nach Laune die Menschen fördernd oder verderbend. Nirgendwo finden wir jene mit Raffinesse gewürzte, amüsierte Freundschaft, die Athene und Odysseus verbindet. Sie hat etwas Orientalisches an sich.

Der Gedanke, daß die Odyssee aus der Gegend des östlichen Mittelmeers stammt, ist nicht neu. Zachary Bogan, Altphilologe in Oxford, veröffentlichte 1658 eine Arbeit mit dem Titel „Homer ein Hebräer“. Etwas später versicherte ein Fachgenosse, daß Ilias wie Odyssee den König Salomo zum Autor hätten. Die moderne Gelehrsamkeit ist vorsichtiger. Aber Victor Bérard plädiert für den phönikischen Ursprung der Odyssee, und Joyce, mit einem charakteristischen Sprung seiner Einbildungs- und Einfühlungskraft, macht aus Odysseus einen Juden.

Wenn also Ilias und Odyssee in Ton und Anschauung so gründlich verschieden sind: welcher Art ist dann die Beziehung zwischen ihnen?

Whitman behauptet, daß der „gewaltige und offenkundige“ Stilbruch zwischen den beiden Epen von parallelen Erscheinungen in der griechischen Keramik begleitet wurde. Im Gegensatz zum geometrischen war der nachfolgende alt-attische Vasenstil „frisch, offen und leicht orientalisierend“. Der alt-attische Vasenmaler behandelt seine Themen in flüssiger Erzählform, als Aneinanderreihung von Episoden — genau wie in der Odyssee. Wir befinden uns nicht mehr in der starren, konzentrisch gebauten Welt der Ilias und des geometrischen Stils.

Viele Gelehrte haben Whitmans Theorie insgesamt abgelehnt, mit dem Argument, daß Gedichte und Töpfe nicht vergleichbar seien. Aber Whitman hat zumindest eine glänzende Beobachtung beigesteuert. In der Ilias wird die äußere Erscheinung der auftretenden Personen stilisiert. Als beschreibende Beiwörter dienen stehende Formeln. Frauen z.B. sind fast ausnahmslos „weißarmig“. In der Odyssee hingegen gibt es Fleischtöne. Odysseus ist braungebrannt, Penelopes Haut gleicht geschnitztem Elfenbein. Die selbe Veränderung des Inkarnats zeigt sich in der Vasenmalerei.

Ilias und Odyssee wurden möglicherweise nicht nur zu verschiedenen Zeiten, sondern auch an verschiedenen Orten geschrieben. Im Wortschatz zeigen sich, betont Prof. Denys Page, solche Differenzen, daß die Annahme des selben Entstehungsortes auszuschließen sei. Die Ilias könnte in Attika entstanden sein, die Odyssee in Ionien oder sogar in Sizilien (wie Robert Graves meint).

Aber diese Theorie ist nicht unangefochten geblieben. Ihre Kritiker verweisen darauf, daß ein Epos, in dem der Krieg zu Lande geschildert wird, notwendigerweise ein anderes Vokabular hat als eines, das hauptsächlich von Seefahrt handelt. Dennoch hält es schwer, zu glauben, daß beide Epen dem selben Boden entstammen. Der Homer der Odyssee hat, wie es scheint, gewisse von ihm geschilderte Örtlichkeiten und Tätigkeiten mit eigenen Augen gesehen, wogegen der Autor der Ilias auf seine Vorstellungskraft angewiesen war.

Leser des Homer, die selber schreiben oder aber Soldaten sind, verwerfen zumeist die Theorie, daß beide Epen von dem selben Autor stammen. Samuel Butler und Robert Graves wollen in der Odyssee die Hand einer Frau erkennen, die altes heroisches Garn auf ihre Art neu versponnen habe. John Cowper Powys erklärt, daß die zwei Gedichte „verschiedene Autoren haben oder auf verschiedene Urfassungen zurückgehen“ und daß „zwischen ihnen ein historisches Intervall von drei- oder vierhundert Jahren liegt“. T. E. Lawrence beschreibt den Dichter der Odyssee als „eifrigen, wenn auch unkritischen Leser der Ilias“ und hält nicht viel von dessen praktisch-militärischen Kenntnissen. Anscheinend widerspiegeln die beiden Epen gegensätzliche intellektuelle Qualitäten.

Durch das Prisma der Odyssee erhalten wir ein überaus unscharfes Bild der Ilias. Am klarsten wird dieses Bild im VII. Buch, wenn der Seher Demodokos vom Fall der Türme des Priamos singt, während Odysseus im Verborgenen zuhört. Gemessen an aller Literatur ist dies eine der großen Szenen mit doppeltem Brennpunkt; sie erinnert an das Ertönen der Melodie aus „Figaros Hochzeit“ im zweiten Akt des „Don Giovanni“.

Für das Auditorium des blinden Demodokos liegen die Streitigkeiten zwischen Agamemnon und Achilles weit zurück; sie haben bloß die gebrochene Strahlkraft der Legende. Doch für Odysseus ist die Legende unerträglich gegenwärtig. Er schlägt den purpurnen Mantel vor die Augen und weint. Er fühlt sich auf doppeltem Boden, innerhalb und außerhalb des trojanischen Sagenkreises. Da er sich selbst besungen hört, rechnet er sich zum Totenreich der Mythologie. Aber er ist überdies ein lebendiger Mensch, der in seine Heimat zurückwill. Der Krieg um Troja wird von ihm zugleich als tragische Erinnerung akzeptiert und als Hindernis auf seinem Lebensweg verworfen.

Das ist die entscheidende Aufspaltung. Die Odyssee enthält solcherart Kritik am archaischen Wertsystem der Ilias im Lichte neuer Lebensenergie und neuer Lebensauffassung. Solche Kritik wird dramatisch deutlich im kurzen Dialog zwischen Odysseus und dem Schatten des Achilles:

„... Achilles, kein Mensch zuvor war glücklicher, keiner wird es danach sein;
denn als lebendigen ehrten dich einst wie sonst nur die Götter all wir Argiver, und groß regierest du nun bei den Toten unten; darum, daß du starbst, beklag nicht, Achilles!“
Solcherart sprach ich, doch er, gegen mich sich kehrend, erwidert:
„Mir darfst du wirklich den Tod nicht loben, erlauchter Odysseus,
lieber noch würde ich Ackerknecht sein im Dienst eines andern —
wär’s auch ein armer Mann, der nicht viel zum Leben hätte — als unter all den erloschenen Toten Herrscher zu sein ...“
Odyssee XI, 482-491

Der ruhmestrunkene Achilles der Ilias würde nichts dergleichen gesagt haben, auch nicht im Totenreich. Wenn er schlecht gelaunt war, hüllte er sich in rüde Schwermut. Er meuterte gegen die vorbestimmte Unmittelbarkeit seines Falles. Doch niemals verwarf er die ragende Größe und Notwendigkeit des Heldenideals. Andernfalls hätte es vor Troja längst Frieden gegeben. Wenn Achilles lieber als Sklave eines armen Mannes lebendig wäre, statt als König der Unsterblichen tot zu sein, dann wird der Sinn der Ilias schlechthin in Frage gestellt.

Es ist denkbar, wenngleich unwahrscheinlich, daß der selbe Dichter zwei einander so entgegengesetzte Auffassungen des Lebens auszubilden vermag. Überdies kenne ich in der Literatur kein Beispiel dafür, daß ein Autor zwei Meisterwerke geschrieben hätte, in deren einem er auf das andere mit solcher Mischung von Ehrfurcht und zweifelnder Ironie blickte, wie in der Odyssee auf die Ilias geblickt wird.

Und doch klingt, so scheint es, immer wieder eine einzige Stimme durch alle Verschiedenheit der Erzähltechnik und Weltauffassung. Manche Großartigkeit der Ilias wird erst im Spiegel der Odyssee vollends sichtbar. Achilles wird anläßlich seiner Trauer über Patroklos mit einem Vater verglichen, der den Tod seines neuvermählten Sohnes beklagt. Eine exakte Umkehrung dieser Metapher findet sich anläßlich der Freude des Odysseus beim Anblick festen Landes nach Zerstörung seines Floßes. Und beide Metaphern werden erneut angetönt, als Penelope den Wanderer erkennt. Feine, aber den Zusammenhang hartnäckig sichernde Fäden verbinden die beiden Gedichte.

Wie läßt sich unser Gefühl, daß die beiden Werke sehr verschieden sind, mit unserem Gefühl vereinen, daß sie dennoch zusammengehören? Die Gelehrten wissen keine überzeugende Antwort. Unbeschützt von ihrer Autorität will ich eine solche versuchen.

Ich glaube, daß Homer, wie er uns vertraut ist — jener Dichter, der weiterhin die westliche Einbildungskraft auf vielfältige und bedeutungsvolle Art bestimmt —, Kompilator der Ilias und Autor der Odyssee war. Er sammelte und ordnete die aus mykenischer Zeit überlieferten Sagen von Kriegen und Schlachten. Er hatte den Kunstverstand, diese Fragmente rund um das Motiv vom Zorn des Achilles zu gruppieren, wodurch sie auf dramatische Weise neue Einheit erhielten. Ansonst behandelte er sein altertümliches Material samt den darin enthaltenen volkstümlichen Legenden mit tiefstem Respekt.

Bisweilen mißverstand er die kriegstechnischen Details in den Berichten über lange zurückliegende Begebenheiten oder auch die Sprache, worin sie überliefert waren. Im allgemeinen traf er seine Wahl so, daß er beibehielt, was ihm dunkel erschien, und nichts daran herumbesserte. Er begriff die düstere Strenge der dem archaischen Erzählstil eigenen Symmetrie, und er sah das Leben durch die harten, blitzenden Augen der Schlacht. Zur kurzlebigen Intensität der mündlich fixierten Dichtung fügte er die neue Spannweite und gefeilte Raffinesse der schriftlichen Form. Der Kompilator der Ilias war, wie die Männer, die das Sagengut des Pentateuch verschmolzen, ein Genie der Edierungskunst; aber Gold und Bronze für seinen Schmelztiegel waren von anderer Hand bereitgelegt worden.

Ich denke, daß Homer das Werk mit den ersten Kräften seiner Reife vollendete. Die Ilias hat etwas von der Grausamkeit der Jugend an sich. Mit gereifter Erfahrung und Sensibilität mag Homer die Lebensanschauung der Ilias als unzureichend empfunden haben. Man kann sich ihn sehr gut als ausdauernden und aufmerksamen Reisenden vorstellen. „Er hatte das Meer weithin befahren und gründlich betrachtet“, urteilt T. E. Lawrence. Insbesondere, meine ich, war ihm die Vielfalt der orientalisierten Kulturen des östlichen Mittelmeers vertraut. Was an der Ilias orientalisch ist, hat die urtümliche Steifheit der Legende; es ist traditionelles Material, das aus der Ära der bronzezeitlichen Handelsbeziehungen stammt. Der Orient in der Odyssee ist hingegen modern, zeugt von unmittelbarer Kenntnis.

Am Nachmittag seines Lebens mag der vielgereiste Mann sich zur Welt der Ilias rückgewandt und deren Anschauung vom menschlichen Leben mit der nunmehr ihm eigenen verglichen haben. Aus diesem Vergleich, aus dem delikaten Gleichgewicht von Respekt und Kritik, wuchs die Odyssee. Mit der wunderbaren Schärfe seines Intellekts wählte Homer als seinen Helden jenen einen und einzigen der trojanischen Sage, der dem Geist der „Moderne“ nahesteht. Schon in der Ilias bezeichnet die Gestalt des Odysseus den Übergang von der heldenhaften Einfalt zu einem Lebenszustand der aufsteigenden Skepsis, der schwingenden Nerven, des Mißtrauens vor festgefügter Überzeugung. Wie sein Odysseus hatte auch Homer das robuste, aber rudimentäre Wertsystem der achilleischen Welt verlassen. Als er die Odyssee schrieb, blickte er auf die Ilias zurück, über die weite Distanz des Heimwehs und mit dem Lächeln des Zweifels.

Diese Auffassung Homers stimmt zumindest mit den wenigen Fakten überein, die uns zur Verfügung stehen. Die Odyssee ist jünger als die Ilias, doch meines Erachtens nicht um vieles. Das eine Gedicht ist in dem anderen auf intensive Weise lebendig. Über die menschliche Existenz wird im einen und anderen auf sehr unterschiedliche Weise geurteilt. Aber durchaus verwandte künstlerische Kraft ist in beiden am Werk. Hinter ihnen liegt, weit zurück und teils mißverstanden, das Erbgut aus mykenischer Vergangenheit; in der Ilias ist es erkennbarer als in der Odyssee. Dort leuchtet anderseits das erste Dämmerlicht der sokratischen Zukunft. Das Leben eines unvergleichlichen Kompilators und Poeten könnte die Brücke zwischen Troja und Ithaka sein.

Wir werden es niemals wirklich wissen. Als unleugbare Tatsachen bleiben uns bloß Ilias und Odyssee. Und obgleich es viele andere Bücher gibt, nach denen die Menschen ihr Leben einzurichten versuchen, sollte es mich nicht wundern, wenn deren keines besser als die beiden geeignet wäre, die Strapazen unserer Sterblichkeit zu lindern.

[*Zur Verdeutlichung dessen, was der Autor beweisen will, hat sich keine bisherige deutsche Übersetzung als tauglich herausgestellt. Sie sind alle zu pompös und zähflüssig. Hier und an den drei folgenden Stellen habe ich daher versucht, durch peinlich getreue Neuübersetzung den vom Autor aufgewiesenen Eigenheiten des Originals gerecht zu werden. — g. n.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1963
, Seite 418
Autor/inn/en:

George Steiner:

George Steiner, aus Österreich gebürtig und in Amerika lebend, ist Fulbright-Professor an der Universität Innsbruck. Zu den Stationen seiner wissenschaftlichen Laufbahn gehören das Institute of Advanced Studies in Princeton sowie die Universitäten von Oxford und Harvard. Er ist in seinem Fachgebiet, der vergleichenden Literaturwissenschaft, mit zahlreichen Publikationen hervorgetreten und war mehrere Jahre Redakteur des Londoner „Economist“. Im Januar 1959 erscheint bei Knopf, New York, seine Studie „Tolstoy or Dostoyewsky, an Essay in Politics and Literature“.

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