FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1961 » No. 94
Friedrich Abendroth

Heim nach Tübingen

Zur Übersiedlung Ernst Blochs in den Westen

Eine Szene von solcher Symbolkraft, daß man meint, Herbert Eulenberg habe sie für seine „Schattenbilder“ erfunden, aber sie ist dokumentiert: Hegel, Schelling und Hölderlin, drei studierende Jünglinge aus der Schule des Tübinger „Stiftes“, reichen einander unter einem Baum, nahe der Universitätsstadt Schwabens, die Hände. Es sind die Jahre der anhebenden Französischen Revolution. Und sie trennen sich mit dem Gruß und Gelöbnis: „Reich Gottes.“

Bis zu jenem Quellpunkt der neuen deutschen Geistesgeschichte muß man zurückdenken, um den Ausgang jenes Ernst Bloch zu verstehen, der in diesen Tagen ins nämliche Tübingen zurückkehrte. Seine sechsundsiebzig Jahre machen ihm eine ordentliche Lehrtätigkeit nicht mehr möglich. Aber er will Gastvorlesungen halten. Die Welt erfuhr dies aus einem veröffentlichten Brief an die Ostberliner Akademie der Wissenschaften:

Ich muß Ihnen, sehr verehrter Herr Präsident, mitteilen, daß ich bei künftigen Sitzungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften, deren ordentliches Mitglied ich bin, zu meinem wahren Bedauern nicht mehr anwesend sein kann.

Bloch war unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der amerikanischen Emigration 1949 Direktor des Instituts für Philosophie an der Leipziger Universität geworden. In einer Festschrift des „Aufbau-Verlags“ zu seinem 70. Geburtstag am 8. Juli 1955 hieß es:

Wir verehren in Ihnen den bedeutendsten Vorkämpfer und Repräsentanten des neuen sozialistischen Humanismus unter den deutschen Philosophen der Gegenwart, den Denker des Optimismus ohne Illusion, der Hoffnung, die mit dem Wissen im Bunde steht.

Die Autoren dieses Satzes, Janda und Harich, wurden kurz danach wegen ideologischer Abweichungen zu Zuchthausstrafen verurteilt, welche sie heute noch in einem Kerker Ulbrichts absitzen. Knapp nach dem Ungarnaufstand, im April 1957, beschäftigte sich die SED-Parteigruppe an der Leipziger philosophischen Fakultät mit der Lehre Blochs. Sie kam zu folgender Feststellung:

Diese Philosophie ist nicht mit den Prinzipien der Lehre von Marx, Engels und Lenin zu vereinbaren ... Sie ist ein sozialistisch und marxistisch aufgemachter Existentialismus, und diese Lehre führt ständig gegen den echten dialektischen Materialismus einen umstürzlerischen Kampf, den sie als solchen gegen Dogmatismus, Schematismus und Vulgärmaterialismus tarnt. Bloch bekennt sich zwar zur DDR, aber seine Philosophie der Hoffnung, des „Prinzips Hoffnung“ des alle Gegebenheiten sprengenden Geistes und Lebens ist von vornherein geeignet, als Grundlage oppositioneller Stimmungen und Bestrebungen gegen unsere Gesellschaft zu dienen.

Der Philosoph wurde seines Direktorpostens enthoben, zwangsweise emeritiert und praktisch von der Außenwelt abgetrennt. Seine Schüler und Assistenten wurden im gelinden Fall von der weiteren wissenschaftlichen Laufbahn ausgeschlossen, des Öfteren aber auch eingesperrt.

Bloch blieb in Leipzig. Er blieb nicht als ein ausharrender Gegner des Marxismus, der einen Widerstandskampf führt. Er blieb in der Überzeugung, der bessere und konsequentere Marxist zu sein als seine Kritiker. Er bejahte mit einer an den Sokrates der „Apologie“ und des „Kriton“ erinnernden philosophischen Konsequenz den Zonenstaat Ulbrichts als das bessere und wahre Deutschland. Von seiner persönlichen Lage wußte er zu abstrahieren.

Er kommt heute in die freiheitlich-rechtsstaatliche Bundesrepublik nicht als ein ressentimentgeladener Emigrant oder gar als ein Antikommunist. Er kommt, wie er selbst schreibt, weil ihm Universitäten, Zeitschriften und sein Verlag Gelegenheit geben,

zu lehren, zu publizieren und die bisherigen Arbeiten ungestört fortzusetzen.

All das werden, solange er lebt und arbeitet — und wir hoffen, daß dies noch recht lange der Fall sein wird —, wohl die Tätigkeiten eines Marxisten sein. Er hat die Zone Ulbrichts nach den Ereignissen des 13. August verlassen, weil diese erwarten lassen,

daß für selbständig Denkende überhaupt kein Lebens- und Wirkungsraum mehr bleibt.

Bislang beklagten sich über „mangelnden Lebens- und Wirkungsraum“ im Staate Ulbrichts nur Menschen, deren geistige Ausgangsbasis durch einen linientreuen Kommunisten als klassenmäßig befangen oder ideologisch verworren angezweifelt werden konnte. Emigrierte ein liberaler Demokrat: kein Schade. Ein gläubiger Christ: die Religion ist ohnedies zum Absterben verurteilt. Ein alter Sozialdemokrat: sein unmarxistischer Revisionismus hat ihn eben zwangsläufig zum „Verrat an der Arbeiterklasse“ geführt. Bei Ernst Bloch liegen die Dinge anders. Er kennt seinen Marx. Für ihn ist der Marxismus kein totes Buchstabensystem, das willkürlich zitiert werden kann. Er ist aber auch kein trotzkistischer Ideologe, der ein Idealbild des Marxismus entworfen hat und nun — beleidigt über die Praxis der Geschichte — die böse Wirklichkeit von dieser selbst geschaffenen Kanzel aus aburteilt. Er hat den Marxismus als eine „docta spes“, eine „begriffene Hoffnung“ bezeichnet und seine Philosophie als das „Gewissen des Morgen, Parteilichkeit für die Zukunft“.

In diesen Wochen schickt sich der Weltkommunismus an, mit der Proklamation des „Neuen Programms“ der KPdSU alle jene unter dem Stalinismus gewaltsam versiegelten Quellen des Utopismus — die von Bloch beschworene „Fronterscheinung dieses Ungekommenen“ — aufbrechen zu lassen. Und gerade jetzt steht der einzige kommunistische Prophet von philosophischem Weltrang wider die kommunistische Realität auf.

Bloch ist nach Tübingen zurückgekehrt. Von dort zog einst Hegel aus, sein Reich des lebendigen Gottes in der Geschichte zu begründen. Bloch hat wie kaum einer schlüssig bewiesen, daß Marx ohne diese Lehre Hegels nicht zu denken ist. Die Frage an Bloch, den zum Ursprung Heimgekehrten, ist nun die folgende: Glaubt er, das einst entworfene „Reich Gottes“ sei in logisch unausweichlichem Zwang schließlich zum Deutschland Ulbrichts (auf anderen Wegen freilich auch zum Deutschland Hitlers) geworden, oder sieht er, der universale, weltumspannende Logiker, in dieser heute und hier faßbaren Erscheinungsform des „Reiches Gottes“ nur einen historischen Unfall, ein Versehen der Geschichte ? Wenn die freie Welt gerade in diesen dramatischen Gegenwartsstunden von irgendeinem eine Antwort auf diese Frage fordern darf, dann von Ernst Bloch.

Brecht konnte sich nur mehr in der Nähe des Berliner Hegel-Grabes bestatten lassen. Bloch hat immerhin die Möglichkeit, den Baum von Tübingen noch einmal aufzusuchen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1961
, Seite 350
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