FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1964 » No. 122
Leopold Figl

Es gab zu wenig Österreicher

Eine Stellungnahme zu den einzelnen Punkten Ihres Fragebogens hätte zwangsläufig den Charakter einer individuellen Beurteilung der Ereignisse. Obwohl noch viele Männer leben, die 1934 aktiv in der österreichischen Politik tätig waren, sind die Ereignisse dieses Jahres bereits Geschichte geworden. Es ist daher nach meiner Meinung in erster Linie Aufgabe objektiver Historiker, Ihre Fragen zu beantworten. Diese Antworten können sich nur auf historische Fakten, in den Archiven vorhandene Akten usw. stützen.

Erklärungen von Politikern in der Rückschau zu den tragischen Februartagen vor dreißig Jahren werden, auch wenn inzwischen bereits drei Dezennien vergangen sind und unser Vaterland ein hartes, lehrreiches Schicksal erfahren mußte, immer nur subjektiv sein können. Die Beantwortung Ihrer Fragen müßte also fast in jedem Punkt auch ein Werturteil beinhalten und dadurch zwangsläufig eine Diskussion auslösen, die — so weit liegen die Ereignisse nun doch noch nicht zurück — nicht unbedingt sachlich geführt werden würde.

Ich bin daher der Meinung, die auch von Sr. Eminenz, dem hochwürdigsten Herrn Kardinal und dem Herrn Bundespräsidenten in ihren Silvesterbotschaften an das österreichische Volk vertreten wurde, daß man alles vermeiden soll, was alte, kaum vernarbte Wunden unnötig neu aufreißen könnte.

Für alle Ihre Fragen trifft in der Zusammenfassung eines zu: Nach 1918 hat es in unserem Staate aus historischen Gründen — die Schockwirkung des Auseinanderfalls der großen Monarchie war zu groß — zu wenig Österreicher gegeben, für die das Ziel ihrer politischen Arbeit ausschließlich Österreich hieß. In den meisten Fällen galt der politische Einsatz nicht der Heimat, sondern einer Doktrin — und selbst das, was die Parteien damals Österreich nannten, trug das Korsett dieser Doktrin.

Sicher gab es in allen Parteien der Ersten Republik auch gute Demokraten, die genau wußten, wie ein demokratischer Staat funktionieren soll. Doch kann man die Parteien von damals in ihrer Zielsetzung nur in beschränktem Umfange als demokratisch im guten Sinne des Wortes bezeichnen.

In der Zeit zwischen 1918 und 1934 bestand also in Österreich der paradoxe Zustand, daß unser Staat nach seiner Verfassung eine Republik war, daß aber die Parteien, die allein einen Staat zur res publica, zur Sache aller, und zur Demokratie machen können, in ihrer Arbeit nicht das Wohl des gesamten Volkes, sondern nur bestimmter Gruppen im Auge hatten. Das scheint mir die Hauptursache für die Entwicklung zu sein, die zu den tragischen Februartagen des Jahres 1934 führte.

Solange in der Zweiten Republik die Erkenntnis, daß auch für jegliche Parteiarbeit nicht die Doktrin, sondern das Wohl des Gesamtstaates, also die res publica, höchstes Ziel sein muß, lebendig bleibt, können sich nach meiner Meinung Ereignisse wie vor dreißig Jahren nicht wiederholen. Die Zeit der Unfreiheit und der vierfachen Besetzung hat 95 Prozent aller Österreicher zu Demokraten gemacht; mögen Politiker und Wähler diese mit Blut und Not bezahlte Lehre niemals vergessen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Februar
1964
, Seite 75
Autor/inn/en:

Leopold Figl:

Dr. Ing., ehemals Bundeskanzler und Außenminister, Landeshauptmann von Niederösterreich.

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