FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1966 » No. 155-156
Friedensreich Hundertwasser

Die nächste Revolution

Folgender Text wird im ÖGB-Jahrbuch 1967 erscheinen. Richtig, ein Jahrbuch des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. Daß eine so „kollektivistische“ Organisation so „non-konformistische“ Texte publiziert, ist außer Verdienst des Herausgebers, des dynamischen Zentralsekretärs der Metall- und Bergarbeiter, Sepp Wille, auch ein Zeichen dafür, daß Hundertwasser mit seinen Ängsten nicht ganz recht hat. Das heißt: er hat immer noch überwältigend recht.

Die Freiheit des Künstlers ist es, in kleinem Ausmaß, zum Beispiel auf Bildern, über das träumen oder das tun zu dürfen, was im großen zu tun ihm nicht gestattet ist. Deshalb ist der Künstler der sensibelste von allen, die um die Freiheit ringen.

Kunst existiert nur in einer versklavten Gesellschaft wie der unseren; in einer freien Gesellschaft existiert keine „Kunst“ als Mangelware oder zur Erbauung, da Kunst allgegenwärtig und so sehr selbstverständlich ist wie das Gras und die Bäume, die überall dort wachsen, wo Wasser ist.

Dies zu erreichen ist die heilige Verpflichtung des Künstlers; er allein besitzt den sichersten Instinkt für das kommende Unheil. Deshalb kann er nicht schweigen, wenn er die Gesellschaft, in der er lebt, in Unfreiheit versinken sieht.

Es ist ein Graus, was jetzt unter Freiheit verstanden wird. Wenn man durch die Stadt geht, hat man doch das Gefühl, man marschiert durch ein Gefängnis: gerade Fenster, gerade Häuser, die Menschen ganz gleich, als steckten sie in grauen Gefängniskutten. Es ist ein selbstgewähltes Gefängnis.

Das, was die Leute jetzt allgemein unter Freiheit verstehen, ist nicht mehr ein oktroyiertes Gefängnis, sondern eines, in das die Leute selber folgsam gehen. Denn die Tabus und Verbote haben sie schon auswendig gelernt.

Es ist ein Graus: wo ist die Freiheit? Welch ein Graus: man will sie nicht haben. Waagrechte und senkrechte Tränen des Menschen, auf den die Sonne wie der Schatten fällt.

Schämt euch des Massenschicksals, schämt euch eures Massendaseins! Legt euch doch aufs Trottoir: aber nicht planmäßig, sondern nur die, die es für nötig finden; laßt die Regentropfen auf euer Gesicht fallen und zählt die Regentropfen, die auf euer Gesicht fallen: das Trottoir wird nicht mehr grau sein.

Zieht euch aus und zieht euch schöne Kleider an: Kleider, die euch passen, Kleider, die ihre Nähte nach außen haben, Kleider, die euch stark machen. Und wohnt in Gehäusen, die ihr selbst geschmiedet habt, und ihr werdet glücklich sein, und das Trottoir wird nicht mehr grau sein. Und laßt Bäume auf den Dächern wachsen, ganz hohe Bäume, hundert Jahre alte Bäume, und die häßlichen Schachtelhäuser werden nicht mehr Schachteln sein: denn ihr werdet oben über die Dächer spazieren können so wie im Wienerwald: das Grün wird kein Ende nehmen.

Ein neuer Freiheitsdrang wird einsetzen: nicht mehr jener, das besitzen zu wollen, was ein anderer bereits besitzt (worauf alle bisherigen Revolutionen, kapitalistische wie kommunistische, beruhten). Denn dieser Drang, das besitzen zu wollen, was der Nächste bereits besitzt, führt genau dorthin, wo niemand hinwollte: nämlich ins Elend, ins grenzenlose Elend, in den Graus. In das Elend des Gleichmaßes, das zuerst belächelt, dann lästig, schließlich aber untragbar und unzumutbar wird. Und dieses Elend wird grenzenlos sein. Es wird schließlich auch für den kleinen Mann weit weniger tragbar sein, als er durch Hunger, Armut und Kälte gemartert werden könnte.

Bald werden die Ärzte und Wissenschaftler und intelligenten Leute dieses neue Elend dem Mord am Menschen gleichsetzen, denn so fängt es an: wenn der Europäer so aussieht wie der Orientale; wenn eine Japanerin so aussieht wie eine Französin; wenn der Flugplatz in Nairobi so aussieht wie der Flugplatz in Alaska; wenn der Apfel so schmeckt wie die Pflaume und das Fleisch so wie Käse; wenn man keinen Unterschied mehr feststellen kann zwischen den verschiedenen Systemen in der Politik und in der Regierung; wenn die Stoffe und die Kleider, die daraus gemacht werden, wenn die Baumaterialien und die Häuser, die damit gebaut werden, sich auf der ganzen Welt gleichen, gleichgeschaltet sind und im Gleichschritt erzeugt werden.

Dann kommt die neue Revolution der Freiheit: der Mensch wird etwas anderes sein wollen als sein Nächster, er wird in einem total anderen Vehikel sich fortbewegen wollen als sein Nächster, er wird seine Außenwand und sein Fenster in einer anderen Größe, in einer anderen Höhe, in einer anderen Form und aus einem anderen Material haben wollen als sein Nächster. Er wird sich weigern, in ein Haus einzuziehen oder auch nur eine Minute länger als notwendig in einem Haus zu wohnen, in dem mehrere ganz gleiche Wohnungen über- beziehungsweise nebeneinandergeordnet sind. Und er wird sich sogar weigern, durch eine Straße gehen oder fahren zu müssen, die von Häusern mit geradlinigen Fassaden oder gleich großen Fenstern begrenzt ist.

Durch die neuerwachten Bedürfnisse eines jeden einzelnen hervorgerufen, wird der neue Umsturz einsetzen.

Freiheit ohne Glücklichsein ist keine Freiheit. Ohne selbständige, ohne schöpferische Tätigkeit ist man nicht glücklich. Wer geplante, im voraus geplante, von einer Obrigkeit geplante Betätigungen ausübt, ist unglücklich, muß unglücklich sein, kann nicht glücklich sein.

Gleichheiten führen zum Tod, Gleichheiten führen in das Nichts, Gleichheiten führen zum Totalitarismus, und Gleichheiten führen in das Gefängnis. Gleichheiten führen in die grenzenlose Unfreiheit. Nur wer sich auf sich selbst besinnt, nur wer Zeit hat, sich auf sich selbst zu besinnen, kann sich befreien.

Arbeit macht nicht frei, Arbeit versklavt. Denn so wie heute gearbeitet wird, so arbeitet man nicht für sein Glück, sondern man erarbeitet sich sein Unglück. Jeder, der arbeitet, jeder, der einmal nicht arbeitet (zum Beispiel nach Arbeitsschluß oder am Sonntag oder in den Ferien), sieht, wenn er sehen kann, mit Grauen und voll Schrecken, wofür er gearbeitet hat — und sucht sich entweder zu betäuben oder die Arbeit wiederaufzunehmen, was einer Betäubung gleichkommt. Wozu denken, wenn man arbeitet, wozu die Produkte der Arbeit betrachten, die Massenprodukte der Arbeit?

Lieben kann man nur Dinge, die von anderen Dingen verschieden sind: die Mutter liebt ihr Kind, weil es anders ist, weil ihm ein Zahn fehlt oder weil ihm eine Zehe verkrüppelt ist oder weil es Sommersprossen hat, die das Kind des Nachbarn nicht hat. Außerdem ist das Kind des Nachbarn entweder später oder früher geboren, woanders geboren oder es bewegt sich anders: alles das kann man lieben. Aber die Produkte, die man erzeugt, die am laufenden Band zu erzeugen der Mensch jetzt gezwungen ist, die kann er nicht lieben. Und wenn die einzelnen Bausteine nicht in Liebe gebaut werden, so kann das ganze Gebilde niemals etwas sein, das man lieben kann.

Und es sind die Frauen, die sich umbringen, nicht die Männer, denn die Frauen müssen in diesen entsetzlichen Gebilden bleiben, in diesen Gebilden, wie sie jetzt gebaut werden, sei es von der Gemeinde, sei es von privater Hand.

In der ganzen Welt werden solche Häuser gebaut: die Menschen sind unglücklich, die Menschen sehnen sich nach Glück, die Menschen sehnen sich nach Kunst, die Menschen sehnen sich danach, wegzufahren, weit weg in den Süden, nach Sizilien, in die Berge, dort, wo alles noch wild ist, noch nicht mit einer geradlinigen Betondecke bespannt.

Die Ursache dieser Selbstmorde, dieser erschreckenden Zunahme der Geisteskrankheiten und Jugendverbrechen kann nur in der Nivellierung, in der Unfreiheit, in den Gemeindebauten und Arbeitersiedlungen liegen. Ich sage Gemeindebauten, weil diese entsetzlichen Gebilde im Stadtrandbild vorherrschen. Denn zu der bisher üblichen Unterdrückung durch die Staatsgesetze kommt jetzt die neue hinzu: durch die Verbote, denen sich jeder unterwerfen muß, der so eine Neubauwohnung bezieht. Er darf zum Beispiel nicht die Außenwand seiner Wohnung selbständig mit Mosaiken belegen. Das darf nur der Künstler, der beim Bau dieses Komplexes für irgendeine Mauerecke mit eingeplant war.

Es darf niemand an irgendeiner anderen Ecke etwas aufmalen, aufkleben, abkratzen oder einmeißeln, selbst wenn es schön ist, selbst wenn es die Stabilität des Hauses nicht gefährdet. Es darf niemand seine Fensterstöcke außen und innen rot oder gelb streichen, wenn die eingeplante Farbe weiß ist. Es darf niemand farbiges Fensterglas einsetzen, nicht nur im Stiegenhaus, sondern auch in der Wohnung, weil das eingeplante Fensterglas farblos sein muß. Es darf niemand auf eigene Kosten seine Fensteröffnungen verkleinern oder vergrößern, weil die Gleichheit aller Fenster nun einmal beschlossen ist und es unstatthaft ist, daß jemand privatisiert, denn so ein Fenster würde von der Straße her aus der Reihe und ins Auge springen.

Fürchtet euch nicht davor, euch so zu zeigen, wie ihr wirklich seid. Habt keine Angst, daß ihr etwa lächerlich wirken könntet, denn ihr werdet es niemals sein. Niemals, wenn ihr euch zeigt, wie ihr wirklich seid! Denn: lächerlich ist nur der, der wie ein Affe so tut, wie auch der andere tut, der wie ein Affe das befolgt, was man ihm sagt, obwohl er es nicht begreift und obwohl er es nicht versteht und obwohl es gegen seine Natur geht, so wie man einem Affen Höschen anzieht und Käppchen und Schühchen und Schleifchen. So seid ihr alle, wenn ihr in Konfektionskleidern dahergeht, auch wenn ihr sie aussucht nach Nummern und Größen: der Herr Nummer und die Frau Größe. Schämt euch, pfui!

Diejenigen, die Massenproduktionen erzeugen und sich mit diesen auch noch behängen, das sind die Arbeiter von heute. Gewissenlose Arbeiter, die nicht wissen, was sie tun, wenn sie das Zeug am Fließband produzieren und sich mit ihm auch noch behängen. Daß von diesem Zeug noch mehr und mehr und mehr und mehr vorhanden ist, das ist ein Verbrechen.

Jeder menschliche Organismus stirbt ab, soferne er nur Fleisch oder nur Honig oder nur Rüben konsumiert. Die menschliche Gesellschaft verendet genauso elendiglich, wenn sie nur Konsumgüter konsumiert. Was ist ein Massenprodukt: Nichts, gar nichts! Es dient zwar irgendeinem Zweck, ist aber ein totes Ding. Zu leben fängt es erst an, wenn man es angreift, wenn man es abnutzt, wenn die Hose eine Beule kriegt und der Kühlschrank einen Sprung. Dann weiß man: das ist mein Kühlschrank, mein Kleid, mein Löffel. Vorher wußte man es nicht. Also weg mit dieser falschen Achtung vor dem Massengebrauchsartikel.

Zerschlagt ihn — oder lieber nicht, denn er ist ja zu etwas gut; aber hört auf mit der Achtung vor diesem Zeug. Ein Ding, von dem es tausend ähnliche gibt, ist keiner Achtung wert, sondern gebt ihm, wenn ihr so etwas kauft, zuerst einmal einen Fußtritt — oder wenn ihr ein Kleid kauft, so schneidet erst mal tüchtig hinein oder trennt ein Stück auf oder tut etwas damit, wodurch ihr es von dem nächsten Kleidungsstück aus dieser Serie unterscheiden könnt, aber nicht nur, indem ihr euren Namen hineinstickt, sondern etwas anderes, etwas Eingreifenderes, Bedeutenderes. Denn wenn ihr das tut, dann habt ihr euch einen großen Teil der Freiheit zurückgewonnen.

Die letzte Revolution hieß: Freiheit von Ausbeutung, von Hunger und Armut. Diese hat — bei uns — gesiegt. Die neue Revolution heißt: Freiheit von der planmäßigen Abtötung des Menschseins, Freiheit vom Fließband, das in den Tod führt.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1966
, Seite 746
Autor/inn/en:

Friedensreich Hundertwasser:

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