MOZ » Jahrgang 1989 » Nummer 43
Arpad Hagyo

Gesinnungs-Forschung

Mit methodischer Exaktheit stöbern Sozialwissenschaftler abspenstig gewordene Wähler für die Parteien auf. Während altbewährte Strukturen des österreichischen Parteiensystems zersplittern, finden Meinungsforschungsinstitute neue Aufgaben und Märkte infolge einer „Amerikanisierung“ österreichischer Innenpolitik sowie im Osten durch den Rückzug der Kommunistischen Parteien vom Machtmonopol.

Die SP-Führung zu Zeiten der Kleinen Koalition Sinowatz-Steger war der Ansicht, von vornherein über die politischen Bedürfnisse der Bevölkerung Bescheid zu wissen. Gestandene Politiker seien auf demoskopische Studien und dergleichen nicht angewiesen, zeigte sich Sinowatz überzeugt.

Meinungsforscher Kurt Traar erklärt heute den Standpunkt der damaligen Sozialisten so: „Wenn ich eine Ideologie hab’, kann ich höchstens darüber nachdenken, ob sie bei den Leuten ankommt. Aber an sich ist sie richtig.“

Bis auf die turnusmäßige Sonntagsfrage („Welcher Partei würden Sie ihre Stimme geben, wenn nächsten Sonntag Wahlen wären“) und diverse Popularitätstests ließ die SPÖ in dieser Ära keine Untersuchungen durchführen. Die SP-WählerInnenmeinung analysierte niemand.

Der Politikwissenschaftler Christian Haerpfer: „Das Ende der Ära Sinowatz, der geglaubt hat, ohne das auskommen zu können, ist vielfach ein Indikator dafür, daß man ganz ohne Meinungsforschung doch nicht regieren sollte.“ Inzwischen geben die „Roten“ für Repräsentativumfragen und bisweilen auch für Studien viel Geld aus. Natürlich auch die „Schwarzen“.

Sie können sich das leisten. Kleinparteien haben’s da schwerer. Den Grünen beispielsweise fehlt der finanzielle Teppich dazu. Auch die FPÖ ließ noch bis vor kurzem aus Geldmangel keine regelmäßigen Untersuchungen durchführen. Lange Zeit war die blaue Parteispitze auf Medienveröffentlichungen demoskopischer Daten angewiesen, bei denen „statistische Brosamen“ abfielen.

Die Meinungsforschung in Österreich verdankt ihren Urspung der empirischen Sozialforschung.

Anders in ihrem eigentlichen Geburtsland jenseits des großen Teiches. In den Vereinigten Staaten — aber auch in Großbritannien — liegen die Maximen der Branche viel näher am Ausgangspunkt der in den 30er Jahren von George Gallup begründeten Markt- und Wirtschaftsforschung.

Amerikanische und englische Demoskopen betreiben heute sogar für ihre Auftraggeber eine Art Polit-Research, erkunden also mittels politischer Absatzforschung die marktgerechte Verkäuflichkeit von Regierenden und solchen, die es noch werden wollen.

„Polit-Consulting“ heißt das Zauberwort im angelsächsischen Bereich. Traditionell besitzen dort Kandidaten bei Wahlen keine so feste Parteibindung wie bei uns, sie lassen sich ihre Kampagnen von Profis organisieren. In der Vorstufe des Wahlkampfes werden die wichtigsten „Issues“ (Wahlkampfziele) im Feld erhoben und getestet, inwieweit diese zu den durch Umfrageergebnisse definierten Eigenschaften des Kandidaten passen.

Über die Demoskopen erhebt sich dann der „political consulter“, der im Idealfall versucht, aus verschiedenen Umfragen und Erhebungen eine Werbestrategie zu entwickeln. Diese Spezialisten mit einigen tausend Dollar Gage pro Stunde sind meist in der Lage, aus demoskopischen Daten konkrete Empfehlungen abzuleiten, die dann ein Polit-Manager in die Tat umsetzt.

Und zwar nicht bloß im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern überall, wo immer man ihn engagiert. Sei es in Venezuela oder in Israel. Gemäß des „american way of political life“ bleiben Inhalte von politischen Aussagen auch im Gastland von nachrangiger Bedeutung. In erster Linie müssen die Issues zur Person passen, die sie vertritt.

„Diese Überlegungen in Österreich einzubringen, ist natürlich schwer“, meint der Demoskop Traar, Chef des IT-Instituts. Auch weiß er nicht, „ob’s richtig ist.“

Das kleine Unternehmen mit Sitz in der Wiener Währingerstraße ist primär auf Politik-Beratung spezialisiert.

Gewisse Chancen sieht Traar dennoch. Für den Fall, daß es auch hier zu einer Lockerung der Parteibindung und dadurch zu mehr Quereinsteigern in die Politik kommt. Traar: „Da könnte es schon einmal möglich sein, objektivierbare Kriterien für die Auswahl dieser Personen einzuführen. Unbewußt tut man’s schon heute.“

In den letzten Jahren sind durch stark gesunkene Computerpreise etliche neue Institute entstanden. Um nur die Spitzen der heimischen Branche zu nennen: Das Wiener „Fessel+GfK“ ist mit rund 80 Fix-Angestellten das größte österreichische Befragungsunternehmen.

Ihm wird eine hohe Affinität zur Volkspartei nachgesagt. Miteigentümer ist — nebst der Nürnberger demoskopischen Forschungsanstalt „GfK“ — der ÖVP-Wirtschaftsbund.

Fessel-Mitarbeiter Peter Ulram dementiert aber die Parteiabhängigkeit:

„Die ÖVP ist einer der Auftragggeber. In einem relativ kleinen Land wie Österreich mit einer begrenzten Anzahl von Instituten ist es schwierig, vormittags für die ÖVP, nachmittags für die SPÖ und abends für die Freiheitlichen zu forschen. Daher entsteht ein Vertrauensverhältnis in der Politik.“ — Das Vertrauen auf der einen Seite.

Komplementär dazu existiert noch das Mißtrauen der Gegenseite. Deshalb agiert daneben das sozialistische „Institut für empirische Sozialforschung“ (IFES) mit der Fraktion Sozialistischer Gewerkschafter als Miteigentümer. Ähnlich wie „Fessel+GfK“ beschäftigt sich „IFES“ schwerpunktmäßig mit Markt-Forschung, während politisch-sozialwissenschaftliche Untersuchungen im Auftrag der Partei nur einen geringen Teil des Firmen-Umsatzes ausmachen.

Als parteiunabhängig bekannt ist das „Institut für Markt- und Wirtschaftsanalyse“ (IMAS) mit Stammsitz in Linz. IMAS läßt sich mal in den Dienst der Freiheitlichen, mal in den der Volkspartei stellen.

In ähnlichem Tenor auch das Motto des Wiener „Gallup“-Institutes: „Wir arbeiten für jede Partei, die an uns herantritt.“ Dieses viertgrößte Unternehmen hat übrigens mit dem multinationalen Gallup-Konzern nur den Namen gemein.

Gesinnungsforschung auch im Osten

Ein frischer Wind weht ebenso in Osteuropa, bedingt durch den schrittweisen Rücktritt der kommunistischen Parteien vom Machtmonopol.

In der Sowjetunion entwickelten sich die empirischen Sozialwissenschaften ursprünglich schon früher — allerdings nur punktuell auf einzelne Teilrepubliken bezogen. Vorreiter war Anfang der 70er Jahre das eigenwillige Georgien, wo damals bereits die Volksmeinung zu bestimmten Großprojekten (wie Atomkraftwerke und Staudämme) untersucht wurde. Einige Mammutvorhaben blies die Breschnew-Regierung auf Grund von Umfrage-Ergebnissen auch tatsächlich ab. In den Jahren zwischen 1977 und 1980 erlebten die sowjetischen Demoskopen einen wahren Forschungsboom, der aber dann jäh abbrach. In den letzten Breschnew-Jahren wurden so gut wie keine Untersuchungsdaten mehr veröffentlicht. Erst ab 1986 gab es wieder neue Expertisen. Von da an wuchs die sowjetische Meinungsforschung explosisonsartig, wie Hans-Georg Heinrich von den letzten Wahlen weiß: „Da gibt es begleitende Meinungsforschung zu Wahlen — teilweise in größerem Umfang als bei uns.“

Kein Wunder also, daß neuerdings Joint-Venture-Projekte mit westlichen Instituten im Gespräch sind. Gleichwohl hat der Gallup-Konzern Interesse an einer Moskauer Tochter gezeigt.

Auffallend darauf bedacht, politische Strategien einigermaßen rational zu entwerfen, ist natürlich auch die ungarische KP. In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Institute in Ungarn vervielfacht.

Adam Levente, stellvertretender Leiter des Budapester „Forschungszentrums für Massenkommunikation“ (Magyar Közvéleménykutatási Intézet), das sich mit 120 fixen und 500 freien Mitarbeitern fast ausschließlich der Polit-Forschung widmet, bestätigt Gerüchte, wonach sich westliche Forscher für Ungarn interessieren: „Gordon Heald vom Londoner Gallup-Institut war hier und führte in einer Schnupperphase Gespräche.“ Gallup sei aber ausschließlich an Marktforschung interessiert, heißt es.

Das Budapester Forschungszentrum agiert seit 1969 im Politbereich. Seit einem Jahr direkt der Partei unterstellt, ist es seit kurzem auch Herausgeber des demoskopischen Magazins „Hangsuly“, worin laufend Umfrageergebnisse und Studien veröffentlicht werden.

Ein wesentliches Issue der ungarischen Volksmeinung resultiert aus der Debatte um das Donaukraftwerk Nagymaros. „Im Schnitt gibt es alle drei Wochen eine Untersuchung darüber“, so Levente, „seit letztem Herbst gab’s etwa acht bis zehn diesbezügliche Tests mit verschiedenen Schwerpunkten.“

Ebenso ernorm wächst die Rolle der Meinungsforschung mit der Zulassung neuer Parteien in Polen. Die im Juni stattgefundenen Wahlen — bei denen es nicht ums Parlament, den Sejm, ging, sondern um den Senat, also die zweite Kammer mit nur beratender Funktion — wurden als allgemeiner Testfall angesehen: Wie stark ist die kommunistische Partei wirklich? „Jetzt kommt’s eben darauf an, sich wählen lassen zu müssen“, läßt Heinrich durchblicken, „das war bis jetzt wegen des verfassungsmäßig garantierten Machtmonopols der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei nicht gegeben.“

Die Meinungsforschung, welche in Polen schon auf eine weit längere Tradition zurückblicken kann als in anderen osteuropäischen Ländern, hat nun auch nach westlichem Maßstab voll eingesetzt. Die rund zwei Dutzend Institute mit hervorragend ausgebildeten Fachleuten sind auf westliches Know-How und etwaige Joint-Ventures nicht angewiesen.

Eine Ferndiagnose manch österreichischer Demoskopen lautet, daß Meinungsforschungsdaten aus dem Ostblock mit Vorsicht zu genießen seien, weil die Befragten dort der Anonymisierung ihrer Daten nicht trauten. Die Sorge um den politischen Mißbrauch einzelner Antworten erzeuge Anpassungsdruck, welcher die Ergebnisse beträchtlich verfälsche, heißt es vielfach.

Anders die Darstellung von Professor Heinrich, der schon in Polen und in Ungarn empirisch gearbeitet hat: „Die Leute dort haben genauso viel oder genauso wenig Angst, politische Fragen zu beantworten, wie die Leute bei uns.“ Womöglich verhält es sich genau umgekeht, wie die rüde Theorie besagt. Heinrich: „Wenn ich mich bemühe, in Warschau Daten über die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei zu bekommen und hier Daten von der SPÖ, dann ist es für mich wesentlich schwieriger, Daten von der SPÖ zu bekommen, weil die Leute hier mehr Angst haben.“

Bedingt durch eine selektive Wahrnehmung des Metiers gehen die Meinungen über die Meinungsforschung sehr leicht auseinander.

Hierzulande ist die Branche ebenso noch ausbaufähig. „Es ist nicht so, daß Meinungsforscher wie Astrologen als oberste Berater dem Politiker immer sagen, was er nächste Woche tun soll“, skizziert Christian Haerpfer, der auch politikwissenschaftliche Lehrstühle in Wien und Salzburg bekleidet, „sondern sicher so, daß Politiker immer weniger Entscheidungen gegen die Meinungsforschung treffen.“

„poll“ und „service“

Einhellig sind Demoskopen der Ansicht, daß ihr Fach bei uns noch „nicht diesen direkten und harten Einfluß“ hat wie in angelsächsischen Ländern. „Es hat einen Einfluß im Verhindern von gewissen Dingen“, so Haerpfer, „wenn ich mir vorstelle, daß bei der Wahl des ÖVP-Obmanns gewisse Politiker wegen besonders schlechter Werte in der Meinungsforschung nicht Obmann geworden sind, selbst wenn es einige gegeben hätte, die das gerne gewollt hätten.“ Riegler erregte die wenigsten negativen Emotionen.

Demoskopen unterscheiden mehrere Aufgaben ihres in vielerlei Hinsicht berechnenden Gewerbes. Zum einen gibt es den unter der Bezeichnung „poll“ zusammengefaßten Bereich strategischer Daten, veröffentlicht zum Zweck der Manipulation oder vielfach nur zur Erheiterung der Medienkonsumenten. Traar meinte: „Was man in Österreich so in den Zeitungen liest, hat reinen Poll-Charakter, dient also bestenfalls dem Amüsement, einfach weil es besagt, wieviele Leute für was weiß ich was sind.“

In die Sparte „polls“ fällt auch das Publizieren von besonders günstigen oder besonders günstig interpretierten Ergebnissen. „Bent Waggon“ heißt der Effekt, durch den die Opportunisten unter den Wählern, die „auf den fahrenden Zug aufspringen“, angesprochen sind.

Genauso kann man mit besonders schlechten Daten manipuliert werden, weil die, in die eigenen Funktionärsreihen ausgestreut, nach dem Motto „Es kommt auf jede Stimme an“ mobilisieren.

Ernst zu nehmen sind auch sogenannte „exit polls“, bei denen britische und US-Headcounter die Wähler am Tag des Urnengangs beim Verlassen des Wahllokals stichprobenartig befragen, wen sie warum gewählt haben.

Österreichische Parteien sind nicht so neugierig auf derartige Zusammenhänge, um — ähnlich wie ein Autoproduzent — zu erfahren, warum gerade dieses Modell gewählt wurde und kein anderes. Für die Hiesigen ist die Sache dann gelaufen, und sogenannte Wahlanalysen bestehen meist darin, in einem Gremium über künftige Posten zu verhandeln.

Das Zögern unserer Politiker vor allzu professioneller Prophetie nach dem Muster der US-Nasenlochzähler ist nicht auf Skrupel vor „amerikanische Zuständ“ begründet. „Vor den Wahlen wollen sie aus Wahlkampfgründen wissen: Wie steht Dr. Mock oder Dr. Vranitzky?“ erläutert Haerpfer. „Wenn die Wahlen vorbei sind, sind sie nicht mehr bereit, ein paar hunderttausend Schilling zu zahlen, damit sie wissen, warum sie nicht gewählt worden sind.“

Das finanzielle Argument schwingt mit. „Ausgeblutet durch den Wahlkampf, gibt es dafür zuwenig Geld“, so Haerpfer, „eher spielen die Jahrmarkt-Eitelkeiten eine Rolle. Wer ist populärer als der andere? Eine Art Spieglein an der Wand ist das einzige, was sie interessiert, und dafür geben sie auch Geld aus.“

In Zeiten, in denen es heiß hergeht, messen Polit-Forscher die Wahlkampfeffekte und testen Slogans. In regelmäßigen Abständen dagegen wird die „Fieberkurve des politischen Systems“, eine Art „Polit-Barometer“, gezeichnet, „um zu messen, wer gesund ist und wer etwas krank — wie gesund, wie krank“ (Haerpfer).

Legitimation einer abgeschirmten Clique

Eine andere Disziplin ist die Deklination von Sachentscheidungen, etwa nach der Art: Wird die Steuerreform honoriert oder nicht?

Die Politiker richten sich aber keinesfalls immer nach den derart ermittelten Umfrageergebnissen und -diagrammen. Gegebenenfalls probieren sie es, gegen den Meinungsstrom zu schwimmen. Bei der Hainburg-Debatte wie auch im Fall Zwentendorf wurden die Ansichten der Bevölkerung erhoben: gegen beide Projekte gab es konstante Mehrheiten, die — da nicht regierungskonform — bis zum Geht-nicht-mehr ignoriert wurden.

Wesentlich mehr Gehör schenken Österreichs Parteien der demoskopischen Hilfeleistung bei Personalentscheidungen. Steueraffäre hin, Lucona her: „Auch langfristig, nicht nur, wenn Obmannkrisen sind, gibt’s eine Art Personalpanorama, das man den Leuten offeriert und fragt, wer ihnen sympathisch ist und ob man meint, daß der ein guter Politiker ist“ (Haerpfer). Für den Fall, daß es also zu einem Obmann-, Generalsekretär- oder Ministerwechsel kommt, beobachten Meinungsforscher vorsorglich Sympathie-/Antipathie-Reaktionen der Bevölkerung, um ein Reservoir von möglichen Nachfolgern in petto zu haben. So war in Meinungsforschungskreisen bereits vor einem halben Jahr bekannt, daß Josef Riegler der einzige war, der für die Rolle des ÖVP-Obmanns noch annähernd in Frage kamt.

Neben dieser Legitimationsbeschaffung haben Sozialwissenschaftler eine Unmenge beratender Information anzubieten. Derartige Studien mit der Fachbezeichnung „service“ haben aber de facto noch keinen rechten Eingang in die österreichische Politik gefunden; von Ausnahmen abgesehen. Ein Grund besteht darin, daß Analysen von sozialen Zusammenhängen in den Ministerial- und Funktionärsbüros selbst unangenehme Änderungen des Gewohnten zur Folge haben könnten. Nach Beobachtung des Soziologen Ferdinand Müller-Rommel ist bei Politiikern „Freunderlwirtschaft“ die Regel, und „die Rekrutierung von politischen Beratern erfolgt zur Legitimationsbeschaffung, faktisch zumeist über ein teils persönliches und teils beruflich bedingtes diffus-loyales Beziehungsgeflecht zwischen einzelnen Verwaltungsbeamten, Politikern und Wissenschaftlern“, wie es methodisch exakt formuliert heißt.

Eine abgeschirmte Clique. Was sich an Gegenstandspunkten abseits der treuen Beraterkreise formiert, dringt zu dieser gar nicht erst durch.

Anders als in den USA und anders als im Bereich der Schwesternbranche Produktforschung/Marketing bekommen Polit-Demoskopen hierzulande kaum die Chance, ihren Auftraggebern Tips zu geben. Die Funktionäre wollen sich die Aufgabe der Beratung nicht nehmen lassen. Und Politiker sind laut Traat „keine Produkte“, auch ist ihnen die „Vorstellung nicht geheuer, daß man sie beobachtet, analysiert und dann Schlüsse zieht.“

Ohnedies sind Österreichs Parteien von einer opportunistischen Jagd nach dem treulosen Wähler bestimmt. Über kurz oder lang — es gilt: kein Wahlerfolg ohne ideologische Beweglichkeit. Nur ruckartig darf der Wertewandel nicht sein.

Hans-Georg Heinrich vom Institut für Politikwissenschaften in Wien bezeichnet den wachsenden Populismus der Parteien und das steigende Interesse der Politik an der Meinungsforschung durchaus als Parallelprozeß: „Parallel mit der Ausweitung der Meinungsforschung ist die Bereitschaft der Parteien, auf irgendwelche Meinungstrends zu reagieren, gestiegen.“ Das war nicht immer so: die Öffnung der Parteien ist eine verhältnismäßig junge Entwicklung. In den 50er Jahren wurde das Wesentliche noch hinter den Polstertüren ausgemacht.

Damals gab es eine Fülle von Teilnehmerorganisationen, in denen sich Mitglieder und Funktionäre zu aktuellen Themen äußerten. Zwar hatten die lokalen Organisationen keine entsprechende Entscheidungsbefugnis, doch wurde nach oben gemeldet, wenn es Unruhe gab.

Das hat sich geändert. „Die Meinungsbildung, die Kritikbildung waren irgendwie mit der Parteiorganisation auf der Landes- und lokalen Ebene eng verbunden“, erinnert Christian Haerpfer, „diese legitime Funktion des Parteiapparats, die Interessen nach oben hin zu vertreten und — wenn die Partei in der Regierung ist — sie in Politik umzusetzen, diese Sonden in der Gesellschaft sind weitgehend funktionslos geworden.“

Statt der Sonden am Ort des Geschehens gibt es nun erdferne Satelliten. Die Demoskopie sucht stichprobenartig an die 2.000 Leute aus der Bevölkerung aus und meldet deren Meinung, gegen ein Entgeld in der Höhe von 100.000 bis zu einer Million Schilling, als aktuellen Bewußtseinsstand der Nation an die Parteiführung.

Signale aus der Organisation selbst kommen nicht mehr durch. Haerpfer: „Da hat es Fälle gegeben wie den Dr. Mock. Selbst höhere Funktionäre erhielten monatelang keine Möglichkeit, zum Parteiobmann und Vizekanzler zu gelangen, weil er aus mehreren Gründen keine Zeit hatte.“

Mock hatte sich vor seiner eigenen Partei abgeschottet und sich à la „lonesome cowboy“ ein wenig verselbständigt.

Andere, auch aus SP-Kreisen, tun’s ihm gleich. Kurz geschlossen heißt dies: Eine kleine Gruppe von Spitzenfunktionären bezahlt den Klimasatelliten und versucht dann, ihre Politik nach dieser Klimaauslotung auszurichten“ (Haerpfer).

Politik quasi im Alleingang. Die Basis hat nur mehr Statistenfunktion. Mitgliedern, WählerInnen und SympathisantInnen wird die Parteipolitik nicht wie einst über die Parteiorganisation nähergebracht, sondern über TV und Zeitungen. Die zweite Funktion der klassischen Informationskanäle von Parteien, der Informationsfluß von der Parteispitze zur Bevölkerung hin, wurde von Medien übernommen, die die öffentliche Meinung „wiederaufbereiten“. Nachdem ja den ersten Kanal der Information in umgekehrter Richtung die Meinungsforschung ersetzt hatte.

Zentralismus ist angesagt. SP- sowie VP-Funktionäre lamentieren ob des in den Sektionen verlorenen Einflusses. Parteileute fragen sich ernsthaft, wozu eigentlich der große, kostspielige Apparat noch aufrechterhalten wird. Denkmöglich wäre es doch, die zahlreichen hauptberuflichen Funktionäre der unteren Ebene einfach abzuschaffen und durch ehrenamtliche zu ersetzen. Wenn es in diesen Rängen keine bezahlten Profipolitiker mehr gibt, so die weitere Überlegung, wird Geld frei, um es wieder in die Meinungsforschung zu investieren.

Wie eine solche Rechnung aufgehen kann, sei an Hand des folgenden, zum Teil hypothetischen Beispiels erläutert:

Mitte März — zum aktuellen Zeitpunkt der durch den ORF aufbereiteten Diskussion zum Thema Ausländerwahlrecht läßt die SPÖ mittels repräsentativer Telefonumfrage die Ansichten der Österreicher von einem renommierten Meinungsforschungsinstitut erheben. Kurz darauf ist klar: Von den 2.000 befragten Personen entscheidet sich eine Dreiviertel-Mehrheit dagegen.

Das Ausländerwahlrecht als Issue ist für die Sozialisten somit gestorben, Zentralsekretär Josef Cap hat’s auch schon wieder vergessen, und die SP läuft nicht Gefahr, sich mit diesem offenbar unpopulären Thema in die Brennesseln zu setzen.

Was ohne Demoskopie leicht möglich gewesen wäre.

Anders die Lage, hätte sich eine Mehrheit gefunden, die ein Wahlrecht für Ausländer bejaht. Die Tageszeitungen hätten geschlagzeilt, wie sozialistisch die Sozialisten doch sind — im Unterton auch international und gastarbeiterfreundlich. Dabei ging es in Wirklichkeit nur um die Stimmen der GastarbeiterInnen.

Der demoskopisch bedingte Trend zum Populismus hat seit geraumer Zeit seine Auswirkungen auf die Parteiprogramme. In den vergangenen Jahrzehnten sind die Manifeste kontinuierlich entideologisiert, entschärft, unbestimmter und breiter geworden. Nach dem Motto: Weg von der Klassenpartei, hin zur Volkspartei.

„Man erhielt eine etwas rechte und eine etwas linke Volkspartei“, resümiert Haerpfer, „mit fast identischen Zielen. Ohne Auswirkungen auf die Politik sind Parteiprogramme nur mehr Spielwiesen und Beschäftigungstherapie für eitle Intellektuelle und werden auch in immer kürzeren Zeitabständen revidiert.“

Politisches Junk-Food

Ideologischer Ballast wird abgeworfen. Bedingt durch den Wunsch, dem wachsenden Zerreißpotential von Großparteien entgegenzuwirken.

Um eine Wohnung zu bekommen, ist (glücklicherweise) in der Regel kein Parteibuch mehr erforderlich. Beratung, Intervention, Protektion, Karrierechancen kann die Partei bloß einer erlauchten Funktionärselite bieten. Die unterschiedlichen Interessensgruppen sind nur mehr mit Mühe unter einem gemeinsamen Dach zu halten, und das Protest- sowie Wechselwählerpotential steigt. Deshalb droht ein Zersplittern in einzelne Fraktionen, etwa nach Art einer Beamtenpartei, Unternehmerpartei, Katholikenpartei, Bauernpartei, Arbeiterpartei, Eisenbahnerpartei ...

Als Allheilmitel dagegen gilt: politisches Junk-Food, serviert in fixen Menüs. Da Großparteien viele verschiedene Gruppen erfassen wollen, dürfen Parteiprogramme nicht zu konkret, Politikeraussagen nicht zu direkt sein. Haerpfer: „Die Konkretheit der einen Gruppe gegenüber kann die andere wieder abstoßen. Das heißt, man muß möglichst sanft und ungenau argumentieren.“ — Paradox, aber wahr: Je weniger Interessen eine Großpartei vertritt, um so mehr InteressentInnen hat sie.

Ein Ende des konsequenten Verwässerns von Parteizielen ist nicht absehbar. Für Mutmaßungen über Folgen dieser Entwicklung drängt sich der Vergleich mit den Vereinigten Staaten und ihrem Entwicklungsvorsprung auf dem Sektor der strategischen Meinungsforschung auf. Sowie der daraus resultierenden Auswirkungen auf die US-Politik.

An dieser Stelle sieht Traar durchaus „auch in Österreich eine Entwicklung in Richtung Wählerpartei aus verschiedenen heterogenen Lobbies“. Eine bestimmte „Parteizugehörigkeit per se“ (Traar) sehen Quereinsteiger und andere politische Debütanten nicht mehr als vorrangig an. Sie sind bemüht, so Traar, „über berufliche und sonstige Zugehörigkeit einer Lobby anzugehören und über diese Einfluß zu üben.“

„Wenn man die klassische Zweiteilung über Arbeit und Kapital nimmt“, prophezeit der Demoskop, „werden in einer Wahlkampforganisations-Maschinerie sozialdemokratischer Provenienz eher arbeitnehmerfreundliche Lobbies vertreten sein — aber nicht nur. Bei den anderen werden die Arbeitgeberfreundlichen sein.“

Graf hat’s zerrissen

Ohne weiteres könnten diese Lobbyisten dem fortschreitenden Einfluß der Meinungsforschung in der Politik entgegenwirken, weil demoskopisch orientierte Politik und Lobbyismus an sich Gegenkräfte sind. Die verschiedenen „pressure groups“ müssen sich nicht darum kümmern, wie es um die öffentliche Meinung steht.

Im Bedarfsfall trachten sie danach, ihre Forderungen auch gegen offensichtliche Mehrheiten mit Tränengas und Schlagstöcken, quasi im Ho-Ruck-Verfahren, durchzuziehen.

Nun räumt Traar die Möglichkeit ein, daß die Lobbies „versuchen, ihre Legitimation über die Meinungsforschung abzusichern, so, wie es heute die Parteien zum Teil auch tun.“

Tatsächlich erwies sich die völlige Ignoranz gegenüber der öffentlichen Meinung sogar beim Langzeit-General der Strom-Lobby, Walter Fremuth, als kein gangbarer Weg.

Dies allerdings nur in Ansätzen rein formeller, kosmetischer Natur, seitdem ihm der neue Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel Good-Will-Zugeständnisse abgerungen hat. Nach wie vor geht es Fremuth nur um die Optik, um das Image der Firma.

Vorher spuckte er über Jahrzehnte wie auf Knopfdruck Pläne zur Fortsetzung der Bauprogramme der E-Wirtschaft aus, Gegen alle Proteste. „Dem unmittelbaren Interessensvertreter ist es völlig egal, was der Meinungsforscher sagt“, so der Politologe Christian Haerpfer, „seine Aufgabe ist, den politischen Prozeß, Gesetzgebung, Verwaltung, den Regierungsapparat im Sinne seines Klienten zu beeinflussen.“

Das Problem fällt dann allerdings allzuleicht auf den Politiker zurück, der dies zu vertreten hat. Als Fremuth vor einigen Wochen wider die politische Vernunft neue Pläne zum Kraftwerksbau aus der Tasche zog — Engelhartstetten sei erträglicher als Hainburg —, hat’s Minister Schüssels Vorgänger Graf zerrissen.

Die Geschehnisse um Hainburg noch in guter Erinnerung, schlitterte er in eine etwas schizophrene Situation, da er an ihn gestellte Forderungen der Verbund-Manager nicht mehr mit den dazu konträren Meinungsmehrheiten in der Bevölkerung vereinen konnte. — Wie Robert Graf auch entschieden hätte, er wäre von der einen oder anderen Seite unter heftigen Beschuß geraten. Seine Partei hätte es ihm nicht gedankt.

Als politischer Repräsentant der betonierenden E-Wirtschaft war es opportun, sich nicht weiter den WählerInnen zu stellen.

Minister Graf nahm seinen Hut. Nachfolger Schüssel ist zwar auch kein unbeschriebenes Blatt, doch ist dieser als Wirtschaftsbund-Generalsekretär vorrangig einer anderen Interessensvertretung ergeben.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1989
, Seite 14
Autor/inn/en:

Arpad Hagyo:

Journalist in Wien.

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